Arme Herkunft - reiches Leben -  Edmund Geisen

Arme Herkunft - reiches Leben (eBook)

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2024 | 1. Auflage
276 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-8961-7 (ISBN)
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Edmund Geisen, ehemaliger Bundestagsabgeordneter aus Daun in Rheinland-Pfalz, schildert in seinem Lebensbericht nicht nur seine politischen Erfahrungen. Einen breiten Raum nimmt auch die anschauliche Darstellung der Nachkriegszeit in der streng katholischen Eifel ein. "Armut, karges Essen, abgelegte Kleidung und Kinderarbeit haben mir nur wenig Sorgen bereitet. Traktorfahren, Fußballspielen und Blasmusik erfüllten mich in der Jugend immer wieder mit Stolz. Das liebevolle Elternhaus mit Vater, Mutter, Großvater und vielen Geschwistern war stets ein Hort der Besinnung und des Trostes. Dort war mein Lebensanker. Bis heute verspüre ich in meinem Innersten eine tiefe Heimatverbundenheit." Geisens Lebensgeschichte zeigt, wie eine beispielhaft arme Herkunft und ein ausgesprochen reichhaltiger Lebensweg in Zusammenhang stehen können.

1949 geboren in Lützkampen 1955-1976 Volksschule, Berufsausbildung, Ingenieurstudium 1977-1980 Referendarausbildung, Promotion zum Dr. agr. in Bonn, Zweites Staatsexamen für Landwirtschaft und Lehramt 1980-1986 Lehrer und Ausbildungsberater für Landwirtschaft 1986-2000 Landwirtschaftsdirektor an mehreren Berufsbildenden Schulen, Beratungs- und Weiterbildungsstellen für Landwirtschaft, Hauswirtschaft und Weinbau in Rheinland-Pfalz 1984-1994 Mitglied im Verbandsgemeinderat 2001-2006 Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz 2004-2024 Mitglied im Kreistag des Vulkaneifelkreises 2005-2013 Mitglied des Deutschen Bundestags

Herkunft


Das wichtigste Wort


Wer aus dem Westen der Eifel stammte, war früher schlecht angesehen. Abwertend hieß es, er komme von „hinter dem Büsch“. Man schämte sich manchmal zuzugeben, ein Eifeler zu sein. Chaos und Traurigkeit prägten lange die unterentwickelte Westeifel.

Hier im Dreiländereck von Deutschland, Belgien und Luxemburg, in Lützkampen, bin ich 1949 zur Welt gekommen.

Ein heute über Siebzigjähriger hat in der Eifel die landwirtschaftliche Entwicklung so verfolgen können wie anderen Orts ein über Hundertjähriger. Ostpreußen oder die Köln-Aachener Bucht waren zum Beispiel schon vor dem Zweiten Weltkrieg viel weiterentwickelter als die Eifel bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein. Ich habe noch die komplette Handarbeitsstufe in der Landwirtschaft erlebt. Die „nachgeholte“ Entwicklung zur modernsten Technik erfolgte innerhalb einer viel kürzeren Zeitspanne als anderswo. Das ist eine große Besonderheit.

In der Vergangenheit waren die Menschen, die in den fruchtbareren Regionen wohnten, denen es gutging, die Besseren, die Angeseheneren. Die vom Boden her Benachteiligten dagegen waren in der Gesellschaft weniger geschätzt.

Das hat sich gewandelt. Jetzt prägen nicht mehr die Güte und die Schwere des Bodens, die besseren Witterungsverhältnisse, also nicht mehr die Vorteile der Natur das Ansehen des Menschen und die Besonderheiten einer Region. Heute spielen – wie überall – Mobilität, Verkehrsentwicklung, Erreichbarkeit über Telefon und Internet sowie Versorgung mit Fernsehen und Radio, die Sozialen Medien, letztlich also die moderne Technik, die Hauptrolle. In den Achtzigerjahren wandelte sich die Eifel zu einer wahrhaft „blühenden Landschaft“, denn die Einwohner stellten sich den Anforderungen, die der Strukturwandel mit sich brachte. Das kann man auch an der Entwicklung der Häuser und der Dörfer ablesen. Die ehemals benachteiligte und rückständige Gegend modernisierte sich und „überholte“ andere Regionen, die am Überkommenen festhielten.

