Wandlung -  Richard EVO Jecht

Wandlung (eBook)

Poetische Philosophie
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
136 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-2742-8 (ISBN)
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"Voller poetischer Symbolik, groß, bildgewaltig, grausam, schonungslos! ... Das persönliche Zeugnis des schmerzvollsten Wegs, den ein Mensch nur wagen kann: unendlich tief hinabzugehen bis an den letzten, dunkelsten Ort der eigenen Seele; hier gehen wir diesen Weg mit ihm auf seine Weise; ein langer, doch am Ende ein befreiender und reinigender Weg, um Zelle für Zelle ein Dankeslied anzustimmen, fühlend verbunden mit dem Leben. Ein kostbares Werk für jedes Weltenkind." Andrea Matschulat, Berlin "Gesang, geboren aus dunklem Licht. ... Ich konnte das Verfertigen, das allmähliche Hervorkommen der Texte über Jahre begleiten. Von Anfang an waren sie außergewöhnlich, beunruhigend, verstörend. In der Masse dessen, was heute zu Markte getragen wird, stehen sie beinahe einzig. Und wie in jedem derartigen Augenblick, da etwas zu einem Werk wird, vereinen die Texte Unterschiedliches: die Erfahrungen des Autors, darunter traumatische, verschmelzen mit denen seiner Generation, mit unserem geschichtlichen Herkommen, das immer entschiedener die zerstörerische Bestie zum Vorschein bringt: der Mensch als das noch nicht festgestellte Tier (Nietzsche). Durch die Texte zieht sich der Fluch einer Geschichte, die der Einzelne tragen muß, den die Vielen nie oder selten zu spüren scheinen und der gerade deshalb furchtbar gegenwärtig bleibt. Es kündet von einem unglaublichen Versagen des deutschen Verlagswesens, einer literarischen Unterhaltungsindustrie, achselzuckend über diese Texte hinwegzusehen." Dr. Jürgen Friedrich, Berlin

Richard EVO Jecht, freischaffender Philosoph und Autor, lebt in Bamberg.

Im Bann des Ebers


Die Spur des Ebers verliert sich im Dunkel. Ich knie vor dem offenstehenden Eingang eines Militärbunkers, aus dem die Wut des Ebers wie heißer Dunst kriecht. Neben mir ragen die Heroen, einer spricht mich mit tonloser Stimme an: „Wer ins Dunkel geht, verschwindet für immer aus der Überlieferung. Für uns ist die Jagd vorbei.“

Die Jagd. Mit der Aufdeckung von Lügen hatte sie begonnen; mit der Aufdeckung der Lügen, hinter denen sich Täter und Mitläufer wie hinter Stahlbeton verschanzten. Wie jene Greisin, die wir tagsüber bei der Gartenarbeit antrafen und befragten, doch sie leugnete alles ab. Nachts kehrten wir zurück und überraschten sie bei einer anderen Arbeit: beim Zuschneiden und Vernähen von Menschenhaut. Da offenbarte sie sich und erklärte, sie müsse das Werk des gefallenen Gatten vollenden. „Damit das alles nicht umsonst war“, und wies uns den Weg.

So nahmen wir Festung für Festung ein und kamen dem Eber auf die Spur. Zuerst führte sie uns zu gebrochenen Menschen. Dann zu den Ruinen von Dörfern und Städten. Schließlich über verwüstete Landstriche, die von Leichenbergen gesäumt wurden. Frauen und Kinder zählten, nummerierten und verbrannten die Toten. In der von verkohlten Wäldern und Feldern noch schwelenden Glut. Sonntags wandelten die Überlebenden wie Geister in die Kirche, wenn das Läuten der Glocken dumpf und hohl in der verpesteten Luft hing. Wir hörten es oft auf unserem Weg, dann fiel mir das Atmen noch schwerer.

Der Eber hatte ganze Arbeit geleistet, wir konnten ihn nicht mehr verfehlen. Nur: Woher war er gekommen? Wer hatte ihn gerufen?

Wir überquerten einen See, der von Schorf wie von einer Eisdecke überzogen war. Ein tödlicher Fehler. Einige brachen ein und ertranken, andere erstickten an den Ausdünstungen des von Blut und Eiter dunkel gefärbten Wassers. Nachdem wir die andere Seite erreicht hatten, entzündeten die Heroen hohe Feuer und riefen die Götter um Beistand an.

