Freud und Leid -  Károly Gerner

Freud und Leid (eBook)

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2024 | 1. Auflage
124 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-5521-6 (ISBN)
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'Während ich Uschi immer noch an beiden Händen fest halte, versuche ich, durch Worte, Küsse auf ihre Stirn oder einem Hin- und Herschwingen unserer Arme und Beine, ihr ein Schmunzeln zu entlocken. Das gelingt mir auch ziemlich oft, denn sie verfolgt aufmerksam das Geschehen im Spiegel. Abwechselnd schaut sie mir dabei ebenso fragend ins Gesicht. Und wenn jemand vom Dienstpersonal vorbeikommt, was häufig zutrifft, erhält sie meist noch extra Streicheleinheiten auf ihre Wangen und wir beide ein freundliches Lächeln.' Es hat ganz schleichend begonnen, jetzt sind sie darin unwiderruflich gefangen. Der Autor beschreibt das Leben mit seiner Frau und ihrer Krankheit. Er schildert in starken Bildern den Alltag mit Uschi, die Höhen und Tiefen, die Tragik, die Sorgen, aber auch die kleinen Freuden, das leise Glück, die das Leben immer noch birgt. Dabei bleibt er stark und geht aufrechten Hauptes gemeinsam mit ihr durch Freud und Leid. - Ein Buch, das nachdenklich stimmt und Mut macht. Heike Deschle

Károly Gener wurde 1936 als sechstes von acht Kindern katholischer Eltern in Ungarn geboren. Der gelernte Elektromonteur und Filmvorführer studierte Pädagogik und arbeitete später als Lehrer an verschiedenen Bildungsstätten, insbesondere für Ingenieur- und Kulturwissenschaften. K. Gerner ist seit 1957 verheiratet und Vater von fünf Kindern. Er ist Autor mehrerer Publikationen, darunter des sozialkritischen Buches 'Offenbarung' sowie einer Autobiografie mit dem Titel 'Des Teufels Dutzend'.

I


Sie lauert überall. Wen sie einmal ms Visier nimmt, hat bisher zeitlebens kaum eine Chance, ihr zu entkommen. Allein in Deutschland sind es gegenwärtig mehr als 1,8 Millionen überwiegend sehr betagter Köpfe, denen sie den Verstand raubt. Und deren Zahl steigt täglich.

Seit einiger Zeit ist allerdings zu beobachten, dass sie auch Personen jüngeren Alters zunehmend befällt. Bundesweit sind dies bereits über hunderttausend Geschöpfe zwischen 45 und 65 Jahren. Es handelt sich um eine neue Volkskrankheit.

Kinder und Jugendliche bleiben von ihr zwar nicht gänzlich verschont, aber noch sind es glücklicherweise Einzelfälle, wenn auch überaus bestürzend. Dabei ist gewiss jedem einleuchtend: Wer von ihr befallen wurde, befindet sich in einer üblen Lage. Das ist immer tragisch. Aber wenn es junge Leute erwischt, die ja fast noch ihr ganzes Leben vor sich haben, dann handelt es sich um einen besonders verhängnisvoller Schicksalsschlag.

Entschieden häufiger plagt sie indes bejahrte Menschen, die unbemerkt in ihre Fänge geraten, darunter mehr Frauen als Männer, etwa im Verhältnis von zwei zu eins.

Sie ist unbarmherzig. Betroffene leiden unter ihr meist bis zum letzten Atemzug. Deren Martyrium ist oftmals ausgedehnt. Es währt nicht selten zehn und mehr Jahre.

Dabei erscheint sie leise und bleibt lange unerkannt, obwohl sie sich gezielt ms Hirn bohrt, dort fest einnistet, allmählich die Nervenzellen tötet und somit die Grundlage des Geistes vernichtet.

Bisher vermag es keine Macht der Welt, ihr Paroli zu bieten, geschweige denn, sie zu besiegen. Man ist ihrem skrupellosen Treiben im wahrsten Sinne ohnmächtig ausgeliefert. Ihre einzige Bestimmung besteht darin, den vermeintlichen Kronen der Schöpfung Leid und Schmerz zuzufügen.

