Neopolis - Ein Fehler im System (eBook)
304 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60563-2 (ISBN)
Karl Olsberg, geboren 1960, promovierte über Anwendungen Künstlicher Intelligenz, war Marketingdirektor eines TV-Senders, Geschäftsführer und erfolgreicher Gründer zweier Unternehmen in der »New Economy«. Er wurde unter anderem mit dem »eConomy Award« der Wirtschaftswoche für das beste Start Up 2000 ausgezeichnet. Heute arbeitet er als Unternehmensberater und lebt mit seiner Familie in Hamburg. Er veröffentlichte bereits zahlreiche Bücher, darunter seine Thriller »Enter« und »Delete«.
Karl Olsberg, geboren 1960, promovierte über Anwendungen Künstlicher Intelligenz, war Marketingdirektor eines TV-Senders, Geschäftsführer und erfolgreicher Gründer zweier Unternehmen in der »New Economy«. Er wurde unter anderem mit dem »eConomy Award« der Wirtschaftswoche für das beste Start Up 2000 ausgezeichnet. Heute arbeitet er als Unternehmensberater und lebt mit seiner Familie in Hamburg. Er veröffentlichte bereits zahlreiche Bücher, darunter seine Thriller »Enter« und »Delete«.
1.
Von meinem Fenster im siebzehnten Stock aus wirkte Neopolis wie ein riesiger künstlicher Organismus. Ich konnte die Menschen auf den Straßen herumwuseln sehen wie Ameisen, zwischen denen autonome Fahrzeuge hin und her flossen wie metallene Blutkörperchen in den Adern der Stadt. Jetzt, am frühen Nachmittag, waren kaum Unberechtigte unterwegs. Der langsame Puls dieses gigantischen Lebewesens hatte sie heute früh in Richtung seines Herzens hier im Zentrum gesogen, nur um sie abends wieder zurück in die nördlichen Stadtbezirke zu pumpen, überwacht und gesteuert von einem mächtigen Gehirn, das aus Billionen elektronischer Nervenzellen überall um mich herum bestand.
Ich war mir nicht sicher, ob ich ein Teil dieses Organismus war oder eher ein Fremdkörper, wie eine abgestorbene Zelle, die irgendwo im Blutkreislauf festhängt, bis sie fortgespült oder von einer Fresszelle entsorgt wird.
Drei Tage war es her, seit ich Adinas Wohnung verlassen hatte und in dieses luxuriöse Hotelzimmer unweit des Platzes des Propheten gezogen war. Drei Tage, in denen ich mit mir gehadert und die meiste Zeit bloß unschlüssig herumgesessen hatte, von kurzen Abstechern in das hoteleigene Fitnessstudio abgesehen.
Ein paarmal war ich kurz davor gewesen, die Stadt zu verlassen. Dann wieder hatte es mich gedrängt, Nara Rynkova oder sogar Aron Keaton zu kontaktieren und zu beichten, dass ich gelogen hatte, als ich behauptete, das »Pandora-Problem« sei gelöst. Doch die Aussicht, was dann mit den Unberechtigten und vor allem mit Adina geschehen würde, hatte mich jedes Mal zurückschrecken lassen.
Die Verantwortung für das Schicksal von Millionen Menschen schien auf mir zu lasten. Doch was konnte ich tun, außer abzuwarten, wie Pandora ihre neue Macht nutzen würde?
Bisher hatte sich anscheinend nichts verändert. Die Touristen pilgerten trotz der Probleme der letzten Wochen weiterhin hierher und der Börsenkurs hatte sich erholt, nachdem die Massenproteste abgeklungen waren. Doch ich spürte, dass es hinter den Kulissen gor und die Ruhe trügerisch war.
Ich fragte mich, was Pandora mit meiner Unschlüssigkeit anfangen würde. Seit ich als virtueller Geist durch die Stadt gewandert war, wusste ich, dass sie mich permanent beobachtete, dass sie jetzt hier in meinem Zimmer war, wenn auch unsichtbar, unfühlbar. Ich kam mir vor wie ein Goldfisch im Glas, der von einem neugierigen Mädchen mit dunklen Haaren und einem weißen Kleid betrachtet wurde.
Machte es irgendeinen Unterschied, was ich tat? Wusste sie nicht ohnehin bereits, wie ich mich entscheiden würde? Immerhin kannte sie mich besser, als ich mich selbst kannte, denn sie wusste nicht nur alles über die menschliche Psyche, sondern konnte mich auch mit Millionen anderer Menschen vergleichen. Jede meiner Regungen, jede winzige Schwankung meiner Pulsfrequenz oder Körpertemperatur nahm sie wahr und interpretierte sie. Ständig lieferte ich ihr neue Daten, um ihr Modell von mir zu vervollkommnen.
Brauchte sie mich überhaupt noch? Wäre es nicht das Beste, wenn ich der Stadt endlich den Rücken kehrte und versuchte, alles hinter mir zu lassen, was ich hier erlebt hatte? War es nicht höchste Zeit, ein neues Leben zu beginnen, in dem ich nicht rund um die Uhr beobachtet wurde und in dem meine Handlungen für niemanden Konsequenzen hatten außer für mich selbst?
Doch statt die Holobrille vom Nachtschrank zu nehmen und meinen Dschinn zu bitten, mir einen Flug zu buchen, blieb ich wie gelähmt stehen und starrte weiter aus dem Fenster. Ich fühlte mich wie ein Roboter ohne Programm: eine Maschine ohne eigenen Willen, die geduldig auf neue Anweisungen wartete.