Nach Sonnenaufgang setzten wir den Weg fort. Schweigsam. Nur selten kamen Späher und brachten Nachricht. Wenn sich die Blicke der Heroen trafen, war es wie das Kreuzen von Klingen. Kalte Entschlossenheit sprach aus ihren Augen, meine flackerten oft wie Irrlichter. So zog ich dahin, mit zerrissenem Empfinden zwischen Mordmaschinen und doch einer von ihnen.

Tage-, nächtelang.

Wir gelangten auf Felder und Wiesen, stießen auf eine verwitterte Straße aus Beton. Die Spur der Verwüstung führte uns Richtung Osten, immer dem Lauf der Straße folgend. Abends erlegten die Heroen einen einsam grasenden Stier. Erst stießen sie ihm zwei Lanzen in die Flanken, dann eine ins Herz. Schnitten die Kehle auf, hängten ihn übers Feuer und verbrannten die Eingeweide. Während der Aufteilung der Beute kam zum ersten Mal Streit auf, alles ging sehr schnell: das Aufblitzen der Waffen, Kampflärm, ein Schrei, Blut, noch ein Schrei, das Vibrieren der Muskeln, aus.

Der Morgen brach über uns wie die sengende Hitze eines Glutofens herein, langsam marschierten wir weiter. Die Straße führte uns in einen Fichtenwald, in dem uns eine unheimliche Stille umfing. Ich lauschte, aber da war kein Geräusch, nichts. Der Wald war ein einziges „brüllendes Schweigen“. Auch die Heroen prüften die Luft. Wie Raubtiere, die Witterung aufnehmen.

Lange hörten wir nur unseren schweren Atem und den monotonen Klang der Schritte. Wir spürten: Der Eber war nah. Jeden Moment erwarteten wir seinen Angriff, immer wieder schwärmten die Späher aus. Einer kehrte mit der Nachricht zurück, daß sich unweit von uns ein verlassener Militärstützpunkt befinde. Wir hofften, daß sich der Eber dort versteckt hielt und beschleunigten unseren Lauf. Schon tauchten die ersten Panzersperren auf, schon sahen wir uns entlang einer Mauer aus Beton marschieren, vorbei an immer neuen Spuren der Verwüstung. Die Straße machte einen Bogen, abrupt blieben wir stehen: Der Geruch von Gefahr traf uns wie ein Schlag. Vor uns tat sich eine Lichtung auf, nein, eine Wüste aus Sand und Beton, von verfallenen Kasernen und Mauern und Türmen und verdorrtem Gestrüpp und Krüppelbäumen wie von verwesenden Leichenteilen bestanden.

Augenblicklich drangen die Heroen vor. Aus den Blicken sprachen Mordlust und Gier, unsterblicher Ruhm erwartete den siegreichen Helden. Sie überfluteten das Gelände und jagten durch die Ruinen. Singend forderten sie den Eber zum Kampf heraus, doch er blieb verborgen. Allein seine Wut nahm spürbar zu. Schon zögerten einige und hielten unruhig inne, da zerriß ein Ruf die Stille, und wir setzten ihm nach. Über Schutt und Trümmer, an der Biegung einer Mauer entlang, dann übers offene Gelände.

Am Waldrand sammelten sich die mir vorauseilenden Läufer, bildeten einen Halbkreis, warteten. Ich erreichte sie, bahnte mir einen Weg nach vorn und fand mich vor dem offenstehenden Eingang eines Bunkers wieder. Der Blick verlor sich im Dunkel, die Gewalt warf mich um, ... und noch immer knie ich hier und atme den Zorn des Ebers ein, der aus den „Eingeweiden“ des Bunkers steigt. Eine Stimme dringt auf mich ein: „Wer ins Dunkel geht, verschwindet für immer aus der Überlieferung. Für uns ist die Jagd vorbei.“

Schwindel erfaßt mich, das Dunkel zieht mich magisch an. Es ist, als ob sich alles Licht und Leben in ihm verliert und doch auf eine unbegreifliche Weise weiterexistiert. Irgendwann besinne ich mich, will wieder Sichtkontakt zu den Heroen herstellen, reiße den Kopf herum und erstarre in der Bewegung: Wo vorher pulsierende Körper standen, ragen nun Figuren aus Stein; wo eben noch mordlüsterne Blicke flackerten, fixieren mich jetzt leblose Augenhöhlen.

