Maybrick und die Toten vom East End (eBook)
528 Seiten
between pages by Piper (Verlag)
978-3-377-90118-7 (ISBN)
Vanessa Glas wurde 1993 in Schleswig-Holstein geboren und ist im Umland von Hamburg zwischen Hafen und Meer aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie an der Universität Hamburg Geschichte und Biologie fürs gymnasiale Lehramt. Geschichte und Geschichten der Realität sowie aller fantastischen Welten faszinieren sie schon seit frühester Kindheit. Neben dem Schreiben zeichnet sie in ihrer Freizeit, geht ins Kino oder wandert mit ihrem Mann und Hund. Maybrick und die Toten vom East End ist ihr Debüt.
Vanessa Glas wurde 1993 in Schleswig-Holstein geboren und ist im Umland von Hamburg zwischen Hafen und Meer aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie an der Universität Hamburg Geschichte und Biologie fürs gymnasiale Lehramt. Aktuell forscht sie im Bereich der Erziehungswissenschaften als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität. Geschichte und Geschichten der Realität sowie aller fantastischen Welten faszinieren sie schon seit frühester Kindheit. Neben dem Schreiben zeichnet sie in ihrer Freizeit, geht ins Kino oder wandert mit ihrem Mann und Hund. Maybrick und die Toten vom East End ist ihr Debüt.
Kapitel 2
Gwendolyn
Kleine einsame Schneeflocken tanzten durch die Luft. Ihr Erscheinen sorgte selbst jetzt noch, einige Stunden später, immer wieder für verwunderte Blicke in den Himmel. Gestern hatte die Sonne bereits mit erster Frühlingskraft gebrannt, doch heute schien dies Jahrzehnte zurückzuliegen. In den Docks herrschte die gewohnte Unruhe. Shadwell und seine Bewohner waren da nicht anders als die restlichen Viertel im East End, trotzdem besaß auch diese Gegend ihre Besonderheiten. Seefahrer aus Griechenland und China hatten sich vor einem Jahrhundert hier angesiedelt. Die East India Company platzierte in diesem Viertel vor Jahrzehnten ihre Matrosen aus Ostasien, die Lascar. Sie waren alle keine Fremden mehr, sondern längst zu den Urgroßvätern und Großvätern der jetzt ansässigen Familien geworden. Heute dominierten das Straßenbild die Dock- und Fabrikarbeiter, hier war ihr Zuhause, wo sie lebten und ihr Geld machten.
Vor gut zwanzig Jahren hatte jemand Shadwell mal als eine dunkle Vision beschrieben, eine harsche Realität mit zu vielen Prostituierten und einem wachsenden Opiumproblem. Das blonde Mädchen, das gerade inmitten des Durcheinanders wartete, kannte Shadwell eher als den Ort, wo das Kinderkrankenhaus des East Ends lag, als Viertel mit dem bunten Fischmarkt und einer sich rasant durchwechselnden Masse an Menschen, die man tagtäglich bestaunen konnte. Ihre Vision dieses Viertels war deutlich farbenfroher.
Gwendolyn Bones tippte mit ihren Hacken rhythmisch gegen die Kiste, auf der sie saß, während sie sich ein Grinsen nicht ganz verkneifen konnte, denn sie hatte schon längst bemerkt, dass jemand versuchte, sich an sie heranzuschleichen. Gerade als die Hand nach ihrem Nacken greifen wollte, um sie durchzuschütteln, drehte Gwendolyn schnell ihren Kopf.
