Bretonische Sehnsucht (eBook)

Spiegel-Bestseller
Kommissar Dupins dreizehnter Fall
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
416 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30402-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bretonische Sehnsucht -  Jean-Luc Bannalec
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Am äußersten Rand der Bretagne, inmitten des gewaltigen Atlantiks, liegt die tiefgrüne Insel Ouessant. Dort soll Kommissar Dupin im Spezialauftrag des Präfekten einen mysteriösen Tod aufklären.  Ein keltischer Musiker wurde am Ufer angeschwemmt. In seinem Haus entdeckt die Polizei einen Hinweis, der mit einem uralten dunklen Ritus in Verbindung gebracht wird. Doch die eingeschworene Gemeinschaft der abgelegenen Insel erschwert Dupin das Ermitteln - Sirenen, Priesterinnen und Geschichtenerzählerinnen leben hier abseits der Norm und wissen: Auf das Unsichtbare kommt es an. Und Dupin stellt sich der beinahe unlösbaren Aufgabe, herauszufinden, was das sein könnte.

Jean-Luc Bannalec ist der Künstlername von Jörg Bong. Er ist in Frankfurt am Main und im südlichen Finistère zu Hause. Die Krimireihe mit Kommissar Dupin wurde für das Fernsehen verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2016 wurde der Autor von der Region Bretagne mit dem Titel »Mécène de Bretagne« ausgezeichnet. Seit 2018 ist er Ehrenmitglied der Académie littéraire de Bretagne. Zuletzt erhielt er den Preis der Buchmesse HomBuch für die deutsch-französischen Beziehungen.

Jean-Luc Bannalec ist der Künstlername von Jörg Bong. Er ist in Frankfurt am Main und im südlichen Finistère zu Hause. Die Krimireihe mit Kommissar Dupin wurde für das Fernsehen verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2016 wurde der Autor von der Region Bretagne mit dem Titel »Mécène de Bretagne« ausgezeichnet. Seit 2018 ist er Ehrenmitglied der Académie littéraire de Bretagne. Zuletzt erhielt er den Preis der Buchmesse HomBuch für die deutsch-französischen Beziehungen.

Der erste Tag


Nichts hier schien von dieser Welt zu sein. Nicht die mystische Szenerie, die jäh aus dem Atlantik aufragenden Granitfelsen, das surreale Grün des Grases auf ihren Kuppen, nicht das silbrig grüne Meer, nicht der bläulich kristallin glimmende Himmel in seiner endlos scheinenden Weite. Noch weniger die wundersam sphärische Musik der fünf Frauen, die sie an diesem Sommerabend hier am Phare du Stiff erklingen ließen.

Die Île d’Ouessant schien nicht von dieser Welt.

Genau das war Kommissar Georges Dupins Eindruck gewesen, als er sie heute Nachmittag zum ersten Mal betreten hatte. Er war in seinem ganzen Leben noch an keinem vergleichbaren Ort gewesen. Mit den anderen bretonischen Inseln jedenfalls hatte Ouessant nichts gemein. So wunderbar und eigensinnig die Belle-Île, die Île de Sein, die Îles de Glénan und alle anderen auch waren, gehörten sie doch eindeutig dem Reich der Wirklichkeit an, der »gewöhnlichen Welt« – und das stand bei Ouessant erheblich infrage.

Enez Eusa lautete der königliche bretonische Titel der Insel, »am weitesten draußen gelegen«. Vor dem äußersten nordwestlichen Rand der bretonischen Welt, und nicht nur das: des gesamten europäischen Kontinents, des »großen Landes«, wie die Inselbewohner die ferne Festlandwelt ein wenig skeptisch nannten. Die »Erhabene«, denn auch das bedeutete Enez Eusa, lag zweiundzwanzig Kilometer vor den allerletzten Felsen des Finistère – sogar noch jenseits vom »Ende der Welt«. Im Norden befanden sich Cornwall und – ein Stück weiter westlich – Irland. Führe man geradewegs gen Westen, stieße man nach Tausenden Kilometern Atlantik auf Neufundland.

Ouessant war eine wilde Schönheit. Eine Urgewalt. Das galt für die Insel selbst, aber noch mehr für das Gefühl, das sie in einem auslöste. Man hatte den Eindruck, mitten in die entfesselte Natur geworfen zu sein. Mehr Atlantik ging nicht. Là où souffle un vent fort de la liberté, hieß es, »da, wo ein starker Wind der Freiheit bläst«. Es mochte pathetisch klingen, traf aber gut, was man auf Ouessant fühlte: eine große Freiheit. Knapp acht Kilometer lang war die Insel, maximal vier breit – die Küste heftig zerklüftet, ein paar wenige Kiesstrände, vier kleine Sandstrände, alles beschützt von einer Armada an Leuchttürmen. Von oben gesehen hatte Ouessant, es war verblüffend, ziemlich genau die Form einer Hummerschere, und von Hummern wimmelte es in ihren Gewässern. Dupin war beruhigt gewesen: Verhungern würde er nicht.

