Herz der Finsternis (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 2. Auflage
256 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60857-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Herz der Finsternis -  Joseph Conrad
Systemvoraussetzungen
12,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Kapitän Marlow steuert seinen Flußdampfer immer tiefer in die Wildnis des Kongo, ins Herz des Schwarzen Kontinents, wo er auf den zwielichtigen Elfenbeinhändler Kurtz stößt.

Joseph Conrad, 1857 in Berditschew (Ukraine) geboren, war Sohn polnischer Landadliger. Er fuhr schon mit siebzehn Jahren für französische und englische Handelsgesellschaften zur See und erwarb zwölf Jahre später das Kapitänspatent. Für seine Romane wählte er die englische Sprache, die er in allen Finessen erlernt hatte, die er allerdings - zum Erstaunen und zur Erheiterung seiner Verehrer - mit fürchterlichem Akzent gesprochen haben soll. Conrad starb 1924 in Bishopsbourne (England).

Die Nellie, eine Hochseejacht, drehte sich ruhig um ihren Anker, ohne dass ihre Segel sich auch nur ein bisschen regten. Die Flut hatte eingesetzt, es war nahezu windstill, und da wir stromabwärts wollten, blieb uns nichts anderes übrig, als auf Wind und den Wechsel der Gezeiten zu warten.

Die Mündung der Themse lag wie der Anfang einer endlosen Wasserstraße vor uns. In der Ferne verschmolzen das Meer und der Himmel, und in dem leuchtenden Raum schienen die Segel der Barken, die mit der Flut hochtrieben, bewegungslos zu schweben, rote Tuchhaufen, über denen zuweilen lackierte Spriete glänzten. Dunst lag über den niedern Ufern und löste sich im flachen Wasser auf. Die Luft war dunkel über Gravesend und schien weiter landeinwärts zu einer noch weit trostloseren Düsternis verdichtet, die schwer über der größten, der herrlichsten Stadt auf Erden hing.

Ein Direktor mehrerer Unternehmen war unser Kapitän und Gastgeber. Wir vier betrachteten angerührt seinen Rücken, während er im Bug stand und aufs Meer hinaussah. Auf dem ganzen Fluss gab es nichts, was auch nur halb so seemännisch ausgesehen hätte. Er glich einem Lotsen, der – für einen Seemann – fleischgewordenen Vertrauenswürdigkeit. Kaum vorstellbar, dass seine Arbeit nicht dort draußen in der lichtvollen Flussmündung, sondern hinter ihm im Dunkeln lag.

Uns verband, wie ich schon anderswo ausgeführt habe, die See. Zum einen hielt dies unsre Herzen in Zeiten langer Trennungen zusammen, und zum andern bewirkte es, dass wir alle Lügengeschichten nachsichtig hinnahmen – und sogar das, was einer felsenfest glaubte. Der Rechtsanwalt – ein alter Goldschatz – hatte, seiner vielen Jahre und vielen Verdienste wegen, das einzige Kissen an Deck und lag auf der einzigen Wolldecke. Der Buchhalter hatte bereits eine Schachtel voller Dominosteine hervorgeholt und baute sie zu einem kunstvollen Gebäude auf. Marlow saß mit gekreuzten Beinen bolzgerade da und lehnte sich an den Besanmast. Seine Wangen waren eingefallen, sein Gesicht war gelb, sein Rücken steif, er sah asketisch aus und glich, weil er seine Arme hängen ließ und die Handflächen nach außen kehrte, einem Götzenbild. Der Direktor hatte sich überzeugt, dass der Anker hielt, kam nach achtern und setzte sich zu uns. Wir wechselten ein paar Worte, faul. Danach herrschte Schweigen an Bord der Jacht. Aus irgendeinem Grund fingen wir nicht mit dem Dominospiel an. Wir fühlten uns nachdenklich und nur dazu fähig, friedlich vor uns hin zu glotzen. Der Tag ging in einem klaren, stillen und wunderbaren Glanz zu Ende. Das Wasser glitzerte friedvoll; der Himmel, ohne einen Makel, war eine wohltuende Unendlichkeit reinen Lichts; sogar der Dunst der Sümpfe von Essex glich einem Gewebe aus leuchtender Gaze, das von den waldigen Höhen des Binnenlands herabhing und seine durchsichtigen Falten über die flachen Ufer warf. Nur die Düsternis im Westen, die weiter oben über dem Fluss lag, wurde von Minute zu Minute tiefer, als reize sie das Nahen der Sonne.

