Vergangenes ist nicht vergessen (eBook)

Literarische Erinnerungen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
424 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-25715-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vergangenes ist nicht vergessen -  Willi  Kollo,  Marguerite Kollo
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Wenn ein Autor, Textdichter, Komponist, Pianist, Liedersänger und Kabarettist seine Lebenserinnerungen schreibt, kann man sich auf pointierte Aussagen freuen. Wenn zudem das Wirken seines als Komponist und Dirigent nicht weniger berühmten Vaters Walter (1878-1940) aus der Zeit der Jahrhundertwende bis in den Zweiten Weltkrieg mit allem was politisch und kulturell hineinspielt, Gegenstand ist, wird das Buch ein einzigartiges Zeitdokument. Willi Kollo (1904-1988) hat seiner Tochter, der Musikverlegerin und Künstleragentin Marguerite Kollo, umfangreiche Aufzeichnungen hinterlassen. Mit Bild-Dokumenten, hilfreichen Begriffserklärungen und einem Namensregister, welches die Funktionen und Lebensdaten der genannten Personen liefert, wird das Buch zu einem Standardwerk. Walter Kollo wurde Operettenkomponist -, in Erinnerung bleiben seine vielen Lieder und Operetten wie 'Drei alte Schachteln' und 'Wie einst im Mai'. In Anekdoten wird die Kunstszene Berlins beschrieben und auf die fördernden Kontakte Walters, die meist jüdischen Autoren und Theaterintendanten und die vielen berühmten Künstler dieser Zeit eingegangen. Walter Kollodzieyski hatte 1902 mit dem Wagemut der Jugend den Sprung in das kochende Meer der Reichshauptstadt gewagt. Königsberg, Warschau, das waren alles Städte, aber Berlin war mehr, war ein Begriff. Berlin, das war die gewaltige Zentrifuge, die alles magnetisch an sich riss, es auspresste, ein paar Mal durch den Wolf drehte, und was nicht genug Schwergewicht besaß, wieder an die Peripherie versprühte, wo es verkümmern und untergehen mochte.... Willi Kollo verbrachte seine drei ersten Lebensjahre bei seiner Großmutter in Ostpreußen, spielte 'im Sarg der Großmutter', weil sein Vater sich in Berlin verwirklichen musste und seine Mutter als 'Tingeltangelsängerin' immer unterwegs war. Seine Leiden in den Berliner Schulen, später in einem Internat, die geprägt waren von gewalttätigen Erziehungsmethoden, aber auch mit seltenen Freund- und Liebschaften, schildert er eindringlich. Der Erste Weltkrieg brachte traurige Abschiede, den 'Film als neue Weltmacht', die Einquartierung von Soldaten - und unwahrscheinlichen Erfolg mit dem Stück 'Immer feste druff', dessen Titel sich angeblich bezog auf einen Ausspruch des damals so beliebten Kronprinzen Wilhelm von Preußen. Die Schilderung der 1920er Jahre und der Nazizeit gerieten zum eindrücklichsten Kapitel und lesen sich wie ein Roman. Wir erfahren hier von der Art und Weise, wie beide, Vater und Sohn, sich unter größten Anstrengungen der politischen Vereinnahmung entziehen konnten sowie von der Willi Kollo eigenen schlagfertigen Rechtfertigung vor der britischen Entnazifizierungsbehörde. Eine Leserin schrieb: Anlässlich Ihrer Lesung habe ich mir das Buch mit den Erinnerungen Ihres Vaters gekauft und habe es vor ein paar Minuten ausgelesen. Das Buch wurde von Seite zu Seite und von Kapitel zu Kapitel spannender!!! Es hat mich sehr berührt; ich habe nicht nur etwas über die Familie Kollo erfahren, sondern auch über das persönliche und politische Umfeld dieser Jahre. Man kann nur jeden ermuntern, sich dieses Buch vorzunehmen.