Hm und wieder vernehme ich bereits ihren bedrohlichen Gesang: „Warte, warte noch ein Weilchen! Bald komme ich auch zu dir ..."

Natürlich ängstigt mich das. Wer wollte es mir verdenken? Weiß ich doch zur Genüge, was es bedeutet, von diesem unberechenbaren Biest heimgesucht zu werden.

Falls es mich tatsächlich mal erwischen sollte, werde ich auf Gedeih und Verderb deiner wohlvertrauten Zuwendung ausgeliefert sein, meine liebe Uschi, mehr denn je auf deine Güte und Herzenswärme bauen. Dabei wirst du Geduld brauchen, unendlich viel Geduld.

Infolge meiner zunehmenden Hilflosigkeit wird sich dein Seelenleid verstärken, und du wirst oftmals tränenfeuchte Augen haben oder gar im Stillen bitterlich weinen.

Eigens darin äußert sich das Phänomen dieser überaus heimtückischen Krankheit, namens Demenz, dass Angehörige nicht selten viel stärker darunter leiden als die davon Befallenen.

Nur die wenigsten Opfer wollen anfangs wahrhaben, was mit ihnen geschieht. Und später können sie es nicht mehr. Insofern dürfte die Dunkelziffer wesentlich höher liegen, als laut Statistik offiziell bekanntgegeben.

Wenn ich dement bin, wird sich im Laufe der Zeit meine Verwirrtheit deutlich steigern. Dabei spielt es keine Rolle, wer ich früher war, wie ich mein Leben gestaltete. Ich werde schließlich ein geistiges Wrack sein, absolut unfähig, den Rest meines irdischen Aufenthaltes auch nur annähernd sinnvoll zu bewältigen.

Ungeachtet dessen zweifle ich keine Sekunde daran, dass du bewundernswert fürsorglich für mich da sein wirst, mein wahrer Schatz. Und wie ich dich kenne, gehst du dabei zuweilen bis an die völlige Erschöpfung.

Doch sei auf der Hut! Sobald du merkst, dass sich deine Kraft dem Ende neigt oder gar das Nervenkostüm zu bersten droht und du am Verzweifeln bist, spätestens dann, aber wirklich allerspätestens dann brauchst du professionelle Unterstützung. Es ist doch niemandem geholfen, wenn du während der belastenden Fürsorge selbst zugrunde gehst, eine fraglos reale Gefahr.

Bei aller Kritik, die immer wieder aufflammt, verfügen wir hierzulande doch über ein Gesundheitssystem, von dem manch andere Völker kaum zu träumen wagen. Man sollte ab und an auch das Positive herausstellen. Und gerade im Hinblick auf solcherart Krankheiten gibt es gottlob allerlei Hilfsangebote, die redlich genutzt werden können. Wunder sind dabei freilich nicht zu erwarten, aber spürbare Erleichterungen schon.

Sicher, wir haben liebe Kinder. Und sie tun auch, was sie können. Doch sie alle stehen noch in Lohn und Brot. Zudem wohnen sie nicht gerade in unmittelbarer Nähe. Im Übrigen wollen wir sie nicht mit einer direkten Pflege ihrer Eltern belasten, ihnen diese schwere Bürde möglichst ersparen, auch wenn sie bereits im Rentenalter wären. Geschulte Fachkräfte stecken derart mühsame Pflichten sicherlich leichter weg als die nächsten Familienangehörigen. Zudem werden sie dafür entlohnt und müssen nicht gebeten werden.

Oh ja, wir meisterten unser Zusammensein über viele Jahrzehnte hinweg weitgehend souverän, tigerten gemeinsam durch mancherlei Höhen und Tiefen des partnerschaftlichen Alltags. Und zugegeben: Ein erfülltes Rentnerdasein stellten wir uns einst wahrlich anders vor. Doch unsere menschliche Existenz verläuft nicht ausschließlich nach Wunschvorstellungen. Bisweilen gibt es harte Schicksalsschläge, die eben nicht immer nur andere treffen können. Manchmal müssen wir auch selbst daran glauben. So war ich vor Jahren von einem heimtückischen Krebs befallen worden. Aber der Bösewicht wurde gottlob besiegt. Im Vergleich dazu ist gegen Demenz anscheinend noch kein Kraut gewachsen.

