Am Samstag wird abgerechnet (eBook)
560 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01748-1 (ISBN)
Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbu?cher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.?a. mit dem Premio Grinzane Cavour, dem Prix Le Point für den besten europäischen Kriminalroman 2024 und dem Premio Via Po. Aus seiner international gefeierten Krimireihe aus dem Piemont erschienen bisher: «Der Fall Bramard», «Die jungen Bestien», «Schlichte Wut» sowie «Am Samstag wird abgerechnet».
Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbücher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Premio Grinzane Cavour, dem Prix Le Point für den besten europäischen Kriminalroman 2024 und dem Premio Via Po. Aus seiner international gefeierten Krimireihe aus dem Piemont erschienen bisher: «Der Fall Bramard», «Die jungen Bestien», «Schlichte Wut» sowie «Am Samstag wird abgerechnet». Barbara Kleiner, geboren 1952, lebt in München. Übersetzerin u. a. von Primo Levi, Ippolito Nievo, Italo Svevo, Paolo Giordano, Davide Longo; ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung. Felix Mayer, geboren 1970, hat Komparatistik, Philosophie sowie Literaturübersetzen studiert. Er übersetzt aus dem Französischen, Englischen, Italienischen und Slowenischen, u. a. John Marrs, Pascal Garnier und Gašper Kralj.
1.
Den Kopf auf dem Kissen, den Körper zusammengekauert wie in einer primitiven Grablege, starrt Arcadipane auf das Handy, das zum dritten Mal innerhalb der letzten fünf Minuten den Sockel der Nachttischlampe erleuchtet, den Schlüsselbund, die Pistolentasche und einen dunklen Kreis auf dem Nachtkästchen von einer sehr heißen Tasse oder einem sehr heißen Glas.
Er bräuchte nur die Hand auszustrecken und das Handy auszuschalten oder ranzugehen, aber er weiß, wer ihn um diese Zeit anruft und warum, also tut er, was ein Mann in seinem Alter, seinem Beruf und seiner horizontalen Lage tun kann: Zeit schinden. Dreißig Jahre bei der Polizei haben ihn gelehrt, dass die Sekunden in der Nacht wie antike Münzen sind, die darauf angegebene Zahl hat nichts mit ihrem effektiven Wert zu tun.
Das schwache fluoreszierende Leuchten des Handys hört auf und lässt wieder Dunkelheit und Stille einkehren. Es ist ein gutes Viertel, in dem er schläft, keine frisierten Auspuffe, keine Leute, die grölend aus üblen Kaschemmen kommen, keine Betrunkenen oder Zuhälter. Nur ein paar Transvestiten der alten Schule: Arbeitszeit von dreiundzwanzig bis zwei Uhr, kurze Woche nach deutschem Vorbild, per königlichem Dekret zugeteilte Straßenecken und Halbparterre in Eigentum, Professionelle, die sich prostituieren, seitdem ihnen der erste Flaum spross, der sofort ausgerupft wurde, und die Übermütige, Witzbolde und Junkies auf der Suche nach Kleingeld in Schach halten. Im Übrigen kosten eine Schere, ein Schraubenschlüssel und eine Dose Pfefferspray weniger als ein Beschützer, und notfalls sind sie schneller zur Hand.
Das Handy fängt wieder an.
Arcadipane gibt ihm fünf, vier, drei, zwei Sekunden, ergreift es, steht vom Bett auf und geht ruhig in Richtung Bad. Was er noch weiß, ist, dass die am anderen Ende es so lang läuten lassen wie notwendig. Der letzte Gedanke des Mannes in Zivil ist, dass man wirklich bescheuert sein muss, wenn man gezwungen wird, um fünf Uhr sechsundzwanzig vom Bett aufzustehen, er weiß tatsächlich viele Dinge, also geht er ins Bad, schließt die Tür und tritt seinen Dienst an.
«Was ist?»
«Ich bin’s, Pedrelli, Commissario.»
«Ich hatte gehofft, es wäre Edwige Fenech», sagt er und setzt sich auf die Toilette, ohne den Deckel hochzuklappen, «aber dieses Luder hält mich hin.»
«Sie haben recht, Commissario, die Fenech ist immer …»
«Pedrelli, es ist halb sechs Uhr morgens, kommen wir zur Sache.»
«Gewiss, Commissario. Es gibt einen Toten.»
«Ach was?»
