Die weiße Rose (eBook)

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2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61479-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die weiße Rose -  B. Traven
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?Die Weiße Rose? ist der klangvolle Name einer Indianerfarm in Mexiko. Rings um sie herum wird nach Öl gebohrt, was aber die friedlichen patriarchalischen Zustände bisher wenig beeinträchtigte. Doch dann wird der Besitzer ermordet, und der Präsident der Ölfirma eignet sich die Farm widerrechtlich an.

B. Traven (1882-1969), war bis 1915 unter dem Pseudonym Ret Marut als Schauspieler und Regisseur in Norddeutschland tätig. Es folgte der Umzug nach München, wo er 1917 die radikal-anarchistische Zeitschrift ?Der Ziegelbrenner? gründete und sich an der bayerischen Räteregierung beteiligte, die 1919 gestürzt wurde. Es gibt heute Hinweise, dass er der uneheliche Sohn des AEG-Gru¨nders Emil Rathenau und damit der Halbbruder von Walther Rathenau war, der 1922 als deutscher Außenminister ermordet wurde. Nach seiner Flucht nach Mexiko 1924 schrieb er unter dem Namen B. Traven 12 Bücher (darunter sein wohl bekanntester Roman ?Das Totenschiff?) und zahlreiche Erzählungen, die in Deutschland Bestseller waren und in mehr als 40 Sprachen veröffentlicht und weltweit über 30 Millionen Mal verkauft wurden. Viele davon wurden verfilmt, so ?Der Schatz der Sierra Madre? (Hollywood 1948), ?Das Totenschiff? (Deutschland 1959) und ?Macario? (Mexiko 1960). 1951 wurde er mexikanischer Staatsbürger, heiratete 1957 Rosa Elena Luján, seine Übersetzerin und Agentin, und starb am 26. März 1969 in Mexiko-Stadt.

Die Condor Oil Company war unter den amerikanischen Ölkompanien, die ihre Unternehmungen auf Mexiko ausgedehnt hatten, durchaus nicht die mächtigste.

Aber sie hatte den stärksten Appetit.

Für die Entwicklung eines Individuums wie für die Entwicklung eines ganzen Volkes ist der Appetit bestimmend. Erst recht und ganz besonders ist ein guter Appetit bestimmend für die Entwicklung eines großkapitalistischen Unternehmens. Der Appetit entscheidet das Tempo der Machtentfaltung, und der Appetit entscheidet darum auch die Wahl der Mittel, die angewandt werden, um das Ziel zu erreichen: eine einflussreiche und gebietende Macht im internationalen Wirtschaftsleben zu sein. In seinem Aufbau, in seinem Wesen, in seinen Zielen und in seinen Arbeitsmethoden wie auch in seinen Problemen unterscheidet sich ein modernes großkapitalistisches Unternehmen wenig von einem Staat. Der einzige sichtbare Unterschied ist wohl nur der, dass ein großkapitalistisches Unternehmen gewöhnlich besser organisiert ist und vernünftiger und geschickter geleitet wird als ein Staat.

Die Condor Oil Company war die jüngste der Kompanien, die hier miteinander und gegeneinander im Felde standen, wo um die Vorherrschaft auf dem Markt gekämpft wurde. Da sie die jüngste war, so war sie die gefräßigste. In der Auswahl und in der Anwendung der Mittel, einen einflussreichen Platz im Wettbewerb mit den alten und mächtigen Kompanien zu gewinnen, kannte sie weder Hemmungen noch Rücksichten. Wenn sie überhaupt einen Grundsatz hatte in Bezug auf die Art des Kampfes, so war es der: Der Krieg, der am brutalsten geführt wird, dauert am kürzesten und ist darum der humanste. Hierin fand sie gleichzeitig eine moralische Entschuldigung ihrer Handlungen, sodass sie, vor sich selbst gerechtfertigt, sagen konnte, sie führe den humansten Kampf und dass sofort wieder Friede sein werde, sobald sie den Kampf gewonnen habe.

Die Macht einer Ölkompanie hängt nicht allein von der Zahl der Öl produzierenden Brunnen ab, die eine Kompanie besitzt. Die Macht hängt vielmehr davon ab, wie viel Land sie besitzt oder unter Kontrolle hält. Und hier sind es drei Arten von Land, die infrage kommen: Land, das bestimmt Öl trägt; Land, das nach dem Gutachten der Geologen Öl tragen muss; und Land, das nach dem Instinkt der Ölleute Öl haben sollte. Die dritte Gattung Land ist es, die Spekulationen ermöglicht und die Millionen Dollar verdienen lässt, ohne dass auch nur ein einziges Fass Öl produziert zu werden braucht.