Falls ich dement bin, dürfte sich vermutlich unser Alltag im Detail etwa wie folgt zutragen:

Mein auffallend eigenwilliges und gleichermaßen unwägbares Verhalten wird man gelegentlich mit dem eines Kleinkindes vergleichen und bisweilen sogar gleichsetzen. Aber dies ist leider ein Trugschluss, denn während es mit der Entwicklung des Kindes in jeder Hinsicht aufwärtsgeht, wird es bei mir genau umgekehrt verlaufen.

Es dürfte öfters vorkommen, dass du in unserer Wohnung bestimmte Dinge nicht mehr an ihrem gewohnten Platz findest oder übliche Abläufe gestört erscheinen. Und wenn du mich danach fragen solltest, warum das so ist, könnte meine Standardantwort lauten: „Ich war das nicht!“ Nimm es bitte gelassen, denn dahinter verbirgt sich kein Schabernack und erst recht keine böse Absicht. Es ist nur eine Art Schutzreaktion, die ich gegebenenfalls zwangsläufig fest verinnerliche.

Auch solltest du bei mir fortan streng auf Hygiene achten, damit ich körperlich sauber bleibe, wie ich es ehedem stets gern mochte, indessen allein immer weniger dazu in der Lage sein werde.

Sprich bitte langsam und in kurzen Sätzen mit mir. Und schau mir dabei in die Augen. So verstehe ich viel besser, was du sagst.

Du wirst generell sehr behutsam mit mir umgehen müssen, damit ich noch etwas Freude am Leben empfinde und nicht boshaft werde. Falls ich dich trotzdem mal anfauche, so nimm es nicht persönlich, denn ich will dir bestimmt nicht wehtun.

Mein Interesse am öffentlichen Geschehen wird ebenso nachlassen wie die zuvor intensive Pflege der Kontakte zu unseren Freunden. Allein im engsten Familienkreis werde ich mich noch halbwegs wohlfühlen und bestenfalls das warmherzige Verhältnis zu unseren außerordentlich hilfsbereiten Wohnungsnachbarn, dem Ehepaar Türk, bewahren wollen.

Ich weiß, diese wachsende Isolierung von der Außenwelt, insbesondere von langjährigen Bekanntschaften, wird dir stark zu schaffen machen. Doch es muss wohl so sein, einzig geschuldet unserer neuen Situation. Nicht zuletzt auch deshalb, weil dich meine Notlage allmählich rund um die Uhr beanspruchen wird. Für deine persönlichen Belange wirst du in dem Maße etwas Muße finden, wie sich mein Schlafbedürfnis erhöht. Und das wird tatsächlich enorm zunehmen. Lass es geschehen und sorge dabei ausnahmsweise nur für dich!

Fremde Hilfe werde ich einstweilen sicherlich strikt zurückweisen, mich jedoch auch damit irgendwann abfinden. Schließlich muss ich gewiss nicht extra betonen, dass mir deine liebevollen Umarmungen auch künftig ebenso guttun werden wie deine wundervolle Fähigkeit, mir des Öfteren ein befreiendes Lächeln ms Gesicht zu zaubern oder einfach meine Hände in deine zu nehmen.

All das vermag ich bestimmt auch fernerhin spürbar zu genießen, selbst wenn mein Gedächtnis unaufhaltsam dahinsiecht. Nach einiger Zeit werde ich nämlich außerstande sein, mir etwas länger als auch nur eine Minute zu merken, wenn überhaupt. Was ich frage und erzähle, werde ich ständig wiederholen und dabei nicht selten auch wirres Zeug reden. Nimm es hin, denn ich kann nicht mehr anders. Von meiner früheren Persönlichkeit wird bald nicht mehr viel übrig bleiben. Sie schmilzt unweigerlich dahin – bis der Tod mich endgültig ereilt und uns schließlich scheidet.

Man wird dich vielfach bedauern. Du hingegen wirst tapfer bleiben und nicht wehklagen, was auch deinem Naturell widerspräche. Dessen bin ich mir sicher, wie aufreibend auch manche Stunden und...

Erscheint lt. Verlag 28.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-10 3-7597-5521-6 / 3759755216
ISBN-13 978-3-7597-5521-6 / 9783759755216
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