«Das wäre nicht unsere Zuständigkeit, aber der Generalleutnant hat angerufen und ausdrücklich verlangt, dass Sie sich darum kümmern. Er hat verboten, am Telefon darüber zu reden. Wenn Sie herunterkommen wollen, ich stehe mit dem Dienstwagen vor Ihrem Haus.»
Arcadipane streckt die Hand nach den Kleidern aus, die er für Fälle wie diesen am Fenstergriff aufhängt. Er kramt in der Tasche der Lammfelljacke, die ihm seine Ex-Schwiegereltern geschenkt haben, bis er mit den Fingern die kleine Raute mit den abgerundeten Ecken ertastet, die er sucht. Er genießt ihre gummiartige und raue Konsistenz, die luftige Natur eines Fusels vom Grund der Tasche, den er nicht mitnimmt, dann packt er das Lakritzbonbon, Sucai, und steckt es in den Mund.
«Eine Angelegenheit außerhalb unseres Distrikts», sagt er kauend.
«Außerhalb des Distrikts.»
«Nicht unsere Zuständigkeit, aber der Generalleutnant …»
«Vor einer Stunde hat er persönlich angerufen und verlangt, so schnell wie möglich vor Ort zu sein.»
«Und Botta und Lavezzi?»
«Sind schon unterwegs, Commissario.»
«Mit dem Alfa?»
«Mit dem Alfa», Pedrelli senkt die Stimme, weil er ahnt, worauf Arcadipane hinauswill.
«Während du vor meinem Haus stehst.»
«Seit etwa zwanzig Minuten, aber Sie haben nicht ge…»
«Womit?»
Pedrelli schweigt.
«Zwei neue Alfa, Pedrelli! Zwei neue Alfa haben sie uns gegeben, und du nimmst nach wie vor diesen Scheiß-Peugeot. Nein, sag’s doch, sag’s doch, dass du mir übelwillst! Wir versetzen ihnen ein paar Schläge mit dem Hammer, wenn dir das lieber ist, oder wir überlassen sie einen Monat lang denen vom Überfallkommando, dann vergeht dir die Angst, dass sie einen Kratzer abbekommen.»
«Aber nein, Commissario, es ist wegen all der Technik …»
Während er der Rechtfertigung seines Vize lauscht, erkundet Arcadipane das Gesicht, das ihm der Spiegel über dem Waschbecken zurückwirft: der zerdrückte Haarkranz um den kahlen Schädel, der Zweitagebart, der schon sprießt, die tief liegenden Augen, die steinzeitliche Stirn, die Haut, die im Licht der Straßenlampen, das durchs Fenster hereindringt, dunkel wirkt. Ein bisschen wie bei Lombroso. «Commissario?»
«Hm!»
«Haben Sie gehört?»
Arcadipane steht auf und klappt die Klobrille hoch, dann besinnt er sich, wo er ist, und setzt sich wieder.
«Ich habe gehört, ich habe gehört. Bring diesen ollen Peugeot zum Largo Duca degli Abruzzi!»
«Aber ich …»
«Stehst vor meinem Haus, ich weiß», Arcadipane trocknet sich mit Papier ab, eine jüngste Errungenschaft, erleichtert durch die Positur, «aber ich sage dir, du sollst zum Largo Duca degli Abruzzi kommen», er klemmt das Handy zwischen Ohr und Schulter und beginnt sich anzuziehen. «Egal, ob du jetzt in Gedanken wieder deine drei Pünktchen setzt, okay?», er schlüpft in die Hose. «Du denkst darüber nach, während du kommst», er knöpft das Hemd zu. «Mach jetzt voran, denn ich bin mittlerweile schon gewaschen, gekämmt und angezogen.»
«Sicher, Commissario, ziehen Sie etwas Warmes an, ich habe aus der Zentrale Galoschen für alle beide mitgenommen.»
Arcadipane hält den Reißverschluss am Hosenschlitz auf der Hälfte an.
«Galoschen? Wohin zum Teufel fahren wir, Pedrelli? Ins neunzehnte Jahrhundert?»
«In die Berge, Commissario … aber ich habe nichts gesagt.»
«Wovor hast du Angst? Dass die CIA uns ausspioniert?»
«Das ist ein Lied.»
«Was?»
«Die CIA spioniert uns aus, das ist ein Lied von Eugenio Finardi.»
«Aber wen schert Eugenio Fidenco, vorwärts. Und lass den Motor laufen, sei nicht knickerig, um für den Staat Geld zu sparen.»
