Und nun bin ich ganz allein

Das Kriegstagebuch von Klara Mehlich Seuffert von 1940 - 1944

Clare Westmacott (Herausgeber)

Buch | Softcover
300 Seiten
2024
Frauenzimmer (Verlag)
978-3-937013-74-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Und nun bin ich ganz allein -
15,90 inkl. MwSt
Einleitung von Clare Westmacott

Meine Großmutter Klara Mehlich Seuffert hat dieses Tagebuch von Dezember 1940 bis November 1944 geschrieben, während sie in Köln und der Umgebung lebte. Sie schrieb es für meine Mutter Lotte, die den Engländer Jack, meinen Vater, geheiratet hatte und in England wohnte. Die Aufzeichnungen beschreiben Klaras Leben während der Kriegsjahre, und meine Großmutter hoffte, dass, wenn es ihr nicht möglich sein sollte, meiner Mutter das Tagebuch persönlich zu geben, es auf anderem Weg eines Tages in deren Hände gelangen würde. Beide haben den Krieg überlebt, und irgendwann bekam ich das Tagebuch.
Meine Großmutter hatte einen schillernden familiären Hintergrund. Sie wurde 1889 geboren, als Kind einer Bauerntochter, die – so die Familienlegende – mit einem Kunstreiter durchgebrannt war, während der Zirkus in ihrer Stadt gastierte. Als Kind reiste meine Großmutter ausgiebig in Städte überall in Europa, darunter Sankt Petersburg und London. Ihre Familie war groß und sie verlor mehrere Brüder im Ersten Weltkrieg.

Inhalt:
Einleitung 5
Das Tagebuch von 1940 bis 1944 von
Klara Mehlich Seuffert 13
Menschen und Orte aus dem Tagebuch 249
Die späteren Jahre Klaras und ihrer Familie 253
Meine Erinnerungen an Klara 259
Danksagung 296