»Fast«, lachte sie und starrte in zwei braune Augen. Die Stimme ihrer Freundin klang enttäuscht. »Irgendwann, Gwen. Ganz sicher! Wartest du schon lange?«
»Ein wenig. Was hat dich aufgehalten, Grace?«
Gwen stand auf und überragte die Freundin damit augenblicklich um einen halben Kopf, obwohl sie beide dieses Jahr elf Jahre alt wurden. Grace Brouwer wischte sich mit dem Armrücken die laufende Nase, grinste breit und entblößte dabei ihren ausgefallenen Schneidezahn. Wie immer hatte sie ihre braunen Locken mit dem Haarband zurückgebunden, das Gwen ihr vor ein paar Monaten zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie nickte über ihre Schulter in Richtung der ihr folgenden Frau. »Musste meine Tante zu einem Geschäft begleiten. Nach dem Ärger mit diesen Männern letzte Nacht lässt sie mich nicht aus den Augen. Als würde Dorson mich entführen wollen, da gibt es echt bessere Geiseln«, raunte sie, doch Gwen hörte ihr bereits nur mit halbem Ohr zu. Grace’ Tante hatte immer diesen Effekt auf sie. Jene Frau sah die Mädchen dagegen eher unbeeindruckt an und zischte: »Du bist keine Diebin, also lass das mit dem Klauen, sonst schick ich dich eigenhändig aufs Land, Grace.«
Hester Jaager war mit ihren 26 Jahren bereits eine kleine Institution im Viertel, nur keine sonderlich legale, das hatte Gwen schnell verstanden. Eine Zigarette im Mundwinkel, lehnte die leicht überdurchschnittlich große, jedoch weder muskulöse noch herausstechend schöne Frau an einem Stapel Fässer und ließ ihren Blick über das Treiben wandern. Kein Mann würde ein Sonett über ihre dunkelblonden Haare schreiben oder ihre hellen blauen Augen bewundern. Nichts an ihr stach auf eine Weise heraus, die hätte erklären können, warum ihr dennoch jeder aus dem Weg ging, wenn sie die Straße betrat. Wie jeden Tag trug sie einen perfekt sitzenden Anzug und darüber einen langen Mantel, auf dem sich jetzt kleine Schneeflocken sammelten. So will ich auch einmal aussehen, dachte Gwen in diesem Augenblick, keiner auf der Welt wagt es, ihr etwas zu sagen.
Fast schon gelangweilt drückte Hester die Zigarette aus, nahm den letzten Schluck aus einer Limonadenflasche und ließ diese an der Ecke auf dem Boden zurück. Wie immer hielt sie die Flasche auf diese merkwürdige Art, die Gwen seit einiger Zeit zu imitieren versuchte: den Zeigefinger um den Hals gekrallt und gegenüberliegend die restliche Hand zur Faust geballt.
»Na, kleiner Engel«, war schon immer und so auch heute ihre Begrüßung für Gwen, die daraufhin nur eine ungelenke Verbeugung ausführte. »Ein Gentleman, wie immer«, sagte Hester grinsend.
Es herrschte ein merkwürdiges Verständnis zwischen Gwen und der ihr eigentlich fremden Frau. Gwen wollte einfach glauben, dass die Kriminelle sie auch mochte. Warum wusste sie selbst nicht recht. Tante Hester, wie Grace sie nannte, war der Kopf im Hintergrund der Forty Thieves Bande. Ihr Gesicht wurde nicht in Zeitungen abgedruckt, keiner im Westen würde ihren Namen kennen, und trotzdem wusste jeder in den Docks, dass es mehrere Anführerinnen in der Diebesbande gab. Polly Carr, die mit ihren Mädchen in den Kaufhäusern im West End aufsehenerregende Diebstähle durchführte, und Hester Jaager, die das Diebesgut der Frauenbande zu Geld machte. Eine Schmugglerin und Hehlerin für alles, was man sich vorstellen konnte.
»Wie lange muss ich denn auf euch kleine Nervensägen aufpassen?«, fragte Hester.
Gwen erwiderte: »Nicht lange, mein Vater will mich in einer halben Stunde wieder einsammeln.«
»Dann los, die Zeit läuft«, meinte sie und holte gleichzeitig eine Taschenuhr hervor, um zu kontrollieren, wann Gwen wieder auf ihrer Kiste sitzen musste.