Und endlich sank die Sonne in einem krummen und nicht wahrnehmbaren Sturz zum Horizont hinunter und war nun nicht mehr gleißend weiß, sondern dumpf und rot und ohne Strahlen und Wärme, als wolle sie gleich verlöschen, tödlich getroffen, weil sie jene Düsternis berührt hatte, die über einer Masse aus Menschen lastete.

Sofort veränderte sich das Wasser, und es wurde weniger klar und leuchtend, dafür umso tiefgründiger. Die breite Mündung des alten Flusses lag, während der Tag verging, spiegelglatt da, nach Jahrhunderten treuer Dienste, die er den Geschlechtern an seinen Ufern geleistet hatte. Er breitete sich mit der stillen Würde einer Wasserstraße aus, die zu den entferntesten Enden der Erde führt. Wir betrachteten den Strom nicht mit dem heftigen Gefühlssturm eines kurzen Tags, der kommt und für immer geht, sondern im erhabenen Licht bleibender Erinnerungen. Und tatsächlich ist für jemanden, der, wie man wohl sagt, »mit Leib und Seele zur See fuhr«, nichts einfacher, als in der Mündung der Themse den großen Geist vergangener Tage zu beschwören. Ihre unaufhörlich wechselnden Gezeiten sind voller Erinnerungen an Menschen und Schiffe, die sie einst in ihr friedliches Heim oder zu Seeschlachten trug. Sie hatte all die Männer gekannt und befördert, auf die die Nation stolz ist, von Sir Francis Drake bis zu Sir John Franklin, all die hochwohlgeborenen und all die nicht ganz so edlen Ritter – die großen fahrenden Haudegen der See. Sie hatte all die Schiffe getragen, deren Namen wie Juwelen in der Nacht der Zeit leuchten, von der Golden Hind, deren runde Wände voller Schätze waren und von Ihrer Majestät der Königin besucht wurden – was die gewaltige Geschichte zu einem guten Ende brachte –, bis hin zur Erebus und zur Terror, die zu andern Raubzügen aufbrachen und nie zurückkehrten. Sie hatte die Schiffe und die Menschen gekannt. Sie waren in Deptford, in Greenwich, in Erith aufgebrochen – die Abenteurer und die Auswanderer; Schiffe des Königs und die Schiffe der Londoner Spekulanten; Kapitäne, Admirale, die finsteren »Schmuggler« des Osthandels und die konzessionierten »Generäle« der East-India-Company-Flotte. Goldsucher und Ruhmsüchtige, alle waren sie auf diesem Strom in die Ferne gefahren, mit dem Schwert in der Hand und oft mit der Fackel der Aufklärung, Boten der Macht des zurückgelassenen Lands, Träger eines Funkens der heiligen Flamme. Wie viel Kraft und Größe war nicht mit der Ebbe dieses Flusses zu den Rätseln einer unbekannten Welt hinausgetrieben worden! Die Träume von Menschen, das Saatgut neuer Staaten, die Keime von Weltreichen.

Die Sonne ging unter; die Dämmerung brach über den Strom herein, und Lichter begannen längs der Küste aufzuleuchten. Der Leuchtturm von Chapman, ein dreibeiniges Ding, das in einer Untiefe voller Schlick stand, strahlte hell. Lichter von Schiffen bewegten sich in der Fahrrinne – ein Gewimmel aus Lichtern, die auf- und abwärts fuhren. Und weiter im Westen, stromaufwärts, war der Standort der monströsen Stadt immer noch wie ein böses Vorzeichen am Himmel festgehalten, ein unheilschwanger düsterer Fleck im Schein der Sonne, ein gespenstisches Leuchten unter den Sternen.