10. Dezember 1940 Und nun bin ich ganz allein. Ja, jetzt hat man auch Walter geholt. Trotzdem man ihm immer und immer wieder versichert hat: Sie als Ersatzmann 2 kann man bei uns nicht brauchen. Aber nach einem halben Jahr, neue Musterung und Walter wurde Ersatz 1, da wurde es auch noch weit weit fortgewiesen. Aber ich dachte mir schon meinen Teil. Nur, die Jungen antworteten mir auf meine stille Frage: Nein, Mutter, wir sind noch lange nicht dran, erst komme ich, sagt Röbi, und ich war gestern auf dem Wehramt und da sagte man mir: Sie haben noch lange Zeit, Sie können ruhig Ihr neues Semester anfangen, man braucht Sie noch nicht. Ja, Mutter sei ruhig, bis wir drankommen ist der Krieg vorüber und Walter kommt überhaupt nicht dran. Also gingen beide weiter ihrem Studium nach. Walter zur Uni, Röbi zur Akademie. Walter belegte Jura in Köln, nachdem seit Kriegsausbruch Bonn geschlossen worden war. Röbi war Prof. Junghans‘ jüngster und bester Schüler und jeder, der etwas von Malerei versteht, verspricht ihm eine große Zukunft. Ja, wenn der Krieg, dieser unselige Krieg, vorbei ist. Ja, Liebchen, wann mag das sein. Gott weiß es wohl ganz allein, und er ließ ja dem Menschen seinen freien Willen. Und nun kommen wieder die Ferien, wieder war es August und schon bald hatten wir ein Jahr Krieg. Ja, Liebchen, es war schon ungefähr ein Jahr, seit wir Abschied voneinander nahmen, der mir so bitter und schwer wurde, und wie oft habe ich mir schon die Frage vorgelegt: Wann sehe ich mein heißgeliebtes Kind wieder, ja, sehe ich sie überhaupt wieder. Manchmal sieht alles ja so bitter und schwarz aus, dass man meinen muss, nein, es kann nie und nimmer wieder gut werden, diese beiden Völker werden sich nie wieder achten lernen können. Aber was dann? Was soll denn dann aus uns werden, werde ich dann jemals mein Lottenkind wiedersehen? So, in diesen Augenblicken schwand mir aller Lebensmut und in diesen Monaten richteten mich nur Pflicht, und Röbis unerschöpflicher Humor, Walters überzeugender Optimismus wieder hoch. Ja, und trotz aller Versicherungen der beiden konnte ich nicht froh werden. Doch die Pflicht nahm viel Zeit in Anspruch, da kommen alle diese großen und kleinen Einschränkungen, da gab es mal vorerst alles auf Marken, sogar Kleiderkarten, keine Schuhe, und meine Söhne hatten meist ja nur das Paar, das sie trugen, dank der Freigiebigkeit ihres „Alten Herrn“, der diese Dinge ja noch nie für notwendig gehalten hatte und wo es schon in normalen Zeiten einen tollen Kampf zu bestehen gab, wenn ich für dich oder die Jungen etwas haben musste. Für alles gab es Ersatz. Toilettenseife war nicht mehr zu haben, nur ein Ersatz, bestehend aus Bims und einem Zeug und ebenso für die Wäsche und alles auf Karten. Lebensmittel ebenfalls, Kaffee gar keinen, Butter wenig, Ja, was soll ich sagen, alles zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Fett und Fleisch wurden immer weniger und so weiter und so weiter. Kartoffel hatten wir keine eingekellert, weil uns versichert wurde, es wären genug da, dann kam der Frost, und was nicht erfror, das musste für das Militär sichergestellt werden. Was war da zu machen! Ohnehin sehr wenig, waren Kartoffel doch das wichtigste, was man brauchte, um satt zu werden. Da wusste ich mir nur den einen Rat, sehen wo ich was bekam. In der Stadt bekam ich nichts, also aufs Land. Nicht umsonst hatte ich mir bei meinen jahrelangen Wanderungen Freunde auf dem Lande erworben. Die mussten mir helfen und da bin ich denn oft von Türe zu Türe gelaufen und habe sie gebeten, mir doch das Notwendige zu verkaufen. Oft vergebens. Oft auch mit Erfolg. Meist gegen Bezahlung, vielteils aber auch nur gegen Tausch. Und da habe ich meine Mottenkiste zu Hilfe genommen und habe den Bauern alles gebracht, was ich hatte, dann bekam ich Eier und Kartoffel, Obst, auch schon mal Geflügel, und so lief ich dann von Woche zu Woche aufs Land tief hinein ins Bergische zu einsamen Höfen und holte alles, was ich kriegen konnte, so verging der Winter und so bekam ich dann auch oft so viel, dass ich anderen Leidensgefährten helfen konnte. Meist half ich Familie Reinemann. Bully ist