WILLI KOLLO - Textdichter, Komponist, Sänger, Bühnenautor, Schriftsteller, Produzent, Verleger, Regisseur - wurde am 28.04.1904 in Königsberg geboren. Ab 1907 in Berlin Hohenzollerngymnasium, Studium der Musik, Harmonielehre und Klavier. Daneben literarische Studien. Ab 1916 Internatsschüler Blankenburg a. H., wo er dem Philosophen Oswald Spengler begegnete, der dort Lehrer gewesen war, und ihn, neben Walther Rathenau und Otto Braun, dem früh gefallenen Sohn der Sozialistin Lilly Braun, stärkstens beeinflusste. Mit 16 Jahren erregte er Aufmerksamkeit durch seine Übertragung des bekannten Gedichtes Tennysons 'The charge of the light brigade', die als 'Arbeit eines deutschen Schülers' in der Londoner Times abgedruckt wurde. Mit 17 Jahren folgte er Einladungen von literarischen Vereinen und Volkshochschulen, wo er eigene Novellen und Gedichte vortrug. Die Presse schrieb: 'Man ist ganz gefangen von der Erscheinung eines so jugendlichen Dichters, der in der Gestalt eines Weltweisen vor uns tritt.' Heinz Hilpert, Chef-Regisseur des Deutschen Theaters Berlin und seit 1950 Intendant des Deutschen Theaters Göttingen, brachte 1954 Willi Kollos im 'Dritten Reich' spielendes Schauspiel 'Eine Frau, die ich kannte' zur Uraufführung. Hermann Stresau, Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen: 'Ich finde Ihr Stück in einem Punkt wesentlich besser als Zuckmayers ´Des Teufels General´: Sie geben die Wahrheit...., ja, so war es!' Es folgten diverse Bücher, wie 'Friedrich der Große - Die Kunst zu überleben'. (Lau-Verlag) Willi Kollo starb am 4. Februar 1988 in Berlin. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof an der Heerstraße in Berlin. MARGUERITE KOLLO - Musik- u. Bühnenverlegerin - Agentin f. Musiktheater - Autorin. Die am 20. Juli 1935 gebürtige Berlinerin absolvierte ein mehrjähriges Gesangsstudium und ließ sich auch tänzerisch und schauspielerisch ausbilden. Nach einigen künstlerischen Bühnen- und Filmausflügen stellte Marguerite fest, dass ihr Interesse mehr den Bühnen-Hintergründen und der organisatorischen Arbeit galt. Nach einem Handelsschulabschluß wurde sie zuerst Mitarbeiterin ihres Vaters im familieneigenen Musik- und Bühnenverlag. Seit 1973 bis 1996 war M.K. die weltweite Managerin ihres Bruders, des Tenors René Kollo und führte eine eigene Opernagentur. Sie pflegt den künstlerischen Nachlass von Walter und Willi Kollo, womit sie dazu beiträgt, dass die Werke ihrer Familie und damit ein wesentlicher Teil Berliner Kultur nicht in Vergessenheit geraten können.

