Euch möcht ich alles geben (eBook)

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2024 | 1. Auflage
278 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2537-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Euch möcht ich alles geben -  Jordan T.A. Wegberg
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Ein Mann verliert die Kontrolle über sein Fahrzeug und stirbt bei dem Unfall. Bei der Obduktion wird festgestellt, dass er eine hohe Dosis psychoaktiver Pflanzen im Blut hatte. Bislang lebte der Hobbyangler ein unauffälliges, geordnetes Leben. Wurde er vergiftet? Doch was könnte der Grund sein?

Keine leichte Aufgabe für den Berliner Mordermittler Joris Eichendorf, der sich zudem noch mit einer schmerzhaften Trennung, dem suspekten Freund seiner Tochter und  der theatralisch trauernden Witwe des Todesopfers auseinandersetzen muss. Ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, nicht als 'ehemalige Frau' enttarnt zu werden.

Eichendorf bleibt nur eine Möglichkeit: Er setzt alles auf eine Karte, um den wahren Täter zu entlarven ...

1


Ludger schulterte die Reisetasche, griff mit der freien Hand nach der Angelrute und stieg inmitten einer Schar von Passagieren aus der S 3. Sich zu orientieren, blieb keine Zeit, er wurde einfach weitergeschoben. Der Bahnsteig kam ihm sehr schmal vor für einen der wichtigsten Knotenpunkte der Bundeshauptstadt, doch noch ehe er diesen Gedanken zu Ende geführt hatte, trug ihn die Rolltreppe schon abwärts.

Er war erst zwei-, dreimal im Hauptbahnhof gewesen, das erste Mal kurz nach der Eröffnung, um sich das viel gepriesene architektonische Meisterwerk anzuschauen. Gerade rechtzeitig zur Fußball-Weltmeisterschaft war es fertig geworden. An dem Tag hatte Deutschland gegen Schweden gespielt; er erinnerte sich an eine Flut gelb gekleideter schwedischer Fans, die singend und lärmend über die Gustav-Heinemann-Brücke in Richtung Innenstadt gezogen waren.

Auch heute dominierte Gelb den Blick durch die gläserne Fassade auf den Washington-Platz, doch diesmal war es das Herbstkleid der Bäume entlang der Spree.

Ludger hielt Ausschau nach einer Rolltreppe, die ihn in die nächsttiefere Ebene brachte, entdeckte dann aber einen gläsernen Aufzug, mit dem er die Sache abkürzen konnte. Er quetschte sich hinein und presste die Reisetasche an seine Brust. Im Abwärtsgleiten konnte er die große Uhr vor dem Ausgang sehen: 11 Uhr 21. Er hatte noch genügend Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Trotzdem würden einige seiner Angelfreunde schon auf dem Bahnsteig warten. Hans-Peter wahrscheinlich, der überließ nichts dem Zufall und ging als Vereinsvorsitzender immer mit gutem Beispiel für Zuverlässigkeit voran. Und Uwe. Der hatte das alles schließlich organisiert und würde es sich nicht nehmen lassen, jedem Einzelnen mit wichtiger Miene die Reiseunterlagen auszuhändigen.

Der Gedanke an Uwe verdarb Ludger beinahe die Stimmung. Sosehr er sich freute, ein Wochenende lang mit den Vereinskameraden in der Ostsee zu fischen – auf Uwes Gesellschaft hätte er dabei lieber verzichtet. Dieser aufgeblasene Wichtigtuer mit seinen Stammtischmeinungen zu allem und jedem! Aber ohne den Kassenwart lief bei Poseidon e. V. einfach nichts.

Ludger hatte das Gleis 7 gefunden. Während er den Bahnsteig entlangging, hielt er nach vertrauten Gesichtern Ausschau. Die hagere, hohe Gestalt von Hans-Peter erkannte er sogar von hinten, und bei ihm standen vier – nein, fünf weitere Angelfreunde. Uwe führte wie gewohnt ausladend gestikulierend das große Wort, alle anderen hörten ihm zu.

Ludger trat zu der Gruppe, ohne sich seinen Widerwillen gegen den Kassenwart anmerken zu lassen. Er grüßte freundlich, wurde seinerseits mit großem Hallo und Schulterklopfen begrüßt, ließ die schwere Tasche von der Schulter auf den Boden gleiten und fing gerade an, sich zu entspannen, als ihm Uwes verständnisloses Stirnrunzeln auffiel. »Du hast doch gesagt, du bist am Wochenende auf einer Familienfeier«, waren die ersten Worte, die er an das soeben eingetroffene Vereinsmitglied richtete.

Ludger spürte augenblicklich, wie sein Blutdruck emporschoss. Bedeutete diese Frage das, was er vermutete? »Ja, bei den ersten Planungen habe ich das gesagt. Und dass ich noch nicht genau wüsste, ob ich mitfahren kann. Aber beim letzten Mitgliedertreffen habe ich klipp und klar zugesagt.« Hilfe suchend wanderte sein Blick zu Hans-Peter. Der war schließlich dabei gewesen!

»Hm, das tut mir jetzt leid«, erwiderte Uwe und simulierte auf schmierige Weise ein Bedauern, das er ganz gewiss nicht empfand. »Das hab ich anders verstanden. Ich bin davon ausgegangen, dass du nicht mitkommst.«

»Ja, ich auch«, pflichtete Dieter ihm bei. Logisch. Dieser rückgratlose Speichellecker bestätigte alles, was Uwe sagte. Natürlich ist die Erde eine Scheibe, Uwe.

