MERKUR 8/2024, Jg.78 (eBook)
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12308-1 (ISBN)
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
DOI 10.21706/mr-78-8-21
Danilo Scholz
Der Algerienkrieg als Matrix für den Nahostkonflikt? (I)
Es waren nicht einmal zwei Wochen vergangen, seit die terroristische Hamas und ihre dschihadistischen Bundesgenossen das größte Massaker an Juden seit dem Holocaust verübt hatten, und zwar auf dem Gebiet jenes Staates, der diesen als Heimstätte und Schutzraum dienen sollte. Doch es schien, dass alle erforderlichen Versatzstücke, um die antisemitische Gräueltat einzuordnen, für so manchen bereits seit längerem bereitlagen. Man musste sie nur zusammenfügen, um sich ein so schlüssiges wie geschlossenes Bild von diesem mörderischen Angriff auf jüdisches Leben zu machen.
In der amerikanischen Kulturzeitschrift n+1 wusste Timothy DeMay ganz genau, durch welche Brille man dieses Blutbad zu betrachten hat. Als Schlüssel für die Ereignisse des 7. Oktober diente ihm eine Szene aus dem Film Die Schlacht um Algier (1966) des italienischen Regisseurs Gillo Pontecorvo. In dieser dokumentarisch anmutenden Filmfiktion schreiben wir das Jahr 1956: Im Kampf um die Unabhängigkeit Algeriens scheut die Nationale Befreiungsfront FLN nicht vor dem Einsatz von Gewalt zurück, um die französische Kolonialmacht aus dem Land zu jagen. Eine Kamera sucht, begleitet vom nervösen Rhythmus martialischer Trommeln, ein gut besuchtes französisches Café in der Hauptstadt Algier ab. Erwachsene und Kinder sitzen, Zivilisten allesamt, dichtgedrängt um Tische. Zohra, eine junge Frau, die sich der FLN angeschlossen hat, stellt unauffällig ihre Handtasche an der Bar ab und verlässt das Lokal. Die Tonspur lässt den Geräuschpegel steigen, Gesprächsfetzen und unbekümmerte Bemerkungen der Gäste stürmen auf die Zuschauer ein, sehnsüchtige Blicke werden gewechselt, ein Kleinkind leckt Eis. Plötzlich eine laute Explosion – die von Zohra gelegte Bombe geht hoch.
DeMay nötigt die Leser seines Essays, ihm einen ganzen Absatz lang beim Vergießen von Krokodilstränen zuzusehen.1 Wie gern würde er daran glauben, dass sich eine gerechte Welt auch unter Verzicht auf Gewalt verwirklichen ließe. Wenn man wenigstens Zivilisten verschonen könnte! Wäre es nicht schön, die Widersacher würden sich an einen Tisch setzen und diese bewaffnete Auseinandersetzung friedlich beilegen? Nein, ruft DeMay sich selbst zur Ordnung, das geht eben nicht: So schrecklich er ist, so sehr er unser moralisches Empfinden auch erschüttern mag, der Terror hat seine geschichtsphilosophische Berechtigung, im Algerienkrieg genauso wie im Israel-Palästina-Konflikt. Überrascht ist DeMay eigentlich nur darüber, dass die Palästinenser in Gaza und anderswo bislang nicht häufiger blutige Anschläge durchgeführt haben. Was seine Anteilnahme so verlogen erscheinen lässt, ist ihr kühl kalkulierter Einsatz – sie ist nur Mittel zum Zweck eines Gedankengangs. An dessen Ende steht die ungeheuerliche Ungerührtheit, mit der DeMay das Grauen auf seinen zwar unschönen, aber historisch notwendigen Platz verweist. Es kann niemanden wundern, dass sich Einlassungen dieser Art in den letzten sechs Monaten zu einem gewaltigen Konjunkturprogramm für eine deutsche Entrüstungsindustrie verdichtet haben, für die der Postkolonialismus zum wichtigsten Treibstofflieferanten wurde.
Man möchte kurz einhaken und ein paar Rückfragen zu dieser Analogiebildung stellen: Handelt es sich bei der israelisch-palästinensischen Dauerkrise überhaupt um einen Dekolonisierungskonflikt, bei den Palästinensern um unterjochte Untertanen, bei Israel um eine Kolonialmacht, und wenn ja, seit wann überhaupt: seit 1967, seit 1948 oder noch vor der Staatsgründung, seit Beginn des zionistischen Siedlungsprojekts? Will man die fundamentalistische Hamas, der man keine exterminatorischen Absichten unterstellen muss, weil hochrangige Sprecher der Organisation diese bei jeder Gelegenheit selbst herausposaunen, tatsächlich zur antikolonialen Befreiungsbewegung aufwerten? Die europäischen Siedler in Algerien konnten den Rückzug nach Frankreich antreten, wo sie als Staatsbürger anerkannt wurden. Welches Schicksal droht der jüdischen Bevölkerung Israels ohne diesen Staat gewordenen Rückzugsort?