Die Gedanken rasen, der Boden tut sich auf. Ich will mich festhalten und „umklammere“ eine der Figuren mit den Augen, doch vergeblich. Ein Riß, dann noch einer, dann das Geräusch von berstendem Stein. Die Figuren wanken, Brüche schneiden tiefe Wunden in sie hinein, Köpfe und Arme lösen sich und schlagen hart zu Boden, meine Blicke wirbeln im Kreis herum, ich sehe und höre nur noch fallende Glieder und das Mahlen und Knirschen und Brechen von Stein, – dann kehrt endlich Ruhe ein, oder vielmehr eine Stille wie in Pharaonengräbern, und mir wird schwarz vor Augen.

Im Dunkel

Als die Besinnung zurückkehrt, richte ich mich auf und blicke mich um. Da ist nichts Festes, Greifbares, nur ein Meer aus blassen, mäandernden Schemen. Militärgelände und Figuren, Bunker und Wald: Alles, was vorher war, ist verschwunden. Ist wie ausgelöscht, wie nie gewesen!

Einzig das Dunkel ist geblieben, das eine andere Gestalt angenommen hat und nunmehr wie eine aus schwarzem Glas gefertigte ebene Fläche aussieht, mich hoch überragend. Friedlich wirkt es jetzt, die Bedrohung ist gewichen, und doch bin ich sicher: Der Eber ist noch da. Er träumt und wartet tief unten in verborgenen Verliesen, und wartet schon so lange: worauf? Eine Ahnung steigt auf und verflüchtigt sich, als sich der Blick in dieser Substanz verliert, die mich wie eine farblose Schattenwelt in Gänze einhüllt und umgibt. In alle Richtungen erstreckt sie sich und fließt, scheinbar zeitlos, in sich selbst zurück, wenn das überhaupt ein Fließen ist. Ob sie fällt oder steigt, sich windet oder neigt, ich weiß es nicht: Es gibt keinen Bezugspunkt, keine Perspektive, kein Oben und Unten mehr. Wie ein Trugbild umschließt sie mich, wie ein Meer an Möglichkeiten, die noch nicht, die noch nichts sind, aber ins Leben gerufen werden können, wenn der Geist sie erst erjagt und erbeutet und herausgerissen und in einen Augenaufschlag, einen Tanz, in eine Idee, in Menschenwerk verwandelt hat!

„Besteht die Welt im Innersten nur aus Phantomen?“ frage ich mich noch, als ich unvermittelt von einer Eingebung ausgefüllt werde: „Alles steht bereit, alles ist an seinem Platz.“

Instinktiv verstehe ich: Der Weg führt ins Dunkel – hinauf, hinab? –, und das, was man die Wirklichkeit nennt, liegt vorübergehend hinter mir. Ich wende mich der schwarzen Fläche zu. Nein, das ist kein Glas, das Ding ist nicht aus festem Material gemacht, besteht es nicht aus leuchtend schwarzem Gas? Nein, es setzt sich aus derselben Substanz zusammen, aus der die Schemen bestehen, wenn sie überhaupt bestehen. Wo ist das hin, was eben noch fest, noch rundgeschliffen schien? Es hüllt mich ein an Armen, Schultern, Beinen, legt sich wie ein Gewand um den Körper herum und zwingt mich in eine aus tiefem Dunkel gewebte Welt hinein. Als es mich ganz umschließt, bemerke ich, daß ich dennoch wie mit vielen Augen sehen kann; mit den „Augen“ jener Sinne und Instinkte, die das auf mich Einströmende empfangen und sammeln und deuten. Ist es das Dunkel, das mich aufrecht hält? Da ist nichts als das Lauschen des Körpers, bis sich das Empfangene zu einer Botschaft zusammensetzt: „Der Eber wartet schon so lange, er wartet nur auf dich.“

Ein unbekanntes Wohlbefinden durchströmt den Körper und öffnet das Tor zu einer Welt, in der Zeit und Bewegung nicht mehr vorhanden...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
ISBN-10 3-7597-2742-5 / 3759727425
ISBN-13 978-3-7597-2742-8 / 9783759727428
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