So ging der Kampf der Kompanien darum, Land und immer mehr Land zu erwerben. Es wurde mit größerem Eifer und mit größerer Geschicklichkeit daran gearbeitet, alles Land, das Öl haben könnte, zu erobern, als daran, das Land, das eine Kompanie bereits hatte, mit allen technischen und wissenschaftlichen Mitteln bis auf den letzten Hektar auszubeuten.

Da die Condor Oil Company nicht durch ihr Kapital und nicht durch die Zahl und den Reichtum ihrer produzierenden Brunnen in die vorderste Reihe der gigantischen Ölkompanien treten konnte, so musste sie den zweiten Weg einschlagen: mehr ölverdächtiges Land zu gewinnen, als irgendeine andere große Kompanie besaß. Im Besitz einer gewaltigen Menge Land, das Öl hatte oder Öl haben konnte und das darum notwendig war, den Ölbedarf des Marktes zu befriedigen, konnte sie Preise bestimmen, und sie konnte eine gewisse Kontrolle über Ölkompanien ausüben, die infolge ihrer gewaltigen Kapitalkraft unüberwindlich und unkontrollierbar schienen.

So lässt sich wohl leicht erklären, dass es keine Untat gab und kein Verbrechen, das die Agenten, die im Auf‌trag der Kompanie das Land heranschaffen sollten, nicht verübt hätten, um, wenn es der Kompanie notwendig erschien, das gewünschte Land zu erhalten. Die Condor Oil Company hatte achtzehn Brunnen laufen. Wo sie Land auch nur roch, das Ölland sein konnte oder Land, das irgendeine andere Kompanie zu erwerben gedachte, war sie sofort auf dem Plan.

In den erbarmungslosen Landabtreibungsgeschäften wirkte natürlich nie einer der Direktoren mit, nie einer ihrer obersten Beamten, und nur ganz selten ließ sie einen Amerikaner in diesem Zweige arbeiten. Die Direktoren kamen erst in Sicht, wenn das Land, das die Kompanie haben wollte, bereits in jenen Händen war, die es für die Kompanie bereitzuhalten hatten. Die Kompanie war immer nur der zweite Käufer. Die schäbigen Geschäfte wurden von mexikanischen oder spanischen, zuweilen von deutschen oder französischen Unteragenten abgewickelt.

Die Condor Co. hatte ihr Hauptquartier in San Francisco in Kalifornien. Das mexikanische Hauptquartier befand sich in Tampico, Mexiko. Sie besaß Zweigquartiere in Panuco, in Tuxpam und in Ebano; und sie bereitete sich vor, noch zwei weitere Büros einzurichten, eins am Isthmus, das andere in Campeche.

Vortreff‌liche amerikanische, englische und schwedische Geologen ließ sie für sich arbeiten, die gut bezahlt wurden. Sie beschäftigte einen verhältnismäßig großen Stab von Topografen, die das Gelände aufzunehmen und zu vermessen hatten. Die Topografen waren schon weniger gut bezahlt als die Geologen, denn ihre Arbeit wurde weniger hoch bewertet. Darum liefen die Topografen oft genug armselig und zerrissen umher wie Vagabunden. Die Geologen standen den Direktoren schon ein wenig näher, wirtschaftlich und gesellschaftlich; denn sie konnten gute Tipps über reiches Ölland in die Ohren flüstern. Die Topografen dagegen standen dem Proletariat näher, und da sie das freiwillig nicht eingestehen wollten, weil sie studiert hatten, mussten sie mehr und härter arbeiten als die Arbeiter, denen es Suppe wie Brühe war, ob man sie als Proletarier betrachtete oder nicht. Die Topografen wurden viel rascher rausgefeuert als kräftige Rigbauer; Topografen gab es reichlich, während die Rigbauer frech waren wie Banditen, denn sie schämten sich nicht, gelegentlich sogar Tomaten einzukonservieren, wenn sie keine Rigs aufbauen konnten oder rausgeschmissen waren, weil sie den Foreman verprügelt hatten.

 

In der Region der Condor Co., beinahe völlig umgrenzt von reich ölhaltigen Ländereien, die alle im Besitz oder in Lease, Vorpacht, der Kompanie waren, lag die Hacienda Rosa Blanca.