WILLI KOLLO – Textdichter, Komponist, Sänger, Bühnenautor, Schriftsteller, Produzent, Verleger, Regisseur - wurde am 28.04.1904 in Königsberg geboren. Ab 1907 in Berlin Hohenzollerngymnasium, Studium der Musik, Harmonielehre und Klavier. Daneben literarische Studien. Ab 1916 Internatsschüler Blankenburg a. H., wo er dem Philosophen Oswald Spengler begegnete, der dort Lehrer gewesen war, und ihn, neben Walther Rathenau und Otto Braun, dem früh gefallenen Sohn der Sozialistin Lilly Braun, stärkstens beeinflusste. Mit 16 Jahren erregte er Aufmerksamkeit durch seine Übertragung des bekannten Gedichtes Tennysons "The charge of the light brigade", die als "Arbeit eines deutschen Schülers" in der Londoner Times abgedruckt wurde. Mit 17 Jahren folgte er Einladungen von literarischen Vereinen und Volkshochschulen, wo er eigene Novellen und Gedichte vortrug. Die Presse schrieb: "Man ist ganz gefangen von der Erscheinung eines so jugendlichen Dichters, der in der Gestalt eines Weltweisen vor uns tritt." Heinz Hilpert, Chef-Regisseur des Deutschen Theaters Berlin und seit 1950 Intendant des Deutschen Theaters Göttingen, brachte 1954 Willi Kollos im "Dritten Reich" spielendes Schauspiel "Eine Frau, die ich kannte" zur Uraufführung. Hermann Stresau, Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen: "Ich finde Ihr Stück in einem Punkt wesentlich besser als Zuckmayers ´Des Teufels General´: Sie geben die Wahrheit…., ja, so war es!" Es folgten diverse Bücher, wie "Friedrich der Große – Die Kunst zu überleben". (Lau-Verlag) Willi Kollo starb am 4. Februar 1988 in Berlin. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof an der Heerstraße in Berlin. MARGUERITE KOLLO - Musik- u. Bühnenverlegerin – Agentin f. Musiktheater - Autorin. Die am 20. Juli 1935 gebürtige Berlinerin absolvierte ein mehrjähriges Gesangsstudium und ließ sich auch tänzerisch und schauspielerisch ausbilden. Nach einigen künstlerischen Bühnen- und Filmausflügen stellte Marguerite fest, dass ihr Interesse mehr den Bühnen-Hintergründen und der organisatorischen Arbeit galt. Nach einem Handelsschulabschluß wurde sie zuerst Mitarbeiterin ihres Vaters im familieneigenen Musik- und Bühnenverlag. Seit 1973 bis 1996 war M.K. die weltweite Managerin ihres Bruders, des Tenors René Kollo und führte eine eigene Opernagentur. Sie pflegt den künstlerischen Nachlass von Walter und Willi Kollo, womit sie dazu beiträgt, dass die Werke ihrer Familie und damit ein wesentlicher Teil Berliner Kultur nicht in Vergessenheit geraten können.

Im Sarg meiner Großmutter

Willis Geburt in Königsberg und seine Ankunft im Berlin des Jahres 1907

Ich wurde im Tragheimer Ausbau, einer neu entstandenen Siedlung am Rande Königsbergs, im Elternhaus meiner Mutter geboren. Meine Eltern sollte ich erst drei Jahre später kennen lernen. Als ich am 28. April 1904 das Licht der Welt erblickte, war ich noch blind und konnte mir von meiner Mutter kein Bild machen. Als ich langsam meine Umgebung zu erkennen begann, war sie fort. Nach Posen hin, wo sie in einem Gesangs-Etablissement, kurz „Tingeltangel“ genannt, ein Engagement absolvierte.

Ich wurde in der kleinen Kirche in Tragheim getauft. Das Kirchenregister enthält die Namen Richard Wagners und Minna Planers, die dort, während einer abenteuerlichen Reise, geheiratet hatten. Es war wohl das erste Mal, dass die Namen Kollo und Wagner in Nachbarschaft gerieten.

Der erste Mensch, den ich wahrnahm, der meinen Sinnen ersten Geruch und erstes Geräusch vermittelte, war meine Groß-mutter, meiner Mutter Mutter. Wie auf einer verdunkelten und unscharf gewordenen Fotografie sehe ich sie, meine geliebte Großmutter, um mich, ein Kind von drei Jahren, herumhuschen und arbeiten. Ich höre noch heute das Rauschen ihres grauen Rocks, wenn sie an mir vorbeistreifte. Ich sehe noch heute ihr freundlich-zärtliches Lächeln, wenn sie von ihrer Nähmaschine zu mir herüber blickte. Ich spielte in einer Ecke des einzigen Raumes. Ich kannte niemanden, ich sah nur sie, hörte nur sie, liebte nur sie. Es waren meine glücklichsten, weil behütetsten Jahre. Ich wurde geliebt.

Meine Großmutter war eine Lillian Gish der 1880er Jahre. Ihr einfach gerahmtes Bild zeigt unter schlichtem Madonnenscheitel ein Mädchengesicht, süß, zart, fromm; die Hände sanft gefaltet in den Schoß gelegt. Kleine, schmale, verarbeitete Hände, die viel im Leben hatten tun müssen. Diese zarte und so sanfte Person hatte mit ihrem gebrechlichen Körper acht Kinder zur Welt bringen, sie hatte sie allein versorgen und aufziehen müssen. Acht kräftige, gesunde, sogar schöne, teils recht ungebärdige Kinder, die sie allein zu bewältigen hatte. Vier davon gingen nach ihr, sie waren still und sanft. Die vier anderen, darunter an der Spitze als die älteste meine Mutter, gingen nach meinem vitalen und jähzornigen Großvater.