Hier, am äußersten nordöstlichen Zipfel – wo der berühmte Stiff-Leuchtturm stand –, präsentierte die Insel eine atemberaubende Steilküste, brachial, erhaben, bedeckt von Mooren, Heidekraut, Ginster und struppigem Gras. In Richtung Westen überraschte sie mit einer sanften Senke, dem grünen Tal von Arlan, in dem die wenigen Bäume der Insel standen. Diese hatten ihre liebe Not auf Ouessant. Die Gischt, die beim jähen Brechen der anrollenden Wellen in die windigen Sphären verwirbelt wurde, brachte Salz und Jod über die ganze Insel. Der Regen war kein großes Thema, tatsächlich regnete es weniger als auf dem Festland. Dafür blies der Kornog, und zwar fast immer. Ein rauer Westwind, so charakteristisch, dass er von den Ouessantins einen eigenen Namen bekommen hatte.

Über zwei Dutzend Angriffen heftiger Stürme war Ouessant durchschnittlich in einem Jahr ausgesetzt, die meisten attackierten die Insel im Februar. Windstärke neun war dann keine Seltenheit. Die Spitzen, coups de tabac genannt, »Tabakschläge«, betrugen regelmäßig bis zu 180 km/h, bei den legendären Stürmen 1930, 1960 und 2023 hatte man Schläge über 200 km/h verzeichnet. Noch viel bedenklicher, fand Dupin, war allerdings eine andere Zahl, sie allein machte drastisch klar, wo man sich befand: 28,6 Meter. Diese Zahl gab die Höhe eines Brechers an, einer »Monsterwelle« – so die wissenschaftliche Bezeichnung –, die die Insel im letzten November während eines Sturms im Westen erwischt hatte. Doppelt so hoch wie Dupins Haus.

Noch eine Besonderheit der Insel: Es fühlte sich an, als wäre man in eine eigentümliche Zeitlosigkeit gereist. Die Natur, die schroffen Klippen, das ungestüme Meer, die Heidelandschaften, wo auch Farne und Ginster wuchsen, hätten vor Jahrtausenden, in neolithischer Zeit, genauso ausgesehen wie in der Gegenwart. Überhaupt war man in eine andere Welt katapultiert, mit einer intensiven, archaischen Aura voller alter Magie. Wie ein wüster Traum, in den man stürzte.

»Eine wildere, rauere, verwegenere Bretagne gibt es nicht! Ein karger Granitbrocken mitten im wüstesten Atlantik«, hatte Riwal Dupin vor dessen Aufbruch eingestimmt. »Da ist nichts mit Mittelmeer, Karibik, Südsee oder so! Da liegen Sie völlig falsch, Chef.«

Es war eine seltsame Konversation gewesen, denn Dupin hatte kein Mittelmeer, keine Karibik und auch keine Südsee erwartet. »Auf Ouessant ist überhaupt nichts lieblich! Rein gar nichts!«, war sein erster Inspektor leidenschaftlich fortgefahren. »Das Ende der Welt kann nicht überall einladend sein! Selbst wenn die Delfine Sie dort ausgelassen umschwärmen, Kormorane erhaben auf den Felsen sitzen und die rotschnäbeligen Austernfischer atemberaubende Manöver fliegen. Dafür gibt es mehr Mysterium als überall sonst. Mystik en masse!« Riwal hatte sich gar zu einer diffusen Warnung veranlasst gesehen: »Sehen Sie sich vor, Chef! Merken Sie sich meine Worte.«

Dupin hatte wohlweislich nicht nachgefragt. Man hätte meinen können, er würde zu einer Indiana-Jones-Mission aufbrechen. Wobei Dupin zugeben musste, dass er jetzt, nach ein paar Stunden auf der Insel, zumindest ein wenig verstand, was Riwal mit »Mystik en masse« gemeint haben könnte.

»Auf jeden Fall passt der Name der Gruppe, finden Sie nicht? Sie heißt Sous le charme des Sirènes. Im Bann der Sirenen. Wir hier auf der Insel nennen sie einfach nur die Sirenen. Es ist Musik aus einer anderen Welt.«

Alana Rigo, die Bürgermeisterin, lächelte Dupin zu.

Der Kommissar nickte freundlich.