Arcadipane beendet das Gespräch, dreht den Wasserhahn auf, wäscht sich die Hände und wischt sich nass damit durchs Gesicht, das er heiß und voller Auswüchse findet, wie eine Knolle, die in einer Steinwüste gewachsen ist. Die Jacke hängt im Flur. Socken und Schuhe am Fuß des Bettes.
Er kommt aus dem Bad und nähert sich ihr vorsichtig, setzt sich auf die Bettkante und macht sich ans Werk. Die Bettdecke hinter ihm bewegt sich.
«Bist du wach?»
«Hmhm.»
Er schlüpft in die Mokassins, geht zur Kommode und nimmt seine Sachen. Eine Handbreit über seinem Kopf sieht er die Seile, die unter der Decke verlaufen wie die Oberleitungen von Trambahnen.
«Es ist ein Anruf gekommen», er verteilt die vier Sucai auf die zwei Taschen, «ich muss weg.»
«Hmhm.»
«Kannst du Trepet bis zum Nachmittag behalten?»
«Hmhm.»
Er geht zum Sessel, neben dem der Hund schläft, und beugt sich über die formlose Masse.
«Du, mach keine Sperenzchen, verstanden?», flüstert er, aber nicht zu sehr, weil er will, dass sie es hört.
Trepet lässt ein unwilliges nächtliches Knurren hören, dann das Schlapp, schlapp, wie er es macht, wenn er seine Hoden leckt.
«Okay», sagt Arcadipane, indem er sich aufrichtet. «Ich ruf dich an, wenn ich komme, um ihn abzuholen. Schlaf jetzt.»
«Hmhm.»
Nachdem er die Jacke angezogen hat, tritt er hinaus auf den Treppenabsatz und schließt die Tür hinter sich. Er hat einen Bund Schlüssel in der Tasche, die nicht zu diesem Schloss gehören und auch nicht zu jener anderen Wohnung, zu der er ab und zu unwillkürlich, wenn er in Gedanken ist, zurückkehrt. So ist es also um ihn bestellt, sagt er sich, während er die Treppe hinuntersteigt.
Auf der Straße erwartet ihn das kalte und öde Turin, das dem Morgengrauen vorausgeht. Er schnuppert und erkennt den Geruch wieder, der ihn als Amme begleitet, wenn auch nicht zur Welt gebracht hat. Ein wilder, schnörkelloser Geruch nach Schlamm, Stein, Eisen, Blei und Unterholz. Wenn man von einem Viertel ins andere wechselt, können Reihenfolge und Intensität variieren: mehr Eisen im Borgo Dora, Blei in Mirafiori, Stein im Zentrum, Schlamm in der Nähe des Po und Unterholz von Santa Maria del Monte dei Cappuccini aus aufwärts, aber die Haut von Turin setzt sich aus diesen fünf Elementen zusammen. Er weiß das. Weil er diesen Geruch mit dem ersten Tropfen Muttermilch in sich aufgenommen hat, etwas, an das man sich nicht erinnert und das man doch nie vergisst.
Als er die Ampel am Largo erblickt, beschleunigt er den Schritt. Er hätte Pedrelli die genaue Adresse nennen können, im Übrigen, wenn man ein Geheimnis wahren will, kann man es mit ins Grab nehmen oder es einem Piemontesen anvertrauen, was so ungefähr dasselbe ist, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass …
Ein weißer Hund kommt um die Straßenecke und rettet ihn vor einem Gedanken, den er nicht zu Ende hätte führen können. Es ist ein Pit Bull oder etwas Ähnliches, stämmig, dreißig Kilo schwer, und er kommt auf dem Gehweg auf ihn zu gelaufen.
«Verdammt …», kann er gerade noch denken, als eine Frau um dieselbe Ecke biegt.
«Slash, Slash!», ruft sie und rennt ihm hinterher.
Der Hund war gerade damit beschäftigt, an einem Laternenpfahl zu schnüffeln, er dreht sich nach der Frau...
Erscheint lt. Verlag | 16.7.2024 |
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Reihe/Serie | Bramard und Arcadipane ermitteln |
Übersetzer | Barbara Kleiner, Felix Mayer |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Andrea Camilleri • Arcadipane • Bramard • Buch für den Urlaub • Buchtipp von Christine Westermann • Christine Westermann • Christine Westermann Buchtipps • Commissario • Italienischer Krimi • italienischer kriminalroman • jean luc bannalec • Kriminalroman • Piemont • Rom • Spannende Urlaubslektüre • Turin • Urlaubsbuch |
ISBN-10 | 3-644-01748-4 / 3644017484 |
ISBN-13 | 978-3-644-01748-1 / 9783644017481 |
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