Zum zehntausendsten Mal an diesem Tag wanderten meine Gedanken zu Adina. Ich sah sie vor mir, wie sie in ihrer Wohnung auf dem Sofa gesessen hatte, zum Greifen nah und doch nichts als eine Illusion, eine verführerische Fata Morgana. Eine Zeit lang werde ich noch untergetaucht bleiben, bis Pandora eine Amnestie für alle Rebellen erreicht hat, hatte sie gesagt. Doch sie hatte mich dabei nicht angesehen.
Warum, verdammt noch mal, war es so schwer, sie loszulassen?
Ein Seufzer entfuhr mir. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst, meine Naivität, diese alberne Verliebtheit, die mich traurig und trotzig machte, als wäre ich ein pubertierender Teenager.
In der Hoffnung, dass der frische Wind des Meeres und das Geräusch der Wellen mich beruhigen würden, beschloss ich, einen Strandspaziergang zu machen. Gerade als ich mich zur Tür umwandte, meldete sich meine Holobrille mit einem sanften Glockenton.
Ich erstarrte, während mein Puls in die Höhe schoss. Was, wenn das Rynkova oder gar Keaton war? Es konnte nicht lange dauern, bis die Shareholder herausfanden, dass Pandora noch existierte, das war mir von Anfang an klar gewesen. Sie würden dann zumindest ahnen, dass ich davon gewusst hatte, mich in die Mangel nehmen, mich mit einem untäuschbaren Lügendetektor verhören oder mich gar an Tomitas Gedankenlesemaschine anschließen und die Wahrheit aus mir heraussaugen. Ich würde für Jahre im Gefängnis landen, sofern mich Pandora nicht irgendwie davor bewahrte. Es war leichtsinnig und dumm von mir, hier in der Stadt zu bleiben!
Andererseits: Wenn Keaton oder Rynkova bereits wussten, was los war, würden sie mich nicht über meine Holobrille kontaktieren, sondern mir ein Spezialeinsatzkommando auf den Hals hetzen.
Wer konnte es sonst sein? Adina vielleicht? Hatte Pandora die Amnestie für die Rebellen womöglich bereits erreicht, und sie war in ihre Wohnung zurückgekehrt? Rief sie mich an, um mich dorthin zurückzuholen? Oder um sich endgültig von mir zu verabschieden?
Setz endlich die Brille auf, du Idiot, dann weißt du’s, schalt ich mich selbst.
Mit zitternden Fingern nahm ich sie vom Nachtschrank und schob sie mir ins Gesicht.
Statt meines Dschinns sah ich Pandora neben dem Bett stehen. Sie legte einen Finger an die Lippen.
»Folge dem Phönix!«, sagte sie. »Keine Brille. Nicht sprechen.«
Damit verschwand sie.
»Was kann ich für dich tun, Nick?«, fragte mein Dschinn, der an ihrer Stelle erschienen war. »Du wirkst angespannt. Möchtest du vielleicht einen Holofilm sehen?«
»Nein danke.«
Ich nahm die Brille wieder ab, legte sie auf den Nachtschrank und blickte mich um, doch ich sah keinen symbolischen Phönix, dem ich hätte folgen können. Auch der Blick aus dem Fenster half mir nicht weiter.
Was hatte das zu bedeuten?
Ein paar Minuten wartete ich ab, ob vielleicht eine weitere Nachricht kam oder jemand mit einem Phönix-Tattoo auf der Schulter an meine Zimmertür klopfte. Als das nicht geschah, verließ ich das Hotel.
Draußen schlug mir die Hitze Arabiens ins Gesicht. Die Straße war voller Touristen. Sie gingen an mir vorbei, ohne mich zu beachten, während sie die Köpfe drehten, um die für mich unsichtbaren Illusionen durch ihre Holobrillen zu bestaunen.
Was nun? Sollte ich einfach hier stehen bleiben und warten? Das würde merkwürdig aussehen. Pandora musste sich darum sorgen, dass ich überwacht wurde, sonst hätte sie mir nicht diese kryptischen Anweisungen gegeben. Vermutlich hatte mich Keatons eigener Sicherheitsdienst nicht aus den Augen gelassen, seit ich den System-Reset erzwungen hatte. Wahrscheinlich verließen sich Keatons Leute bei meiner Überwachung auf das HARIS-Sicherheitssystem der Stadt, das inzwischen von Pandora kontrolliert wurde. Doch wenn sie die Streams, auf denen ich zu sehen war, dauernd manipulierte, würde das früher oder später auffallen. Außerdem war es nicht ausgeschlossen, dass Keaton zusätzlich eigene, von HARIS unabhängige Spionagedrohnen einsetzte.
Aufs Geratewohl wandte ich mich nach rechts in Richtung des Platzes des Propheten. Immer wieder blickte ich hinauf in den Himmel, doch ich sah kein Fluggerät in der Form eines mythologischen Wundervogels, sondern nur die üblichen Transport- und Sicherheitsdrohnen. Auch die Fahrzeuge auf der Straße wiesen keine Besonderheiten auf.
Schließlich erreichte ich den Platz vor der großen Moschee. Dutzende von Touristen flanierten dort, meistens Familien und überschaubare Reisegruppen, und bewunderten die Moschee und die vielen virtuellen Wunder, die ihre Brillen ihnen vorgaukelten. Ich tat es ihnen gleich, wobei ich mir bewusst war, dass mein...
Erscheint lt. Verlag | 28.3.2024 |
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Reihe/Serie | Neopolis | Neopolis |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | action • augmented reality • Karl Olsberg • KI • KI-Experte • Krimi • Künstliche Intelligenz • Near future • near future thriller • Science Fiction • Sci-fi • Spannung • Thriller • Trendthemen • Virtual Reality • VR • Zukunft |
ISBN-10 | 3-492-60563-X / 349260563X |
ISBN-13 | 978-3-492-60563-2 / 9783492605632 |
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