Humboldthain (eBook)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
308 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-6248-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Humboldthain -  Inka Parei
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Im Zentrum Ostberlins finden Bruno, Ina und ihr Sohn Julius in den Neunzigerjahren ihr Zuhause. Aber der Freiraum, der sich für sie dort aufgetan hat, schließt sich bald wieder. Brunos Leben wird unübersichtlich, er verstrickt sich in Lügen, strauchelt privat wie beruflich und verlässt die Stadt.Anderthalb Jahrzehnte später vermittelt eine Familienberaterin ein Treffen, das ihn mit Frau und Kind wieder zusammenbringen soll. Im Humboldthain, einem zentralen Ort seiner Kindheit.Doch die Begegnung auf einer Anhöhe in der Nähe des ehemaligenFlakbunkers im Park verläuft anders als erwartet. Eine fremde Frau taucht auf, die Motive der Beraterin sind uneindeutig, Ina kommt nicht. Die Situation spitzt sich zu, als Bruno mit Julius den Bunker aufschließt und die beiden Frauen ihnen folgen.In Humboldthain erzählt die gefeierte Romanautorin Inka Parei luzide und eindringlich davon, wie die Aussöhnung einer Familie von den Folgen der deutschen Nachkriegsgeschichte immer wieder durchkreuzt wird.

Inka Parei wurde 1967 in Frankfurt am Main geboren und lebt in Berlin. Ihre Werke handeln von geschichtstra?chtigen Orten und fragi­len Lebensla?ufen. Schon ihr erster Roman Die Schattenboxerin wurde mit dem Hans-Erich-Nossack­-Preis ausgezeichnet und in 13 Sprachen u?bersetzt. Fu?r Was Dunkelheit war erhielt sie 2003 den Ingeborg­-Bachmann­-Preis und zahlreiche weitere Aus­zeichnungen. Zuletzt erhielt sie das New­-York-­Stipendium des Deutschen Literaturfonds.

Inka Parei wurde 1967 in Frankfurt am Main geboren und lebt in Berlin. Ihre Werke handeln von geschichtsträchtigen Orten und fragi­len Lebensläufen. Schon ihr erster Roman Die Schattenboxerin wurde mit dem Hans-Erich-Nossack­-Preis ausgezeichnet und in 13 Sprachen übersetzt. Für Was Dunkelheit war erhielt sie 2003 den Ingeborg­-Bachmann­-Preis und zahlreiche weitere Aus­zeichnungen. Zuletzt erhielt sie das New­-York-­Stipendium des Deutschen Literaturfonds.

New York, Greenwich Village

Also fange meinetwegen ich an. Ich erzähle euch, wie ich vor ein paar Wochen in Manhattan auf einer Parkbank saß. Ich glaube das ist mein entscheidender ­Moment, mein Tag. Und danach suchen wir ja jetzt, oder? Ihr seid dann nach mir dran.

Damals wusste ich genau, dass ich mich im Kreis drehe. Ich hatte schon viel zu lange überlegt, wo ich beginnen sollte. Wie ich das, was passiert war, in meinem Kopf ordnen sollte. Mit geschlossenen Augen sah ich alles wieder vor mir: den Fußboden. Er war aus Holz. Quadrate, ein schmutziges, fast schwarzes Braun. Das riesige Wohnzimmer, in dem nur ein wackliges Regal stand und ein schwarzes Kunstledersofa. Die Küche. Den kleinen Raum, in dem ich geschlafen hatte.

Drei Monate lang war ich hier jeden Morgen aufgewacht. In den ersten Tagen lange vor der Zeit. Ich hatte durch das Fenster gesehen, wie der Himmel sich aufhellt. Dünne, alte Panoramascheiben, an denen der Wind rüttelt und auf denen sich über Nacht, wie im Badezimmer meiner Kindheit in Berlin, Eisblumen bildeten. Anschließend hatte ich mir meine Notizen vom Vortag angesehen und etwas später in einem kleinen Laden, der zwei Querstraßen entfernt lag, Brot gekauft. Danach hatte ich Spaziergänge gemacht, Museen besucht, Parks, verschiedene Stadt­teile.

Das Haus, in dem meine Wohnung lag, ist ein kantiger schmuckloser Bau aus gelblichem Beton. I. M. Pei hat ihn in den Sechzigerjahren gebaut. Von dort, wo ich jetzt saß, einer Parkanlage am Washington Square, konnte ich ein Stück der Fassade sehen. Es gehört zu einer Gruppe von drei identischen Türmen, die etwas versetzt zueinander auf einem struppigen Rasen stehen. Andere Gebäude in der Nähe sind viel älter, wie das Bayard-Condict Building. Zum Teil sind sie sogar sehr alt, wie das winzige Backsteinhaus, auf das ich vom zehnten Stock aus immer he­runtergeblickt habe. Dennoch wirken sie nicht aus der Mode gekommen, im Gegenteil. Sie sind ein lebendiger und extravaganter Teil der Stadt. Der vielfältigen Anstrengungen, die sie hervorgebracht haben.