Sie hatte recht. Die geheimnisvollen, sanften Klänge, die die Musikerinnen ihren Stimmen und Instrumenten entlockten, schienen anderen Sphären zu entstammen. Dupin musste zugeben, dass er selbst nach zwölf Jahren intensiver Bretonisierung mit keltischer Musik nicht so richtig warm geworden war. Aber auf diese geheimnisvolle Insel hier passte sie. Sehr gut sogar. Oder anders: Es wirkte so, als käme sie von hier. Als wäre sie genau hier erdacht worden.

»Das ist eine Sensation! Allein schon, dass die fünf wieder zusammen spielen«, fuhr die Bürgermeisterin fort. »Es wird in allen Zeitungen stehen! – Zu schade, dass dafür erst eine solche Tragödie nötig war.«

Bedrückt schüttelte sie den Kopf.

»Wann haben sie das letzte Mal zusammen gespielt?«

So sanft die Klänge waren, Dupin musste die Stimme dennoch deutlich heben.

Die Bürgermeisterin dachte kurz nach.

»Das war vor acht Jahren. – Dann verließ Rayanne die Insel.«

Eine längere Pause. Der letzte Satz hatte ein wenig so geklungen wie: Dann ist es zum Sündenfall gekommen.

»Sie ging nach Dublin und wurde berühmt. Richtig berühmt. – Seitdem sind die Sirenen nicht mehr zusammen aufgetreten.«

Sie machte eine melancholische Pause.

»Rayanne war nur selten hier in den letzten Jahren. – Aber«, sie lächelte, »das hat sich ja nun geändert.« Alana Rigo holte tief Luft: »Rayanne ist zurück!«

Als Dupin heute Nachmittag auf der Insel angekommen war, hatte Madame le Maire ihn offiziell empfangen. Alana Rigo war nicht nur die Bürgermeisterin der achthundertfünfzig Insulaner, sondern, qua ihres Amtes, ebenso officier de police der Insel. Sie war eine gut aussehende Frau um die fünfzig, lange schwarze Haare, schlank, schwarze Jeans, schwarze Regenjacke, obwohl von Regen weit und breit keine Spur war, nicht einmal von Wolken. Manchmal wirkte sie formell, dann wieder ganz emotional. Zusammen mit zwei weiteren Bewohnern der Insel bildete sie die garde champêtre, die offizielle Landwache. Die ständige Präsenz einer Gendarmerie lohnte sich nicht für Ouessant, dafür passierte zu wenig. Um das, was doch passierte, kümmerte sich die Landwache. Echte Polizei gab es nur während der Hauptsaison, zwischen Mitte Juni und Ende August, dann waren sie zu sechst hier. Passierte in den anderen Monaten etwas Schwerwiegendes, kam jemand vom Festland herüber. Schwerwiegend war der gegenwärtige Vorfall ohne Zweifel.

Gestern früh war eine Männerjacke angeschwemmt worden, heute früh dann der ganze Mann – nahe der Hafenmole im Osten der Insel, wo die Fähre ankam. Es war die Leiche des Insulaners Lionel Saux, das war schon beim Fund der Jacke klar gewesen – niemand sonst hier trug eine uralte Levis-Jeansjacke mit dem Cover der ersten Fleetwood-Mac-Single als Rückenaufdruck. Die Küstenwache hatte nach dem Fund der Jacke umgehend eine Suchaktion gestartet, ein Hafenarbeiter hatte den Toten dann heute Morgen zufällig entdeckt. Einundvierzig Jahre war Lionel Saux im Sommer geworden. Noch war alles denkbar: ein Unfall, vielleicht mit gesundheitlichen Problemen verbunden, Selbstmord oder – ein Verbrechen.

Die Bürgermeisterin hatte Dupin gebrieft. »Er war Musiker, das war schon als Jugendlicher sein Wunsch gewesen.« Die Musik, das hatte Dupin in den wenigen Stunden auf der Insel gelernt, spielte eine große Rolle auf Ouessant. Lionel Saux hatte anscheinend so gut wie...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Reihe/Serie Kommissar Dupin ermittelt
Kommissar Dupin ermittelt
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Bannalec 13. Fall • Bannalec Band 13 • Bannalec Teil 13 • Bretagne • Bretonische Musik • Dupin • Dupin Band 13 • Dupin neuer Band • Frankreich Krimi • Frankreich-Urlaub • Jean-Luc Bannalec • Keltische Musik • Kommissar Dupin • Krimi Bestseller • Krimi für den Frankreich Urlaub • neuer Krimi Bannalec • Ouessant • spiegel bestseller • Urlaubskrimi
ISBN-10 3-462-30402-X / 346230402X
ISBN-13 978-3-462-30402-2 / 9783462304022
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