Blutanger (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
496 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-30555-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Blutanger -  Elisabeth Herrmann
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Ein Toter in Rumänien und ein ermordeter Bauer in Brandenburg - noch ahnt Anwalt Vernau nicht, worauf er sich bei der Verteidigung des jungen Lucian Sandu einlässt, der in die Ereignisse verwickelt zu sein scheint. Der Saisonarbeiter hat gestanden, seinen Chef brutal ermordet zu haben, doch es gibt Widersprüche, und bald ist Vernau sicher, dass Lucian mit seinem Geständnis jemanden schützen will. Auf den ersten Blick sind Verrat, Gier und Hass das Motiv. Aber als Vernau auf dem Hof die geheimnisvolle Rumänin Tina kennenlernt, ist er sich sicher, dass es auch um die Liebe geht. Und um ein furchtbares Geheimnis, das alle vernichten wird, sollte es jemals gelüftet werden. Auch ihn selbst ...

Elisabeth Herrmann wurde 1959 in Marburg/Lahn geboren. Nach ihrem Studium als Fernsehjournalistin arbeitete sie beim RBB, bevor sie mit ihrem Roman »Das Kindermädchen« ihren Durchbruch erlebte. Fast alle ihre Bücher wurden oder werden derzeit verfilmt: Die Reihe um den Berliner Anwalt Joachim Vernau sehr erfolgreich vom ZDF mit Jan Josef Liefers. Elisabeth Herrmann erhielt den Radio-Bremen-Krimipreis, den Deutschen Krimipreis und den Glauser für den besten Jugendkrimi 2022. Sie lebt mit ihrer Tochter in Berlin und im Spreewald.

1


Es war Freitag, der 23. Juni, und Marie-Luise hatte mir die Pistole auf die Brust gesetzt. Sie wollte etwas starten, was sich mit viel Glück – sehr viel Glück und noch mehr Optimismus, wenn man ihre Kochkünste zum Maßstab setzte – zu einer jährlichen Tradition entwickeln sollte.

Ein Spargelessen in der Kanzlei.

Beim letzten Versuch waren glücklicherweise keine Opfer zu beklagen gewesen, auch wenn die hölzernen Fasern bei Marquardt zu einem Erstickungsanfall geführt hatten und Mutter bei jeder weiteren sich bietenden Gelegenheit mit Spargelschälern auftauchte, die sie in sämtlichen Schubladen der Kanzlei versteckte und ein subtiler Hinweis darauf sein sollten, wie man dieses zarte Gemüse zu behandeln hatte.

Für mich waren die Wochen zwischen dem 15. April und 24. Juni eine Art nachgeholte Fastenzeit. Egal wo man eingeladen war, es gab Spargel. Egal, welches Restaurant man betrat, es gab eine Spargelkarte. Ein echtes Luxusproblem. Aber irgendwann kommt einem der Spargel zu den Ohren heraus.

»Übermorgen ist Schluss«, hatte Marie-Luise in einem Ton erklärt, als hätte sie mich schon wieder beim Schwarzfahren erwischt. »Dann ist die Spargelsaison zu Ende. Wir sind acht Leute, das sind vier Kilo, mindestens. Und ich will sie aus Jessendorf.«

Es war einer der ersten schönen Abende in diesem Jahr. Ein kalter Frühling hatte sich viel zu lange eingenistet und die Hoffnung auf mediterrane Temperaturen schon zu Ostern unter letztem Schnee bedeckt. Aber jetzt wehte endlich durch die weit geöffneten Altbaufenster der warme Atem der Stadt. Fast schon zu warm für diese Jahreszeit.

»Jessendorf«, murmelte ich und versenkte mich wieder in den Fall des Lkw-Fahrers Josef Kürschner, der die Einfahrt zum Betriebsgelände eines Containervermieters zugeparkt hatte, der daraufhin einen Tobsuchtsanfall bekam und Kürschner als »egoistisches Arschloch« beschimpfte, worauf es zu einem nonverbalen Meinungsaustausch und einer Mittelgesichtsfraktur Kürschners gekommen war.

Die beiden Männer hatten sich längst bei Molle und Korn vertragen, aber Kürschner wollte die Fraktur als Arbeitsunfall geltend machen, da er sie sich bei der Rückkehr von einer Betriebsfahrt zugezogen hatte. Der Fall landete vorm Sozialgericht und auf meinem Schreibtisch. Die Verhandlung war für morgen angesetzt, und ich fand, dass sie ein ausgezeichneter Grund war, nicht auf Spargelfahrt ins Brandenburgische zu gehen.

»Ich hole dich um elf Uhr dreißig ab«, sagte sie nur.

»Moment. Mein Termin ist um elf!«

»Büchner ist der Richter. Der macht immer pünktlich Mittag. Erst recht zum heiligen Wochenende. Also dann?«

Ich hatte mich auf eine langwierige Verhandlung mit einem elendem Paragrafenaustausch aus dem Sozialgesetzbuch vorbereitet und war zugegebenermaßen überrascht, als es genau so kam, wie meine Kanzleipartnerin es vorhergesagt hatte.

Unsere Klage wurde abgewiesen. Denn: Kürschner hatte den Fehler begangen, unmittelbar vor der Schlägerei die Wagentür wütend hinter sich zuzuwerfen, was eine Unterbrechung der Betriebsfahrt war und es deshalb auch keinen Versicherungsschutz gab.

Man kann daraus zweierlei lernen. Es gibt nichts, was nicht vor Gericht landet. Und, mein Tipp am Rande: Bei Schlägereien in der Nähe des Autos immer die Wagentür offen lassen.

Ganz nebenbei – als Drittes schrieb ich mir auf die Fahnen, Sozialgerichtsprozesse zu vermeiden. Sie waren nicht mein Beritt. Zudem blieb Kürschner auf den Gerichtskosten sitzen und würde, um sie sich aus den Rippen schneiden zu können, seine Anwaltsrechnung nicht bezahlen. Da er durch eine Empfehlung meiner Mutter bei mir aufgetaucht war, für die Kürschner auch kleinere Arbeiten im Haushalt erledigte, gesellte noch das Persönliche. Den Handyman meiner Mutter mit Zahlungsaufforderungen zu verprellen, kam einem Aussetzen in der Diaspora gleich, in der sich tropfende Wasserhähne, Deckenrisse und durchrostende Heizungsrohre zu einem Wohnalbtraum verdichten würden, aus dem heraus es nur noch die Flucht nach vorne gab.

  • Eine neue Wohnung.
  • Seniorengerecht.
  • Betreut irgendwie.
  • Von mir aus zusammen mit Hüthchen.
  • Bezahlbar.
  • In Berlin.

Wir haben damit ungefähr umrissen, was der Albtraum von Söhnen ist. Und Töchtern, die auch natürlich. