Gebrauchsanweisung für Nachbarn (eBook)
224 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60578-6 (ISBN)
Martin Hyun, 1979 in Krefeld geboren und Sohn koreanischer Gastarbeiter, studierte Politik, International Business und International Relations in den USA, Belgien und Bonn. Er war der erste koreanischstämmige Bundesliga-Profi in der Deutschen Eishockey Liga (DEL) sowie Junioren-Nationalspieler Deutschlands. Seit 2002 bereist er Südkorea, wo er 2005 für ein Jahr lebte und im koreanischen Parlament arbeitete. Zudem war er 2018 als Deputy Sport Manager für Eishockey und Para-Eishockey im Organisationskomitee der Olympischen Winterspiele tätig. Er ist Gründer des interkulturellen Vereins »Hockey is Diversity e.V.« und veröffentlichte u.a. den Band »Ohne Fleiß kein Reis. Wie ich ein guter Deutscher wurde«. Zuletzt schrieb er bei Piper gemeinsam mit Wladimir Kaminer die »Gebrauchsanweisung für Nachbarn«. Er lebt mit seiner Frau in Berlin.
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Martin Hyun, 1979 in Krefeld geboren und Sohn koreanischer Gastarbeiter, studierte Politik, International Business und International Relations in den USA, Belgien und Bonn. Er war der erste koreanischstämmige Bundesliga-Profi in der Deutschen Eishockey Liga (DEL) sowie Junioren-Nationalspieler Deutschlands. Seit 2002 bereist er Südkorea, wo er 2005 für ein Jahr lebte und im koreanischen Parlament arbeitete. Von 2010 bis 2014 war er freiberuflich als Kolumnist für Deutschlandradio Kultur tätig. Er ist Gründer des interkulturellen Vereins »Hockey is Diversity e.V.« und veröffentlichte u.a. den Band »Ohne Fleiß kein Reis. Wie ich ein guter Deutscher wurde«. Zuletzt arbeitete er als Deputy Sport Manager für Eishockey und Para-Eishockey im Organisationskomitee der Olympischen Winterspiele 2018 in Südkorea. Wladimir Kaminer, geboren 1967 in Moskau, absolvierte eine Ausbildung zum Toningenieur für Theater und Rundfunk und studierte anschließend Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Seit 1990 lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin. Er veröffentlicht regelmäßig Texte in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, und mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.
Unsere Arche Noah
Wladimir Kaminer
Eines Tages mitten im Sommer wurde ich von Kirchenglocken geweckt. Ich hörte sie nah und deutlich, als würde bei uns im Haus jemand um zehn vor neun laut die Glockenzunge schwingen. Woher kamen die Glocken? Wir haben weit und breit keine Kirche in unserer Straße, die nächste ist die Gethsemanekirche, die Wiege der deutsch-deutschen Revolution, sie hat ein kaputtes Dach, soweit ich weiß, keine Glocken mehr und ist gute zwei Kilometer entfernt. Hatten etwa meine Nachbarn bei sich zu Hause Glocken aufgehängt und schwangen ihren Strang, um unser Wohngemeinschaftsgefühl zu stärken?
Ich hätte es ihnen zugetraut, das Ehepaar, das über uns wohnt, singt in einem Chor. Sie heißt Julia, und ihren Mann kenne ich nur vom Sehen, ich glaube, sie haben sich beim Singen kennengelernt und noch im gleichen Jahr ein sehr lautes Kind zur Welt gebracht, das sehr schnell wächst und bald wahrscheinlich im gleichen Chor mitsingen wird. Eine Kirchenglocke mit nach Hause zu nehmen wäre für die junge Familie sicher eine konsequente Entscheidung, eine Bereicherung ihrer heimischen Idylle.
Ich schaute trotzdem vom Balkon herunter, in der Hoffnung irgendwo unten eine Glocke zu entdecken, die Stadt wird laut bei hohen Temperaturen. Der Sommer brachte eine Hitzewelle nach der anderen, ich verbrachte die meiste Zeit auf dem Balkon, machte alle Fenster und Türen in der Wohnung auf, um ein bisschen durchzulüften, und mit der warmen Luft füllten sich die Räume auch mit Straßengeräuschen – im Vorderhaus, erster Stock, wie konnte es anders sein?