Die anderen schwiegen und blickten betroffen drein.

»Aber ich hab doch gesagt, dass ich mitfahre«, wiederholte Ludger. In seinem Kopf rauschte es. Ihm war unangenehm warm.

»Und ich bin davon ausgegangen, dass du es nicht tust.« Uwe hob die Schultern und breitete die Arme aus. »Ich hab für dich keine Zugfahrkarte und kein Hotelzimmer besorgt.«

»Da muss es doch eine Lösung geben«, schaltete sich Hans-Peter ein, »Ludger kann sich schnell noch eine Fahrkarte kaufen gehen, und im Hotel …«

»Für die Stadtrundfahrt sind aber auch nur zwölf Plätze bestellt«, schnitt Uwe ihm das Wort ab. »Und auf die Baltic gehen gar nicht mehr Leute drauf.«

Die Baltic war der Kutter, mit dem sie am Sonntag zum Hochseeangeln hinausfahren wollten; der eigentliche Zweck und Höhepunkt ihres Ausflugs. Alles andere hätte man vielleicht noch irgendwie regeln können. Ohne die Kutterfahrt jedoch war die gesamte Reise sinnlos.

»Ja, und nun?« Das war weniger eine Frage als ein Wutschrei. Ludger wusste, dass die Sache bereits entschieden war. Er würde wieder nach Hause zurückfahren, allein mit seinem Übernachtungsgepäck und seiner Angelrute, mit dem Relingklettband und den Pilkern und Twistern, die er extra für diese Reise besorgt hatte. Was für eine ungeheure Demütigung!

»Also, das tut mir wirklich total leid, Ludger.« Uwe legte ihm die Hand auf den Unterarm.

Ludger zuckte zurück wie bei einem Schlangenbiss.

»Ich verstehe, dass du jetzt enttäuscht bist, aber als ich die Liste mit den Teilnehmern angelegt habe, hast du hundertprozentig gesagt, dass du nicht mitkommst, das weiß ich ganz genau. Du hast doch erzählt, dass an diesem Wochenende Mitte Oktober deine Frau immer ihren Geburtstag feiert und dass du da auf keinen Fall …«

»Nicht ihren Geburtstag«, zischte Ludger. »Ich habe gesagt, dass sie die Genesung von ihrem Unfall feiert.« Es war vollkommen irrelevant, was Karoline feierte, es änderte nichts daran, dass er nicht mit nach Wismar konnte. Keine Busrundfahrt durch die historische Hansestadt. Kein lustiger Abend mit den Freunden. Kein Dorschangeln. »Da hast du dann wohl auch nicht so genau zugehört.« Diese Bemerkung verschaffte ihm eine gewisse Genugtuung, aber sie prallte an Uwe ab.

»Beim nächsten Mal frage ich vor der Buchung noch mal jeden einzeln«, beteuerte Uwe mit geheuchelter Geduld, »falls wieder jemand in letzter Sekunde seine Meinung ändert.«

Die Retourkutsche. Platt und herablassend, wie er nun mal war.

Hans-Peter versuchte erneut eine Lösung anzubieten: »Vielleicht können wir den Kutter ja noch umbuchen?«

Ludger winkte ab. »Ist schon gut. Dann ist es eben so. Viel Spaß.« Er hängte sich die Tasche wieder über die Schulter, packte das Transportrohr mit den Angelsachen und stampfte ohne Abschied davon.

Während der nervtötend langsame gläserne Aufzug ihn zurück zu den S-Bahnen in die oberste Ebene brachte, knickten ihm beinahe die Knie weg. Die Wut war verraucht, an ihre Stelle war eine allumfassende, grenzenlose Enttäuschung getreten. Es war über fünf Jahre her, dass er zuletzt ein Wochenende ohne Familie verbracht hatte, und sosehr er Karoline, die Kinder und seine Enkel liebte: Er hatte sich auf diese Auszeit gefreut. Auf ein riesengroßes Jägerschnitzel mit Pommes, auf drei, vier oder fünf Gläser Bier ohne spitze Bemerkungen, auf Fachsimpeleien mit den Angelfreunden, auf eine Nacht ganz allein in einem Zimmer nur für sich, und vielleicht hatte das Hotel sogar so einen Bezahl-Fernsehkanal – warum nicht?

Obwohl Karoline sich bei ihrem Abschied heute Morgen betont kühl gegeben hatte, um zu unterstreichen, wie verletzt sie war, dass er erstmals nicht mit ihr gemeinsam diesen so wichtigen Jahrestag feierte, würde sie sich keineswegs freuen, wenn er gleich wieder nach Hause kam. Sie würde nachfragen und bohren und keine Ruhe geben. »Wie kann das denn sein? Warum hast du dich nicht durchgesetzt? Wieso lässt du so was mit dir machen? Hätte es keine andere Lösung gegeben? Und was hat euer Vorsitzender dazu gesagt? Findest du nicht, dass er sich mehr für dich hätte einsetzen sollen?«

Ludgers tiefer Seufzer ging in dem hydraulischen Zischen unter, mit...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2024
Reihe/Serie Kommissar Eichendorf ermittelt
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Ben Kryst Tomasson • Berlin • Berlin Krimi • Gisa Pauly • Katharina Peters • Klaus-Peter Wolf • Kommissar • Kriminalfall • Kriminalroman • Regionalkrimi • Spannung • Transgender • Trasgender
ISBN-10 3-8412-2537-3 / 3841225373
ISBN-13 978-3-8412-2537-5 / 9783841225375
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