Anders diese drei Hochhäuser. Es muss die Idee des Erbauers gewesen sein, Gebäude zu errichten, die sich nicht hervortun. Die so unscheinbar sind, dass man sie bewohnen kann, ohne ihre Existenz richtig wahrzunehmen. Mich zogen diese Schlichtheit und Unauffälligkeit auf besondere Art und Weise an, und ich fühlte mich die ganze Zeit, die ich hier war, wohl.

Die Bedrängnis, in der ich mich jetzt befand, war nur auf den ersten Blick etwas Willkürliches, von außen Kommendes, das ahnte ich. Der Blick des Mannes in der blauen Uniform hatte sich verfinstert. Desselben Mannes, der mir noch ein paar Stunden vorher freundlich zugezwinkert hatte. Nicht nur einmal, sondern jedes Mal, wenn ich, während er Dienst hatte, aus dem Fahrstuhl getreten und auf die Drehtür zugelaufen war. Oder wenn ich umgekehrt, von der Houston Street kommend, auf dem großen Gelände schon von Weitem gut sichtbar, zu meiner Wohnung zurückgekehrt war. Sein Name war Paul. In letzterem Fall hatte Paul für mich immer den Öffner der kleinen Tür neben der Drehtür betätigt, sodass ich, ohne meinen Schritt zu verlangsamen, eintreten konnte. Ganz egal, womit er gerade beschäftigt war, das Entgegennehmen von Schlüsseln und Papieren, Gespräche mit Handwerkern oder private Lektüre, ihm entging nichts. Dann hatte sich folgende Szene abgespielt: Ich hatte mich soeben, seine Unfreundlichkeit ignorierend, hinter einem älteren Mann, wahrscheinlich Unidozent, und einer Frau mit einem kleinen Kind und zwei prall gefüllten Trader-Joe’s-Tüten dem linken der beiden Aufzüge zugewandt, als Paul mir plötzlich quer durch die Halle zurief:

Mister! I want you to leave this place. You are not welcome anymore.

Ich hatte zuerst gedacht, ich hätte mich verhört. Mein Englisch ist eigentlich ganz gut. Trotzdem kommt es manchmal vor, dass ich einfache Sachverhalte nicht verstehe. Es muss bloß um mich herum zu laut sein, jemand spricht schnell oder ich bin erschöpft.

Aber es war kein Irrtum. Er öffnete die Pforte neben der Empfangstheke, schloss sie sorgfältig wieder hinter sich und kam direkt auf mich zu. Dicht vor mir blieb er stehen. Eine kurze Pause entstand. Es war ein Augenblick, in dem ich plötzlich alles um mich herum mit großer Genauigkeit wahrnahm: die elektrischen Kerzen an dem großen Plastikweihnachtsbaum, der ein paar Tage zuvor in der Eingangshalle aufgestellt worden war, die Schließfächer in den beiden Nischen links und rechts der Eingänge, die vielen Kratzer an den Aufzugtüren. Ganz kurz kam es mir so vor, als wäre ich in der Lage, all diese unzähligen kleinen Dinge auf einmal zu erfassen. Ein grandioses Gefühl, aber es machte mich misstrauisch. Die Situation, in der ich es schon mal empfunden hatte, stieg wieder in mir auf. Sie lag lange zurück, erinnerte ich mich, und es war keine besonders gute gewesen.

Ich holte tief Luft und hielt den Schlüssel zur Wohnung krampfhaft in meiner Hand verborgen. Er war klein, messingfarben und an den Kanten schon reichlich abgewetzt. Paul begriff sofort, dass ich jetzt zu irgendwelchen Erklärungen ansetzen würde, und ein genervter, fast angeekelter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Doch das hielt mich nicht davon ab, draufloszureden. Endlos lange und ohne dass es etwas nutzte.

Wie die zwei von Paul herbeigerufenen Männer aus­sahen, die mich kurz danach von hinten an den Schultern packten, mir den Schlüssel aus der Hand wanden und mich aus der Empfangshalle schleiften, habe ich schon gar nicht mehr mitbekommen. Sekunden später stand ich bereits draußen auf dem großen Platz vor den drei Gebäuden. Und erst da setzte mein Bewusstsein wieder ein, ruckartig und viel zu schnell. Ich machte ein paar rudernde, hilflose Bewegungen. Wie ein Gefangener, den man unerwartet freigelassen hat und der von seiner Freiheit überfordert ist. Dabei blinzelte ich hoch zum Himmel, und meine Augen fingen sofort an zu tränen. Das ist mir während der Zeit in New York ständig passiert. In den ersten Tagen dachte ich noch, es würde am Jetlag liegen. Aber auch danach zerrten das grelle Licht und der scharfe Wind an meinen Augen und machten sie von Tag zu Tag empfindlicher. Es gab während meiner Zeit dort oft klaren blauen Himmel und viel Sonne, manchmal auch Sturm und Regen. Aber niemals vagen Dunst, wie ich ihn aus Europa kenne. Überhaupt keine milden Zwischenzustände.