Man hörte, wie die Bremsen der Fahrradkuriere quietschten und wie Farid unten in der Eisdiele im Erdgeschoss seinen Eisportionierer auswischte. Aber keine Glocken bis jetzt. Neben der Eisdiele haben wir noch ein streng riechendes nepalesisches Streetfood-Restaurant mit hundert Reisgerichten und exotisch gefärbten kleinen Köstlichkeiten. Dort habe ich schon einmal aus Versehen in die Serviette gebissen, weil ich sie mit einer nepalesischen Vorspeise verwechselt hatte. Ehrlich gesagt, schmeckte die Serviette ähnlich. In einem Buch über indonesische Landarbeiterkollektive las ich neulich, dass Reis sprechen kann. Jedes Reiskorn spricht zu uns, erzählen die Indonesier, es spricht zwar sehr leise, aber wenn es viele Körner sind, kann es richtig laut werden. Deswegen kracht es so gewaltig, wenn ein Sack Reis irgendwo auf der Welt umfällt. Das ist ein sehr poetisches Bild. Seit ich darüber gelesen habe, bilde ich mir ein, dass ich Reisgespräche hören kann, besonders wenn die Gäste unten im Restaurant zu viel davon auf dem Teller lassen, ihre bestellten Gerichte nicht aufessen.
In solchen Augenblicken möchte ich vom Balkon runterschreien: »Bitte aufessen!« Aber ich traue mich nicht. Sie würden denken, ich sei verrückt geworden. In meinem sowjetischen Kindergarten hatte unsere Erzieherin, die dicke Tamara, zur Mittagszeit immer auf Lenin gezeigt, der von einem Bild an der Wand streng auf uns herabblickte. Tamara wollte uns mit diesem simplen Trick zum Aufessen zwingen. Sie sagte, sollten wir irgendetwas vom widerlichen Kartoffelpüree auf dem Teller lassen oder gar versuchen, das Zeug wegzuschmeißen, würde der Anführer des Weltproletariats es merken und uns bestrafen. Es war unsere heilige Pflicht, alles aufzuessen und groß und stark zu werden, um beim Aufbau des Kommunismus kräftig mitzuhelfen.
Unser Kinderkollektiv steckte in einer verheerenden Sackgasse, wir konnten das widerliche Püree nicht aufessen, aber es wegzuschmeißen ging auch nicht, wegen Lenins streng blickenden Augen. Zum Glück hatten wir das Kind Alexander in unserer Gruppe, einen Jungen mit unglaublichem Appetit, er hat für alle aufgegessen und ist, glaube ich, auch als Einziger aus unserem Kollektiv groß und stark geworden. Er wog schon damals mehr als die Erzieherin, ein richtiges 100-Kilo-Baby. Dem Kommunismus hat es trotzdem nicht geholfen. Seit dem Kindergarten misstraue ich den Kollektiven, und ich weiß, dass dieses Misstrauen von vielen meiner Landsleute, die eine sozialistische Erziehung genossen haben, geteilt wird.
Ob in der Schule, beim Sport, in der Armee oder bei der Arbeit, wir mussten immer alles, egal was, Hauptsache, gemeinsam tun. Nur zu Hause im privaten Raum, zu dem der Staat keinen Zugang hatte, konnte man sich von den Kollektiven lösen und nur für sich und seine Familie da sein. Lange Zeit haben meine Eltern wie viele andere Bürger in meiner Heimat in kommunalen Wohnungen gelebt, es waren unfreiwillige Wohngemeinschaften, drei oder vier Familien teilten sich eine Wohnung, hatten eine gemeinsame Küche und ein gemeinschaftlich genutztes Bad. In der Regel waren es Menschen, die einander nicht leiden konnten, sie wurden wegen der engen Wohnbedingungen zur Kooperation gezwungen, mussten auf dem gleichen Herd kochen, im gleichen Kühlschrank ihre Töpfe aufbewahren und ständig aufpassen, dass der Nachbar einem nicht in die Suppe spuckte. Eine solche Enge des Wohnraums kann selbst die fröhlichsten und anständigsten Menschen verderben. Sie waren nicht einmal in der Lage, gemeinsam Toilettenpapier einzukaufen oder die Stromkosten gerecht zu teilen, jeder ging mit seiner eigenen Glühbirne auf die Toilette. In einer solchen Wohnung bin ich auf die Welt gekommen. Erst als ich drei Jahre alt wurde, bezogen meine Eltern eine eigene kleine Zweizimmerwohnung in einem neu gebauten Haus am Moskauer Stadtrand.