»Und das hier«, sagte Marlow plötzlich, »ist auch einer der finstern Orte der Erde gewesen.«

Er war der Einzige von uns, der immer noch »dem Lockruf der See gehorchte«. Das Schlimmste, was man ihm nachsagen konnte, war, dass er seinen Berufsstand nicht besonders gut vertrat. Er war ein Seemann, aber er war auch ein Herumgetriebener, während die meisten Seeleute ein, falls man das so ausdrücken darf, sesshaftes Leben führen. Ihr Gemüt ist häuslich, und ihr Haus begleitet sie überallhin – das Schiff; und das tut auch ihre Heimat – das Meer. Ein Schiff sieht wie das andere aus, und das Meer ist immer das Gleiche. Ihre Umgebung ist so unveränderlich, dass die fremden Küsten, die fremden Gesichter, die wechselnde Unendlichkeit des Lebens einfach an ihnen vorbeigleiten, und sie sind dabei nicht etwa so ahnungslos, weil sie all die Rätsel respektieren, sondern wegen ihrer leicht verachtungsvollen Ignoranz. Denn einem Seemann ist nichts geheimnisvoll, außer dem Meer selbst, das der Herr seines Lebens und so unergründlich wie das Schicksal ist. Im Übrigen genügt ihm, nach einem Arbeitstag, ein kleiner Bummel oder ein gelegentliches Besäufnis an Land, um ihm das Geheimnis eines ganzen Kontinents zu offenbaren, und in der Regel findet er nichts Besonderes daran. Die Erlebnisberichte der Seeleute sind von einer gradlinigen Schlichtheit, und ihr ganzer Sinn findet in einer Nussschale Platz. Aber Marlow war nicht typisch (von seiner Neigung, Geschichten zu erzählen, einmal abgesehen), und für ihn lag der Sinn einer Begebenheit nicht in ihrem Innern, wie ein Kern, sondern außen; er umhüllte die Erzählung, die ihn nur so, wie Glut Rauch hervorbringt, erkennbar ließ, ähnlich einem jener Dunsthöfe, die man zuweilen im geisterhaften Licht des Monds sehen kann.

Seine Bemerkung überraschte keinen von uns. Sie passte zu Marlow. Sie wurde schweigend aufgenommen. Keiner machte sich auch nur die Mühe zu grunzen; dann sagte er sehr langsam –

»Ich dachte eben an sehr alte Zeiten, als die Römer zum ersten Mal hierher kamen, vor neunzehnhundert Jahren – kürzlich also … Licht strahlte seitdem aus diesem Fluss auf – wer hat eben von Rittern gesprochen? Ja; aber das ist wie ein rasendes Feuer in einer Ebene, wie ein Blitz in den Wolken. Wir leben in diesem jähen Licht – möge es leuchten, solange sich die gute alte Erde dreht! Aber Finsternis herrschte hier noch gestern. Stellt euch die Gefühle eines Kommandanten einer prächtigen – wie hießen die Dinger nur? – Trireme im Mittelmeer vor, der plötzlich in den Norden versetzt wird; in aller Eile hetzt man ihn auf dem Festland durch Gallien; übergibt ihm das Kommando über eins dieser Schiffe, von denen die Legionäre – sie müssen ein prächtiger Haufen handfertiger Männer gewesen sein – damals offenbar ein paar hundert Stück in ein, zwei Monaten zu bauen imstande waren, wenn wir glauben wollen, was wir darüber lesen. Stellt ihn euch hier vor – am Arsch der Welt, das Meer wie aus Blei, der Himmel rauchfarben, auf einem Schiff, das so widerstandsfähig wie eine Ziehharmonika ist –, wie er mit Nachschub oder Befehlen oder was auch immer diesen Fluss hochfährt. Sandbänke, Sümpfe, Wälder,...

Erscheint lt. Verlag 26.6.2024
Übersetzer Urs Widmer
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Heart of Darkness
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Afrika • Ausbeutung • Elfenbein • Geschichte • Gesellschaft • Gewalt • Joseph Conrad • Klassiker • Kolonie • Kongo • Meer • Novelle • Rassismus • Reise • Roman • Schiff • Seemann • Unterdrückung
ISBN-10 3-257-60857-8 / 3257608578
ISBN-13 978-3-257-60857-1 / 9783257608571
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 896 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Iris Wolff

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
18,99