Der Vergleich zwischen Israel und Algerien mag hinken, aber in letzter Zeit begegnet man ihm auf Schritt und Tritt. In propalästinensischen Aufrufen fordern linke Verleger, die Erinnerung an den »Widerstand, der Algerien von seinen französischen Kolonialherren befreite«, hochzuhalten, damit sich jeder ausmalen kann, was auch für die Palästinenser in den Bereich des Möglichen rücken könnte.2 Französische Journalisten gemahnt ein extremistischer israelischer Kabinettsminister wie Itamar Ben-Gvir an die fanatischen Ultras unter den Siedlerkolonialisten in Algerien.3 Ein Absolvent der US-Militärakademie West Point warnt die Regierung in Jerusalem davor, sich mit dem Krieg in Gaza genauso zu verrennen, wie es die Franzosen bei der Aufstandsbekämpfung in Algerien taten, da sich die Gewaltspirale ansonsten immer blutiger weiterdrehen könnte.4
Dass die Parallele zwischen Algerien und Israel-Palästina vielerorts aufgegriffen wird, hat auch damit zu tun, dass sie seit geraumer Zeit gebrauchsfertig zur Verfügung steht. Sie hat selbst eine Geschichte, die es zu rekonstruieren lohnt, weil sie weitaus verwickelter ist, als man annehmen könnte, und voller abgründiger Volten steckt. Ein Grund dafür, dass sich die Analogie in manchen Kreisen einer gewissen Beliebtheit erfreut, liegt in der engen Verbindung von postkolonialen Theorien und französischsprachigem Denken begründet, auf das der Algerienkrieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie eine toxische Hintergrundstrahlung einwirkte. Dieses vom Kolonialgeschehen in Nordafrika affizierte Denken schlug dann selbst wiederum auf gewisse Kulturbereiche durch. Eine der Vorlagen, auf die sich Pontecorvo und sein Drehbuchautor Franco Solinas bei den Vorarbeiten zu Die Schlacht um Algier stützten, war das Werk Frantz Fanons.5
Fanon und das jüdische Algerien
Als Felix Klein im Februar dieses Jahres in der FAZ dem Postkolonialismus die Leviten las, konnte man zunächst meinen, es mit einer Theorie ohne Autoren zu tun zu haben, denn auf die Namen einzelner Denker, von Textnachweisen ganz zu schweigen, wartete man in seinem Artikel die längste Zeit vergeblich. Schließlich rief der Antisemitismusbeauftragte dann aber doch Frantz Fanon als Hauptangeklagten auf. Über Tote zu Gericht zu sitzen ist immer ein heikles Unterfangen, aber so grotesk verkürzt, wie Klein das Leben und Wirken der auf Martinique geborenen Galionsfigur des algerischen Unabhängigkeitskampfs wiedergab, war damit fast schon die Grenze zur üblen Nachrede überschritten. Wenn Fanon unversehens mit all jenen in eine Reihe gestellt wird, die Hitlerdeutschland als »Vogelschiss der Geschichte« abtun und den Holocaust relativieren, weil sie die »Terrorherrschaft der Nationalsozialisten« geflissentlich verkennen, ist Gegenrede angezeigt.6
Zum Nationalsozialismus hatte Fanon nämlich kein regierungsamtliches, sondern ein existentielles Verhältnis. Nach der schmählichen Niederlage der französischen Armee gegen Hitlers Wehrmacht im Juni 1940 gab das Kollaborationsregime von Philippe Pétain nicht nur im französischen Mutterland, sondern auch in Fanons kolonialisierter Heimat Martinique den Ton an. Für Fanon war es völlig ausgeschlossen, sich mit diesen Spießgesellen der deutschen Despotie einzulassen. Er glaubte an das Versprechen von 1789, an die Menschenrechte, an Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, auch wenn dieses Versprechen offenkundig für die als Bürger zweiter Klasse behandelten Bewohner der französischen Überseegebiete hohl klang. Das schmälerte freilich nicht das emanzipatorische Potential dieser Verheißung.
Auf eigene Kosten brach er nach Dominika auf, wo er zur gaullistischen Résistance stieß. Im März 1944 ließ sich der Widerstandskämpfer Fanon über Algerien nach Frankreich einschiffen, um sich den Nazis mit der Waffe in der Hand entgegenzustellen. Seine Einheit geriet im November 1944 in der Nähe von Besançon unter schweren deutschen Mörserbeschuss. Fanon bot sich als Freiwilliger an, um in dieser brenzligen Situation Nachschub aufzutreiben, und wurde dabei verwundet. Für diesen Akt der Tapferkeit und seinen aufopfernden Einsatz ...
Erscheint lt. Verlag | 25.7.2024 |
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Reihe/Serie | MERKUR |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Debatte • Essay • Geschichte • Gesellschaft • Kunst • Literatur • Philosophie • Politik |
ISBN-10 | 3-608-12308-3 / 3608123083 |
ISBN-13 | 978-3-608-12308-1 / 9783608123081 |
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Größe: 1,4 MB
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