David Wellington, geboren in Pittsburgh, Pennsylvania, hat sich mit seinen Romanen um die Vampirjägerin Laura Caxton in die Herzen der Horror- und Dark-Fantasy-Fans geschrieben. Sein Science-Fiction-Roman »Die letzte Astronautin« wurde für den Arthur C. Clarke Award nominiert. Wenn er nicht schreibt, arbeitet David Wellington als Archivar für die Vereinten Nationen. Der Autor lebt in New York.
1
Noch drei Tage bis zum Anbruch der Dämmerung auf Ganymed. Die Kälte schien durch den Raumanzug bis in ihre Knochen einzudringen. Jupiter, die einzige Lichtquelle, stand als schmale braune und orangefarbene Sichel reglos am Nachthimmel. Hin und wieder zuckte ein Blitz über den weitgehend dunklen großen Planeten. Die Entladungen waren so gewaltig, dass sie sogar über eine Entfernung von einer Million Kilometern hinweg lange schwarze Schatten auf das Eis des Mondes warfen.
Alexandra Petrowa ließ die Schultern kreisen und wackelte im pulvrigen Eis mit den Zehen, um die Blutversorgung der Beine in Gang zu bringen. Seit schon fast sechs Stunden lag sie auf der Kuppe eines Höhenzuges, weit entfernt von der Wärme und der erheblich besseren Luft des Habitats im Selket-Krater. Vielleicht zahlte sich die Tortur ja doch noch aus.
»Brandwache Eins-Vier, ich habe Sichtkontakt«, flüsterte sie. Das Anzugmikrofon erfasste die Meldung und sendete sie zu einem Satelliten, der sie an einen Funker in einem Kontrollturm im Krater weiterleitete. Von dort aus wurde sie in die hübschen, gemütlichen Büros der Brandwache Vierzehn übermittelt – zum Hauptquartier der Militärpolizei auf Ganymed. »Zielperson ist etwa dreihundert Meter entfernt und bewegt sich nach Nord-Nordwest.«
Sie blieb so still wie möglich liegen, weil sie ihre Position keinesfalls verraten wollte. Direkt unter dem Höhenzug sprang ein Mann vorsichtig bergab, indem er von Felsblock zu Felsblock hüpfte. Er bewegte sich auf ein Gewirr schmaler kleiner Canyons zu. Der Mann trug einen hautengen, leuchtend gelben Raumanzug. Kein großes Visier, nur eine dunkle Schutzbrille. Die Hälfte aller Arbeiter auf Ganymed verwendete solche Anzüge – sie waren billig und ließen sich leicht flicken, außerdem wurden sie in Signalfarben geliefert, damit man die Leiche problemlos auf der vereisten Oberfläche fand, falls der Träger dort draußen starb. Der Barcode auf dem Rücken verriet ihr, dass der Anzug einer gewissen Margaret Dzama gehörte.
Petrowa wusste, dass dieser Anzug gestohlen war. Der Mann, der ihn jetzt trug, ein ehemaliger Medizintechniker namens Jason Schmidt, war vermutlich der schlimmste Serienmörder in der jahrhundertelangen Geschichte der Ganymed-Kolonie. Petrowa hatte in mehr als zwanzig Vermisstenfällen Beweise gefunden, die direkt zu Schmidt führten. Man hatte zwar keine einzige Leiche entdeckt, aber das war gar nicht so überraschend. Ganymed galt zwar als einer der am dichtesten besiedelten Orte im ganzen Sonnensystem, da draußen gab es jedoch viel Eis, das noch niemand erforscht hatte. Also war dies genau der richtige Ort, um Tote zu verstecken.
»Brandwache Eins-Vier«, sagte sie. »Bitte um Erlaubnis, einen gewissen Schmidt, Jason festzunehmen. Die Dokumente habe ich bereits eingereicht, mir fehlt nur noch die Genehmigung für den Vollzug.«
»Verstanden, Lieutenant«, antwortete Eins-Vier. »Wir gehen den Fall gerade durch und vergewissern uns, dass Sie auch wirklich zuständig sind. Wir werden das umgehend klären. Bitte warten.«
Die Beweise, die gegen ihn vorlagen, mochten nur indirekt sein, aber Schmidt war der richtige Mann, da war sie sicher.