Ich habe noch den ungerechten Wahnwitz eines auf Grund seiner Heimat Benachteiligten zu spüren bekommen. Das war eine starke Belastung. Wir Eifeler haben uns vor fünfzig Jahren noch für unsere „rückständige“ Lebensweise geschämt. Heute sind wir stolz auf die Entwicklung – vor allem in der Westeifel.

In meinem Leben spielt der Begriff „Eifel“ die wichtigste Rolle. Nicht das Wort „Bundestag“, dem ich acht Jahre lang als Abgeordneter angehörte, denn in den kann jeder gewählt werden. Überzeugter Eifeler dagegen kann man nicht werden. Das muss man sein.

Ich stehe zur Eifel und empfinde eine starke Bindung an die Menschen und an das Landschaftsbild meiner Heimat. In Abwandlung des berühmten Wortes von Präsident Kennedy möchte ich stolz sagen: „Ich bin ein Eifeler!“

Meine Vorfahren


Mein Ur-Ur-Großvater hieß Wilhelm und war 1812 in Altscheuern geboren worden. Die Ur-Ur-Großmutter, Jahrgang 1825, hieß Susanna und stammte aus Lahr im Kreis Bitburg. Beide heirateten am 7. Januar 1842 und 1844 erblickte mein Urgroßvater Martin in Schlinkert bei Leimbach das Licht der Welt. 1873/74 begann Martin Geisen, mein Urgroßvater väterlicherseits, in Lützkampen mit der Errichtung unseres Stammhauses, wo er 1875 die aus einer Bauernfamilie stammende Maria Fogen ehelichte. Zunächst brach er Steine, ergründete Lehmvorkommen und bereitete das Holz vor, um schließlich zusammen mit Nachbarn ein „Trierer Haus“ zu bauen, bei dem sich das Wohngebäude, der Stall und die Scheune in einer Reihe befinden. Seitdem trägt es den Namen „Bei Weihern“. Diese Bezeichnung rührt von den damals in der Nähe befindlichen Wassertümpeln her, die als Brandweiher dienten. Lützkampen bedeutet so viel wie „kleines Feld“, „lütz“ steht für „klein“ und „campen“ geht auf das lateinische Wort für „Feld“ zurück. Dieses langgezogene Straßendorf zählt heute etwa 375 Einwohner.

Ein Jahr später bezogen beide ihr neues Wohnhaus „Bei Weihern“ und am 27. September 1876 wurde mein Großvater Nikolaus, von allen „Weiher Nikla“ genannt, geboren. Er begleitete meine ersten 13 Lebensjahre in unserer Großfamilie. Viele Erzählungen und Überlieferungen von ihm können von mir weitergegeben werden, sodass sich mein persönlicher Wissens- und Berichtszeitraum über 150 Jahre erstreckt, ohne auf Literatur zurückgreifen zu müssen. Allein darin liegt schon eine besondere Bedeutung im Zusammenleben von drei Generationen innerhalb einer Großfamilie und einer überschaubaren Dorfgemeinschaft. Aus Überlieferungen von Großvater Nikla und familiären Aufzeichnungen ist Folgendes bekannt:

Sein jüngerer Bruder Franz starb bereits im Alter von sechs Jahren an einer Lungenentzündung. „Über dieses Ereignis wurde in meiner

Unser Stammhaus „Bei Weihern“ (gegründet 1876, ab 1933 ausgebaut, Bild von 1973)

Familie nur sehr selten gesprochen. Es war damals nicht üblich, viel über den Tod eines Kleinkindes zu reden, um das Leid nicht aufrechtzuerhalten“, wie Großvater Nikla meinte. Mir hat er allerdings einige Male erzählt, wie schmerzlich der Verlust seines kleinen Bruders für ihn gewesen war. Voller Stolz dagegen erwähnte er oft, dass er zwei Schwestern hatte, eine leibliche (Susanna) und eine Stiefschwester (Marie), denen er sich besonders nach dem frühen Tod seiner Mutter eng verbunden fühlte.