Alle in diesem Haus waren frisch eingezogen, sie freuten sich sehr über die Unabhängigkeit, die ihnen geschenkt wurde, und wollten von den Nachbarn nichts wissen. Wir wussten nicht einmal, wie unsere Nachbarn hießen. Es war nicht üblich in der Sowjetunion, seinen Namen an die Tür oder an den Briefkasten zu schreiben. Die Türen und die Briefkästen waren nummeriert. Unser Haus hatte 180 Wohneinheiten – nicht zu viel und nicht zu wenig für sowjetische Verhältnisse. Die Wohnung 77 war unsere ganz private Arche Noah, meine Eltern hatten keine Lust, die 76er oder die 78er kennenzulernen, von den restlichen 177 Wohneinheiten ganz zu schweigen.
Der einzige Mann, den alle im Haus kannten, war der Klempner Viktor aus dem ersten Stock. Ich glaube, er hatte ein Problem mit häuslicher Gewalt. Er schlug seine Frau, die ihn daraufhin verließ, aber nach einer Weile immer wieder zurückkam. In den Phasen des Alleinseins fing Klempner Viktor an zu saufen. In betrunkenem Zustand schlich er durchs Haus, klopfte an jede Tür und rief: »Machen Sie auf, ich höre eine Frau schreien! Ich weiß, was Sie gerade treiben, öffnen Sie, sonst breche ich die Tür auf.« Er hörte schreiende Frauen im Suff. Niemand hat ihm aufgemacht. Kollektive waren bei uns verpönt. Erst im sonnigen Deutschland wurde ich wieder mit Nachbarkollektiven konfrontiert. Wir sind in Berlin in ein Haus gezogen, in dem fast nur junge, aufgeklärte Wessis mit kleinen Kindern lebten, herzensgute Menschen, die Grün wählen, kein Fleisch essen und die Welt retten wollen. Sie haben große Lust an kollektiven Taten, ohne sich einander einzuladen. Einige von ihnen sind Chorsänger.
Gleich im ersten Jahr bekamen wir im hauseigenen Chat von den Nachbarn das Angebot, im Projekt »Das singende Haus« mitzuwirken. Dafür sollten wir am Heiligen Abend »Stille Nacht, heilige Nacht« singen, alle zusammen und zur gleichen Zeit, aber jeder auf seinem eigenen Balkon.
»Danke für die Einladung, aber lieber nicht, wir kennen den Text nicht«, antwortete ich.
»Den Text kann ich Ihnen schicken«, schrieb uns die Nachbarin Julia zurück.
Wir haben uns erst nichts dabei gedacht, hielten es für eine lustige Marotte. Okay, das sind die Zeichen der Zeit: Kollektive arbeiten gern an Projekten und singen gern. Das ist nichts Ungewöhnliches hierzulande. Ich habe mal in einer Statistik gelesen, dass 14 Millionen Deutsche in Chören singen, das will schon was heißen. Etliche Männer und Frauen haben sich in Chören kennengelernt, ihre Kinder haben vermutlich gleich nach der Geburt auch zu singen angefangen. Wenn alle Chordeutschen gleichzeitig »Stille Nacht, heilige Nacht« anstimmen, zittern wahrscheinlich die Fensterscheiben von Hoyerswerda bis Baden-Baden.
Alle Nachbarn haben den Vorschlag, gemeinsam zu singen, sofort mit Begeisterung aufgenommen. Außer uns. Wir verstanden nicht, warum wir mit den Nachbarn »Stille Nacht« singen sollten, wir hatten andere Dinge vor. Die Nachbarn haben unsere Absage mit Verständnis aufgenommen, wir...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Comic / Humor / Manga ► Humor / Satire |
Schlagworte | Alltagsleben • Berlin Wedding • Gebrauchsanweisung • Geschenkbuch • Geschenkbuch für Nachbarn • Hyun • Kaminer • Koreanisch • Krefeld • lustig • martin hyun • Mitbewohner • Multikulti • multikulturell • Nachbar • Nachbarin • Nachbarland • Nachbarn • Nachbarschaft • Nachbarschaftsbeziehungen • Nachbarschaftsstreit • Prenzlauer Berg • Russisch • Schrebergarten • Sitznachbar • Solidarität • Vietnamesisch • WG • WG-Leben • Wladimir Kaminer • Wohngemeinschaft |
ISBN-10 | 3-492-60578-8 / 3492605788 |
ISBN-13 | 978-3-492-60578-6 / 9783492605786 |
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