Das musste sie auch sein. Ihre ganze Laufbahn hing von die sem Fall ab. Als Lieutenant-Inspektorin der Brandwache verfügte sie über weitreichende Kompetenzen, um selbstständig Ermittlungen durchzuführen, aber diesen Einsatz durfte sie auf keinen Fall vermasseln. Ihren Job und den Rang hatte sie nur dank ihrer persönlichen Beziehungen ergattert. Das Problem bestand nur darin, dass dies auch alle anderen wussten. Ihre Mutter Ekaterina Petrowa war früher die Direktorin der Brandwache gewesen. Petrowa war also in die Firma der Familie eingetreten, und jetzt glaubten alle, die einflussreiche Mutter könnte der Tochter einen allzu leichten Zugang zur Akademie verschafft haben.
Wenn sie diesen Fall aber löste, konnte sie den Neidern zeigen, dass sie mehr war als nur die Tochter ihrer Mutter und dass sie fähig war, diesen Job wirklich auszufüllen. Die Leitung der Brandwache hatte die vielen Vermisstenfälle einfach zu den Akten gelegt – wahrscheinlich war Lang, die neue Direktorin, der Ansicht, ein paar vermisste Bergleute auf Ganymed seien nicht wichtig genug, um wertvolle Ressourcen für die Suche zu verschwenden. Schmidts Verhaftung wäre jedoch ein echter Gewinn für Lang und auch für Petrowa selbst. Damit würde die Brandwache gut dastehen – die Menschen auf Ganymed würden sehen, dass die Brandwache zur Verfügung stand, um sie zu beschützen. Es wäre ein PR-Coup.
Sie musste nur noch jemanden im Selket-Krater überzeugen, ihr die Erlaubnis zu geben, damit sie die Verhaftung vornehmen konnte. Das sollte doch eigentlich nicht so schwierig sein. Warum ließen sie sich so viel Zeit?
»Brandwache, ich brauche die Genehmigung, die Verhaftung durchzuführen. Bitte um Entscheidung.«
»Verstanden, Lieutenant. Wir warten noch auf die endgültige Bestätigung.«
Unterhalb von ihr blieb Schmidt auf einem Felsblock stehen, drehte den Kopf hin und her und betrachtete die Umgebung. Konnte er sie irgendwie bemerkt haben? Oder hatte er sich im Zwielicht verirrt?
»Verstanden«, antwortete sie. Dann kroch sie einen Meter weiter nach vorn. Gerade so weit, dass sie Schmidt im Auge behalten konnte. Wohin wollte er? Wahrscheinlich hatte er sich hier draußen im Eis eine Art Lager eingerichtet, vielleicht einen Raum, in dem er die Trophäen seiner Morde aufbewahrte. Sie beschattete ihn schon seit einer ganzen Weile und wusste inzwischen, dass er oft die Wärme der Siedlung verließ und mehrere Stunden allein auf der Oberfläche verbrachte. Das war ihr ganz recht. Draußen fiel es nämlich leichter, ihn zu schnappen. In der dicht bevölkerten Stadt dagegen war es für ihn einfach, in der Menge unterzutauchen.
Dies wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit. Sie konnte ihn hier im Eis vermutlich sogar lebend fassen und ihn zum Verhör in einen geheimen Stützpunkt der Brandwache bringen. Sie griff nach unten, tastete nach der Pistole, die an der Hüfte im Holster steckte, und vergewisserte sich, dass die Waffe geladen und schussbereit war. Leider gab es da ein Problem. Das kleine Licht am Gehäuse der Waffe glühte nach wie vor unfreundlich bernsteingelb. Das bedeutete, dass sie noch keine Schussfreigabe hatte.