In der Mitte des Platzes zwischen den drei Häusern steht eine graue, ziemlich hässliche Skulptur von Picasso. Dort ging ich hin, setzte mich auf den Sockel, atmete ein paarmal tief durch und versuchte, mich zu beruhigen. Ich würde in das Gebäude, in dem ich bis eben noch gewohnt hatte, bald wieder zurückkehren. Aber das konnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Jetzt saß ich auf der Bank und fror. Nervös kickte ich mit der Schuhspitze kleine Klumpen Schnee auf den Weg. Es macht mich immer verrückt, wenn Menschen beim ­Reden unsicher sind und dadurch unpräzise werden und ihre eigenen Aussagen ständig abschwächen. Wenn jemand zum Beispiel den Höhepunkt eines Satzes mit »weiß nicht« oder »irgendwie« einleitet oder nach einer glasklaren Aussage anschließend noch ein »und so« hinterherschiebt. Meine Eltern machen das oft. Überhaupt ziemlich viele Leute in eurem Alter. Ist euch das schon mal aufge­fallen? Sie sagen etwas und gleichzeitig verbergen sie es. Ich finde das verwirrend. Beim Zuhören fühle ich mich immer wie auf Schmierseife. Wahrscheinlich bin ich Wissenschaftler geworden, weil man da immer genau sein muss. Allerdings kam ich jetzt selber ins Schwitzen. Wie sollte man nennen, was mir gerade passiert war, war es ein Rausschmiss? Das ergab keinen Sinn.

Ich schüttelte den Kopf und seufzte. Ein etwas zu lauter Seufzer, fast ein kleiner Schrei. Erschrocken sah ich hoch. Eine Frau in Sandalen und Pelzjacke, mit zwei Zwillingsschoßhündchen auf dem Arm, schlenderte dicht an mir vorbei, ungerührt. Während meiner Zeit hier hatte ich oft darüber nachgedacht, wie man beschaffen sein musste, um in dieser Stadt zu leben. Wenn man nicht wohlhabend war, durfte man wahrscheinlich nicht oft krank sein, man musste Körper und Geist immer fit halten. Und gute Organisation war wichtig. Arbeit, Wohnung und Freundschaften, das musste alles stimmen. Wenn man in mehr als einem dieser Bereiche Probleme bekam, geriet die Existenz hier sicher schnell ins Wanken. Und dann konnte man wahrscheinlich nicht darauf hoffen, dass ein günstiger Zufall, ein Mensch, ein Gespräch oder ein unerwartetes Angebot alles wieder herumriss. Abgesehen von der Grünanlage, in der ich jetzt saß, hatte ich während meiner Zeit hier in der Nähe keine Orte gefunden, die man aufsuchen konnte, ohne dort etwas Bestimmtes zu tun zu haben oder Geld auszugeben. Jeder schien immer irgendein Ziel zu haben, niemand bemerkte den anderen, wenn man nicht gerade miteinander verabredet war. Nur die Gestrandeten waren anders. Sie achteten auf alles ganz genau. Vor ein paar Minuten war ein ausgemergelter Mann an mir vorbeigeschlurft, hatte die Abfallkörbe nach Essensresten abgesucht und mich scharf gemustert. Ich hatte mich komplett durchleuchtet gefühlt.

Eine Zeit lang sah ich einfach nur hin zu der Straße, die sich zu meiner Linken jenseits von ein paar kahlen Sträuchern zwischen den Häuserblocks auftat, und zu der Kreuzung dahinter mit dem etwas zurückgesetzt stehenden flachen Gebäude, in dem sich ein Supermarkt befand. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich wollte sie wegwischen, aber dann war ich doch erleichtert über die flüssige Wärme, die meinen Blick überschwemmte und alles in eine wohltuende, schwankende Unwirklichkeit tauchte.

Die Luft um mich herum war noch...

Erscheint lt. Verlag 25.4.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • deutsch-deutsche Geschichte • Familiengeschichte • Familienroman • Flakturm • Generationenroman
ISBN-10 3-7317-6248-X / 373176248X
ISBN-13 978-3-7317-6248-5 / 9783731762485
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