In meiner Erinnerung war die Hervorstechendste von den Geschwistern meiner Mutter Tante Grethe. Sie war sehr viel jünger als meine Mutter und kam von meiner Großmutter her. Sie hatte ein wunderbares Gesicht mit zartester Haut, in deren Alabaster nur wenige, ganz blasse Sommersprossen sich abzeichneten. Sie hatte tiefblaue, ins Grünliche gehende Augen von einer inneren Reinheit wie ein Waldsee, der, umschlossen vom Grün des ihn umgebenden Laubes, gefährliche Schwermut in sich birgt. Ich habe diese meine junge Tante Grethe immer wie eine Skulptur angestaunt, so schweigend war alles an ihr. Ihr Lächeln war sanft und traurig. Man konnte mit ihr nicht sprechen wie sonst mit irgendeinem Menschen. Sie stand stets wie hinter Glas. Unzugänglich und nur in sich selber atmend. Eine tiefe Einsamkeit war um sie und es war mit Händen zu greifen, dass sie auf Erden nichts zu suchen und nichts zu finden haben würde. Ihre Schönheit war von der Art, die kein Mann zu begehren wagte.

Sie ging als Erzieherin in einen Königsberger Haushalt. Ein dort ein- und ausgehender Freund des Hauses, wohlhabend, tüchtig und unaufrichtig, verlobte sich mit ihr. Sie sah in ihm den Menschen, der sie herausführen würde, aus ihrem großen Eingesperrtsein, in die Welt. Er war all ihre Hoffnung nach außen. Als sie erfuhr, dass er mit der Hausfrau ein Liebesverhältnis hatte und sich mit ihrer gemeinsamen Verlobung nur gegen das Misstrauen des Gatten, seines Freundes, abzuschirmen gedacht hatte, entzog sie sich diesem so tief gemeinen Betrug auf die edelste Art. Sie nahm Gift und starb lautlos, ohne je zu irgendeinem der Ihren ein Wort des Auflehnens, der Klage, des Hilfeverlangens gesagt zu haben.

Man begrub sie ohne Schmerz, aber in schweigender Trauer.

Alle diese einfachen Menschen, die ihre Brüder und Schwestern waren, fühlten, dass hier etwas Besonderes geschehen war. Dass sie tief begründet aus einer Welt gegangen war, die ihr nichts zu bieten hatte und ihr nie etwas zu bieten gehabt haben würde. Sie war zu schön, zu sanft, um – nicht wahr zu sein.

Grethe –

Mein Schicksal zeigte von Anfang an sichtbares Vergnügen am Dramatischen und so sehe ich noch die kleine Arbeiterstube vor mir, in der meine Großmutter, es muss schon stark in der Dämmerung gewesen sein, da die Dunkelheit vordrang, bei einer Näharbeit saß, von einer Petroleumlampe beleuchtet. Plötzlich blickte sie auf. Ein fremder Mensch stand in der Tür, durch die man das Haus unmittelbar von der Straße her betreten konnte. Das Haus lag fernab von allem. Meine Großmutter fragte den Fremden, was er wolle. Er antwortete nicht. Über dem Raum lagerte plötzlich eine unheimliche Spannung, eine sich schnell verdichtende Angst. Kinder sind starke Empfänger. Jede Empfindung desjenigen, unter dessen Schutz sie gestellt sind, teilt sich ihnen mit aller Intensität mit.