»Brandwache, ich brauche die Erlaubnis«, drängte sie. »Gebt meine Waffe frei. Warum dauert das so lange?« Sie sprach leise, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre. Ganymeds Atmosphäre war kaum mehr als ein hauchzarter Schleier. Im Eis trugen die Geräusche nicht weit. Trotzdem, ein bisschen paranoide Übervorsicht konnte einem manchmal helfen, den Tag zu überleben.
Schließlich bewegte sich Schmidt weiter, sprang von seinem Felsblock herunter und kam in einem lockeren Haufen von Eisbrocken auf. Er landete auf dem Hintern und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab. Offensichtlich war er unbewaffnet. Ein leichtes Ziel.
»Erlaubnis noch nicht erteilt. Direktorin Lang hat bestimmt, dass sie persönlich eingeschaltet werden muss. Bitte um Geduld«, antwortete die Brandwache.
Petrowa atmete langsam ein und wieder aus. Direktorin Lang wollte hier persönlich entscheiden? Vielleicht war das gar kein so schlechtes Zeichen. Möglich, dass sich die Vorgesetzten wirklich für ihre Fähigkeiten interessierten. Im Augenblick bedeutete es allerdings erst einmal ein unerfreuliches Hemmnis. Auf die Erlaubnis der Direktorin zu warten, zog die Dinge furchtbar in die Länge. Oder noch schlimmer – vielleicht beorderte Lang sie aus reiner Bosheit auch einfach zurück.
Als Petrowas Mutter vor anderthalb Jahren in den Ruhestand gegangen war, hatte Lang mehr als deutlich erklärt, dass sie der Tochter ihrer Vorgängerin keinerlei Sonderrechte einräumen würde. Wenn Petrowa Pech hatte, erfror sie hier draußen im Eis, bevor Lang den Zugriff genehmigte.
Zum Teufel damit, sie wollte sofort losschlagen. Sobald sie genügend Beweise gegen Schmidt in der Hand hatte, würde niemand mehr ihren Kopf fordern.
Sie stemmte die Füße auf den Boden und sprang. In der niedrigen Schwerkraft fühlte es sich beinahe so an, als fliege sie. Vielleicht lag es auch an dem Adrenalin, das in ihren Kreislauf schoss. Aber ihr war es ganz gleich. Sie kam direkt hinter ihm problemlos auf zwei Füßen und einer geballten Faust auf. Mit der freien Hand zog sie die Waffe und zielte. »Jason Schmidt«, sagte sie. »Kraft meiner Befugnisse als Beamtin der terranischen Regierung und der Brandwache nehme ich Sie hiermit fest.«
Schmidt fuhr herum und sprang auf. Er war schneller und beweglicher als erwartet.
In diesem Augenblick meldete sich jemand in ihrem Ohrstöpsel. »Hier ist Brandwache Eins-Vier …«
Schmidt ging direkt auf sie los, als wollte er sie angreifen. Das war eine absolut schwachsinnige Idee. Sie zielte doch mit der Waffe auf ihn. Zusätzlich hob sie noch die andere Hand und stützte die Waffe. Die perfekte Schussposition. Sie konnte ihn gar nicht verfehlen.
»… Genehmigung wurde überprüft …«
Schmidt wurde nicht langsamer. Er versuchte auch nicht, es ihr auszureden. Aufgrund der geringen Entfernung konnte er sie weder überlisten noch dem Schuss ausweichen. Sie drückte auf den Abzug. Wenn er wirklich so viele Menschen getötet hatte …
»… und abgelehnt. Wiederhole, Genehmigung zur Verhaftung ist abgelehnt.«
Das Licht auf dem Gehäuse der Pistole wechselte von Bernstein nach Rot. Der Abzug war...
Erscheint lt. Verlag | 14.8.2024 |
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Übersetzer | Jürgen Langowski |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Paradise One |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2024 • Aliens • eBooks • Neuerscheinung • Planeten Sonnensystem • Space Horror • Space Opera • weibliche Heldin |
ISBN-10 | 3-641-31748-7 / 3641317487 |
ISBN-13 | 978-3-641-31748-5 / 9783641317485 |
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