auch schon oft mit mir gelaufen. Im Rucksack haben wir die Kartoffel geschleppt. Ja, mit Bully und ihrer Mutter verband mich eine innige Freundschaft und oft in der Woche war ich bei ihnen und wir schütteten uns gegenseitig unser Herz aus, verbanden uns ja gemeinsame Sorgen, und ich habe mir oft dort Trost geholt. Im Frühjahr gab es nun wieder mehr Eier, ich kaufte alles was ich kriegen konnte. Eier, die übrig waren, legte ich ein. Denn niemals glaubte ich, was man mir immer wieder sagte: der Krieg wäre in ganz kurzer Zeit aus. Nach den tollen Siegen müsse der Tommy klein beigeben. Nein, das glaubte ich niemals und dann hatte ich leider recht, auf einmal hieß es: Der Krieg dauert noch lange und so war es. Inzwischen ist Sommer geworden, ich ging in den Wald, suchte nur dort in der Einsamkeit Trost. Jetzt ging ich meist allein, hin und wieder ging Röbi einmal mit, aber lange hielt seine Begeisterung nicht an. Auch Walter bekam öfter Lust, aber dann war ich wieder allein. Inzwischen kam die Erntezeit. Waldbeeren habe ich gesucht, habe sie eingesammelt für den Winter. Wie oft war ich im tiefen herrlichen deutschen Wald und gedachte deiner und dachte weiter, wie schön es sein könnte, wenn die Menschen es wollten. Aber sie wollen nicht und so wird es wohl sein, solange es Menschen gibt. Mit meinen Waldbeeren habe ich dann auch meine Freunde versorgt. Ja, und so kam dann auch bald der Herbst, ein Tag verging wie der andere, keine Nachricht von dir. Am Abend warteten wir dann auf unsere Freunde jenseits der Nordsee und so ging es weiter. Walter war in den Ferien als Werkstudent tätig. Röbi war meist zu Hause und studierte hier. Er malte sehr schöne Bilder von mir und war auch sonst sehr fleißig. Ich war glücklich, ihn noch hier zu haben. Biba war längst fort, kam öfter auf Urlaub, war ein lieber Kerl. Karl Floeck war von Anfang an in allen Kämpfen und hatte schon vorher jahrelang Dienst gemacht. Herr Forschbach ist auch schon lange Soldat, ja, alle meine Wanderbekannten sind alle Soldaten, haben alle viel mitgemacht und wünschen alle dasselbe, dass es doch bald vorbei sein möge. Liesel ist von Anfang an in Stellung bei der Wehrmacht und nun muss Bully auch fort. Unsere gemeinsamen Abende und Nachmittage, wo wir zusammen mit ihrer Mutter bei ihr meist zu Hause Freud und Leid teilten, Handarbeiten machten, Vermutungen austauschten, über die Zeit und ihre Übel diskutierten, gingen vorbei, aber nicht der Krieg. Der Herbst kam und für den kommenden Winter musste gesorgt werden und wir taten es, so gut es in unserer Macht lag. Und dann kam, was ich so lange fürchtete: Röbi bekam seine Einberufung, auf seinen Geburtstag bekam er seine Gestellung, dass er sich am 5. Oktober bereit zu halten habe. Wie furchtbar war mir das. Alles hätte ich gerne ertragen, aber auch das musste sein. So oft habe ich mir schon gesagt: Warum muss es denn sein. Warum. Ich denke zurück, wie meine liebe Mutter dieselbe Frage tat und ich mir sagte: Diesen Schmerz wirst du mal nie mitzumachen brauchen, denn nach dem Weltkrieg hieß es: Nie wieder Krieg! Und davon war man damals überzeugt. Und jetzt! Nein es ist nicht auszudenken. Wenn ich jemals davon überzeugt gewesen wäre, dass dieses Leid wieder über die Menschheit gekommen wäre: Nein Lotte, dann hätte ich dich niemals nach England gehen lassen, denn wenn es mir auch nicht leid tut, dass du dort die Verbindung mit deinem lieben Mann eingegangen bist, würde ich es doch verhindert haben. Es ist zu schwer, all diese Ungewissheit zu ertragen, zu wissen, dass dort ein heißgeliebtes Kind sich genau dieselben Sorgen macht wie ich hier, nicht zu wissen, ob man sich je wiedersieht. Ja, Lotte, es ist furchtbar. So, nun zurück zu Röbi. Röbi hatte zuletzt schon manchen schönen Auftrag und sich viel Geld verdient und hätte noch manches verdienen können. Aber wenn jeder malt, kommt es anders als ich möchte und Röbi wurde aus seiner Arbeit herausgerissen, er musste fort. Wir kauften ihm alles Notwendige von seinem verdienten Geld. Hemden, Strümpfe, Brieftasche, eine sehr schöne Armbanduhr und alles, was er brauchte, und dann kam der Abschied. Er war sehr