Nach dem Tod seiner Mutter Anfang der 1890er-Jahre heiratete sein Vater, mein Urgroßvater in zweiter Ehe Susanna Schneider aus Dahnen. Wenige Jahre später starb jedoch auch sie.

Mein Urgroßvater sorgte unter anderem durch Tagelohnarbeiten für seinen Lebensunterhalt und den der drei Kinder. Im Winter verdingte er sich meistens mit dem Dreschflegel bei anderen Landwirten. Der Lohn bestand oft nur aus einem Säckchen Hafer, von dem der Brei für die Kinder zubereitet wurde, und aus Tierfutter, damit die Milchziege und die Hühner überleben konnten.

Die Großeltern Susanne und Nikolaus Geisen (1938)

Am 2. April 1907 heiratete mein Großvater Nikla die gleichaltrige Susanna Winkelmann aus Lützkampen. Beide bekamen zwischen 1908 und 1914 fünf Kinder: meinen Vater Martin und seine Geschwister Henni, Peter sowie Susanna und Maria (später Schwester Lioba genannt). 1916 zog mein Großvater in den Ersten Weltkrieg – zuerst nach Frankreich, später nach Rumänien. Zu Hause in der Eifel musste sich währenddessen Oma Susanna mit den fünf kleinen Kindern und meinem kranken Urgroßvater Martin alleine durchschlagen und alle selbst versorgen. Durch Feldpostkarten ist belegt, welch große Sorgen sich Großvater Nikla an der Front um die Familie machte. Er fasste sich meist nur ganz kurz: „Mir geht es gut. Hoffentlich habt ihr was zu essen und Futter für die Tiere.“

Er hat mir sein Koppel – den Ledergürtel der Uniform – aus dem Ersten Weltkrieg vermacht, auf dem folgende Worte eingraviert sind: „Gott mit uns.“ Kaum zu fassen, dass damals die Soldaten unter Berufung auf Gott in den Krieg zogen.

Von den Vorfahren mütterlicherseits ist nur wenig überliefert. Meine Mutter Elisabeth geb. Franz wurde am 15.08.1914 in Huchhemmel bei Üttfeld geboren. Ihr Vater Michael Franz war Landwirt und hatte 1912 Maria geb. Norta aus Lichtenborn geheiratet. Aus der Ehe gingen vier Töchter hervor, außer meiner Mutter noch Katharina, Veronica und Maria. Auch diese Familie hatte es während der Kriege sehr schwer. Im Ersten Weltkrieg musste Opa Michel in einer Sprengstofffabrik in Hallschlag arbeiten, während seine Frau Kinder, Haus und Hof versorgte. Nachdem er sich bei der schweren Arbeit eine Gasvergiftung eingefangen hatte, kehrte er lungenkrank zurück und starb bereits mit 58 Jahren. 1920 zerstörte eine Explosion der dort lagernden, vermutlich 20.000 Giftgasgranaten die Fabrik in Hallschlag. Marei und die Töchter mussten sich also weiter um den landwirtschaftlichen Betrieb und die Selbstversorgung kümmern. In der ganzen Gegend war damals bekannt, dass die vier Mädchen vom Huchhemmel aus dem Hause Franz eine ganz besondere Truppe bildeten. Sie arbeiteten mindestens so gut wie die Männer; selbst die 50 kg schweren Getreidesäcke schleppten sie. All dies bestätigte der alte große Bauer der Region, M. H. senior aus Üttfeld, auf dessen Hof die Mädchen vom Huchhemmel auch aushalfen – so die familiäre Überlieferung.

Schrecken des Krieges


Im Zweiten Weltkrieg wurde der äußerste Westen Deutschlands, zu dem Lützkampen und die Westeifel zählen, als „Rote Zone“ bezeichnet – in Anlehnung an die „zone rouge“, die in Frankreich die Gebiete bezeichnete, die die Hauptkampfzonen des Ersten Weltkrieges darstellten und zu großen Teilen...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-10 3-7597-8961-7 / 3759789617
ISBN-13 978-3-7597-8961-7 / 9783759789617
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