Schnell packte Grace Gwens Hand und zog ihre Freundin die Straße hinunter, anscheinend schon ein festes Ziel im Blick. »Ich will Karamell! Du auch, Gwen? Los, ich besorg uns was.«
Grace war eine unaufhaltsame Naschkatze, die entweder immer Bonbons in ihrer Tasche mit sich herumtrug oder auf der Suche nach einem neuen Vorrat war.
»Tipptopp«, antwortete Gwen nickend, denn Grace würde sich ohnehin nicht davon abhalten lassen.
»Aber nicht dein ganzes Geld ausgeben, sonst bekomme ich von deiner Mutter wieder was zu hören«, murmelte Hester, ohne dabei von dem Block in ihrer Hand aufzusehen.
Es war eine Eigenart dieser Frau, dass sie die Zeit beim Gehen immer mit Block und Stift nutzte, als könne sie es sich nicht erlauben, auch nur einen Moment mit Schlendern zu verschwenden.
Bei jedem Schritt fiel Gwen heute auf, dass irgendetwas an ihr leicht quietschte, wie eine ungeölte Tür. Hester schien ihren musternden Blick zu spüren, denn ohne aufzusehen, stahl sich ein Grinsen auf ihr Gesicht.
»Ist nur mein schlechtes Knie, keine Sorge. Keine Maus in meiner Tasche.«
»Ich mag Mäuse«, murmelte Gwen.
»Es ist die Orthoto-o-se von Tante Hester, ignorier es einfach«, sagte Grace achselzuckend.
»Orthese«, berichtigte Hester. Sie blieb für einen Moment stehen und zog ihre Hose kurz bis zum Knie hoch, um Gwen einen Blick auf die Art Bandage aus Leder und Metallstangen zu erlauben. Jedoch nicht lange genug, um die Konstruktion in Gänze zu betrachten, denn schon zog sie den Stoff wieder herunter und nahm wieder ihren schnellen Schritt auf.
»Es stabilisiert mein schlechtes Knie«, erklärte Hester nur noch wie nebenbei, als würde sie genau spüren, dass Gwen mehr Kontext brauchte. Denn sofort fragte sie: »Kann man damit rennen?«
»Rennen, treten und tanzen, alles möglich«, murrte Hester und strich energisch etwas auf ihrem Block durch.
»Hast du deine Eltern schon gefragt? Wegen der großen Japan-Ausstellung?«, fragte Grace aufgeregt, die Aufmerksamkeit wieder auf sich ziehend. Die große Japan-British-Exhibition würde im Mai starten und sollte ein halbes Jahr dauern. Die Arbeiten dafür hatten aber schon lange begonnen. Das Japanische Kaiserreich wollte sich den Engländern präsentieren und ihnen mehr von ihrem Land zeigen. Nicht, dass Gwen oder Grace sonderlich viel von Japan wussten, aber vermutlich übte die anstehende Ausstellung gerade deshalb einen so großen Reiz auf sie aus. Es war noch einige Wochen hin, was zwar nicht der Grund war, weshalb sie ihre Eltern bisher noch nicht gefragt hatte, aber eine gute Ausrede darstellte. Deshalb murmelte sie nur: »Bald.«
Gwens Eltern waren anspruchsvoll, wenn es um Bitten ging. Wenn man etwas wollte, musste man überschwänglich darum betteln, und darin war sie noch nie gut gewesen.
Allein die Tatsache, dass ihr Vater sie...
Erscheint lt. Verlag | 27.6.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 1910 • Detective Inspector • Docks • düstere Spannung • East End • historischer Krimi • Jack the Ripper • Kriminalroman • London • natt och dag • Peaky Blinders • Sherlock Holmes • spannende Bücher • viktorianische Krimis • Volker Kutscher |
ISBN-10 | 3-377-90118-3 / 3377901183 |
ISBN-13 | 978-3-377-90118-7 / 9783377901187 |
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