sehr schwer. Walter brachte ihn fort. Ich konnte mich nicht fügen und es dauerte sehr lange, bis ich so weit war. Röbi war bei der schweren Kavallerie. Er hatte schon bald Unglück. Bei einer Übung stürzte er so unglücklich, dass er die Kniescheibe verletzte und ins Lazarett musste. Wie er gesund war, musste er wieder in Dienst, und nicht lange, da hatte er das Unglück, dass er vom Pferd stürzte, im Steigbügel hängen blieb, mitgeschleift wurde. Das Ende war, ins Lazarett im Gips, denn nun hatte er beide Kniescheiben heraus und musste nun längere Zeit liegen. Er konnte nun nicht mehr ins Feld und ich hatte die Hoffnung, ihn wiederzubekommen. Aber das musste ich mir bald aus dem Kopf schlagen. Röbi war zwar nach seiner Entlassung aus dem Lazarett nicht mehr „felddienstfähig“ aber doch „garnisonsdienstfähig“, und so blieb er. Doch dafür kam ein neuer Schlag. Walters Einberufung! Ja, ich tröstete mich mit vielen Müttern, die ihre Söhne ja schon so lange hergeben mussten, es blieb mir auch nichts anderes über. Und nun musste Walter am 10. Dezember auch fort. Ja, Kind, was soll ich sagen, es war schwer, und wieder muss ich mich gewöhnen. Ich denke oft zurück an die Tage in England bei dir, wenn ich dir sagte: Wenn es Krieg gibt, dann ist es für eine Mutter am schwersten. Du meintest damals: Nein für mich wird es viel viel schwerer. Ja, Liebchen, heute kann ich mir zwar bestimmt denken, dass es furchtbar schwer sein muss, im fremden Land zu leben, sich um seine Lieben daheim zu sorgen, Vieles zu hören, nichts sagen zu dürfen, nichts zu hören von daheim, aber Lottenkind, seine Kinder eins nach dem andern abgeben zu müssen, in jeder Ecke von der Welt eines zu wissen, aber nicht wissen, ob und wann ich mal wieder vereint mit ihm bin. Ich glaube bestimmt das ist schwer, sehr schwer, zumal man kein Ende sieht. Trotzdem klammere ich mich mit aller Kraft an die Hoffnung, dass alles einmal zu Ende geht und wir alle wieder vereint werden. Ja, Liebchen, warum haben die Menschen es alle so schwer. Ich nehme, wo ich alleine bin, wieder Englisch. Meine Lehrer sind zwei junge Leute. Einer ein Engländer, ein junger Mann in deinem Alter. Ich erzähle ihm mein Leid, er mir seins. Er hofft, recht bald seine lieben Eltern wiederzusehen, und tut nun alles und hofft zuversichtlich, dass bald alles vorbei sein möge. Der andere ist ein amerikanischer Ingenieur, studierte hier und lebt in Südafrika, er ist seiner Mutter jüngster Sohn und hat seit einem Jahr nichts mehr von seinen Eltern gehört. Du siehst, alle haben Leid und alle hoffen, dass all das Furchtbare vorüber möge gehen. Ja, Liebchen jetzt habe ich dir alles Zurückliegende in groben Zügen geschildert, denn alles, was man mitmacht, kann man ja nicht zu Papier bringen und will ich auch nicht. Nur möchte ich, dass du einmal imstande bist, wenn du dieses Buch liest, dir ein Bild zu machen, wie wir gelebt haben wie wir alle täglich, nein stündlich an dich gedacht haben, immer um dich gebangt haben! Aber auch sollst du wissen wie wir gelebt haben. Es könnte ja sein, dass wir nicht mehr zusammenkommen, dann ist es vielleicht möglich, dass ein Anderer dir diese Zeilen zukommen lassen kann. Doch nun habe ich am 10. Dezember angefangen, dieses alles aufzuzeichnen, am Tage, wo ich gerade Walter abgab. Ich will nun alles, was wert ist aufzuzeichnen, dir mitteilen in der Hoffnung, dass ich alles einmal selbst dir erzählen kann. Wenn nicht, ja Liebchen, dann ist es zwar nicht mein, sondern Gottes Wille, worin wir uns ja alle fügen müssen. Anmerkung von Clare Westmacott: Biba war Röbis bester Freund. Karl Floeck war ein Nachbarjunge. Liesel und Bully waren Freundinnen meiner Mutter Lotte.

Erscheinungsdatum
Verlagsort Laubach
Sprache deutsch
Maße 125 x 190 mm
Gewicht 435 g
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Schlagworte Blog • Clare Westmacott • Frauenschicksal • Frauenzimmer Verlag • Klara-Lotte-Clare • Klara Mehlich Seuffert • Köln • Krieg • Kriegstagebuch • Robert Seuffert Maler
ISBN-10 3-937013-74-1 / 3937013741
ISBN-13 978-3-937013-74-9 / 9783937013749
Zustand Neuware
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