So kann ich mich heute noch des Gefühls des Grauens entsinnen, das meine einsame Großmutter erfasst haben muss. Ich hörte ihr Herzklopfen. Einen in der Dämmerung schweigend dastehenden und nicht antwortenden Fremden würde jedermann als unmittelbare Gefahr ansehen. Es war die Zeit, in der noch überall die Legende von Jack the Ripper lebendig war, mochte dieser auch in London gemordet haben. Damals war die Welt noch klein. Ein Mörder reichte hin, um die Frauen in aller Welt in die Furcht zu versetzen, ihm zu begegnen. Diese Angst mag auch meine Großmutter erfasst haben. Ich sehe noch heute vor mir, wie sie die Petroleumlampe entschlossen in die Hand nahm, einen Augenblick lang zögernd innehielt, wie um dem Fremden ein Ultimatum zu stellen. Dann schleuderte sie die brennende Lampe, von Energie erfüllt, diese kleine Person, in die Richtung der Tür. Die Lampe verlöschte im Aufschlagen. Der Fremde war fort. Meine Großmutter sammelte kniend die Scherben in ihren Rock.

Acht Kinder hatte sie und einen gewalttätigen Mann. In dieser Stunde war niemand neben ihr.

Meine Großmutter starb, knapp fünfzig Jahre alt, verbraucht, missbraucht, und wohl auch misshandelt. Man fand nach ihrem Tode ein Heft mit Gedichten, die sie heimlich geschrieben hatte. Mögen sie keinen literarischen Wert gehabt haben, so zeigt doch ihr Vorhandensein, einem wie grausamen Schicksal diese zarte, mädchenhafte Frau anheim gegeben war.

Von ihr schreibe ich mich her. Nicht meiner Mutter oder meinem Vater fühle ich mich im Innersten verwandt, sondern dieser Großmutter.

Als meine Mutter, erst nach ihrem Tode, kam, um mich zu holen, fand sie die Stube leer. Es stand nur der Sarg darin. Ich saß spielend zu Füßen meiner Großmutter. Ich war über einen Stuhl hinauf in den Sarg geklettert. In ihre Nähe.

Dort spielte ich mit meinen Sachen. Sie war immer still gewesen, hatte nur hier und da ein Wort gesprochen. Für mich war sie nicht tot, sie war ja da. Sie war der einzige Mensch gewesen, der immer um mich war, mich angezogen und entkleidet und geküsst hatte. Nun schlief sie. Ich war still, damit ich sie nicht störte.

So fand mich meine Mutter. Eine Fremde. Ich sah sie groß an, um ihr zu bedeuten, dass meine Großmutter schliefe. Aber sie riss mich entsetzt aus dem Sarg, viel zu hastig, viel zu wild. Er wurde geschlossen, damit ich nie mehr darin spielen könnte.

Als sie mich später bei der Hand nahm und ich, adrett angezogen, trippelnd das niedrige kleine Arbeiterzimmer meiner Kindheit verließ, hatte ich dieser Art von großmütterlicher Liebe für immer den Rücken gekehrt.

Wir fuhren noch nachts in einem Bummelzug nach Berlin, der an jeder Station anhielt. Wie ich die Furcht meiner Großmutter bedrohlich gespürt hatte, so drang an mich nun die steigende Nervosität meiner Mutter heran, die mit mir allein im Coupé saß, mit glühendem Gesicht und unsteten Augen, und Angst hatte, es könnte irgendjemand dazu steigen und uns etwas antun. Sie rief den Schaffner, der sich, da sie eine sehr hübsche Frau war, zu uns setzte und beruhigend mit uns sprach. Dann erhob er sich, versprach, nach jeder Station nach uns sehen zu wollen, und verschloss die Tür nach draußen. Er riegelte das Coupé so ab, dass auch aus dem übrigen Zug niemand unser Abteil betreten konnte. Der ganze Zug war nahezu leer.

So fuhr er endlich im Zielbahnhof ein. Ich war, übermüdet und erregt von der unbeherrschten Hektik meiner Mutter, eingeschlafen. Als ich erwachte, war ich in Berlin. Morgens um 5 Uhr, 1907.

Willi Kollo, 1907

Der Mann, von dem meine Mutter sagte, dass er mein „Papa“ sei, sagte lächelnd: „Da bist du ja!“ Er strich mir über das Haar, tätschelte mir leicht die Wangen und ging in ein anderes Zimmer. Daraus ertönte...

Erscheint lt. Verlag 28.6.2024
Verlagsort Ahrensburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Berlin • Biografie • Familienchronik • Literatur • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-384-25715-4 / 3384257154
ISBN-13 978-3-384-25715-4 / 9783384257154
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