Die Hacienda Rosa Blanca hatte eine Größe von etwa achthundert Hektar. Sie gehörte dem Indianer Jacinto Yañez.

Ihre Produkte waren: Mais, Bohnen, Chili, Pferde, Rindvieh, Schweine, ferner Zuckerrohr, und damit auch Zucker, und Orangen, Zitronen, Papayas, Tomaten, Ananas.

Die Hacienda machte ihren Besitzer nicht reich, wohl nicht einmal wohlhabend. Denn alles und jedes wurde in althergebrachter Weise kultiviert und bewirtschaftet. Es ging auf der Hacienda gemächlich und gemütlich zu. Niemand regte sich auf. Es wurde nicht gehetzt, nicht getrieben, und wenn wirklich einmal geschimpft wurde, so geschah das nur der Abwechslung wegen und weil das Leben ja so eintönig verlaufen würde, wenn nicht gelegentlich einmal die Ventile geöffnet würden.

Die helfenden Hände auf der Hacienda waren Totonaca-Indianer wie der Besitzer. Sie bekamen keine hohen Löhne. Gewiss nicht. Aber jede Familie hatte ihre Hütte mit einem geräumigen Hof. Die Familie konnte Vieh halten nach Belieben und auf dem Land, das ihr entsprechend ihrer Kopfzahl zugewiesen war, anbauen, was ihr für ihren Unterhalt nötig schien.

Alle Familien, die hier wohnten, lebten seit Generationen auf der Hacienda. Beinahe alle waren mit dem Besitzer versippt und verschwägert. Einige der Familien verdankten ihre Entstehung der großen Zeugungsfähigkeit eines der Vorfahren des Jacinto. Jacinto war der Pate wohl so ziemlich aller Kinder, die auf der Hacienda geboren wurden, und Señora Yañez war die Patin.

Der Pate, el padrino, und die Patin, la madrina, nehmen in Mexiko eine ungemein wichtige Stellung innerhalb der Familiengemeinschaft ein. Das rührt von uralten Zeiten der Indianer her. Trotz der häufigen Verheiratung der Spanier mit indianischen Frauen haben sich in den Sitten des mexikanischen Volkes zahlreiche Gewohnheiten, Gebräuche, Worte, Redewendungen der Indianer erhalten, besonders wo es sich um Küche, Haus und Familienbeziehungen handelt, also in jenen Dingen, wo der Mann gewöhnlich passiv und neutral ist, weil sie das Urgebiet der Frau betreffen. Der Pate galt im alten indianischen Mexiko – und gilt im heutigen Mexiko – ebenso viel für das Kind wie der eigene Vater. In zahlreichen Fällen, wenn der Vater stirbt oder sich, gleichviel aus welchen Gründen, unfähig erweist, Erzieher des Kindes zu sein, tritt der Pate in die vollen Rechte und Pfl‌ichten des Vaters ein. Der Pate hat sich um das Wohlergehen des Kindes, dessen Pate er ist, zu kümmern. Wenn ihn auch das öffentliche Gesetz nicht zwingt, seine Pfl‌icht gegenüber dem Kinde, das der Hilfe bedarf, zu erfüllen, so wird er sich dieser Pfl‌icht nicht so ohne Weiteres entziehen; denn er würde dadurch Achtung und Ansehen verlieren, genauso gut, als wenn er irgendeine sonstige schäbige Handlung beginge, die vielleicht vom Gesetz, nicht aber von dem Gesellschaftskreis, dem er angehört, verziehen wird.

Der Vater des Kindes nennt den Paten des Kindes Compadre, das heißt Mit-Vater, und die Patin nennt er Comadre, das ist Mit-Mutter. Beide, Pate und Vater, reden sich mit Compadre an, und die Patin und die Mutter nennen sich gegenseitig Comadre.

Aus diesen Gründen betrachten sich der Vater sowie der Pate des Kindes als Brüder, und das Verhältnis zwischen beiden ist oft herzlicher als das zwischen Blutsverwandten, weil die Wahl eine freiwillige ist und von der Sympathie abhängt, die jene zwei Leute füreinander...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2024
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1920er Hacienda • Farm • Indianer • Kapitalismus • Klassiker • Mexiko • Mord • Ölfirma • Ölkonzern • Roman • Skrupellosigkeit • Verbrechen
ISBN-10 3-257-61479-9 / 3257614799
ISBN-13 978-3-257-61479-4 / 9783257614794
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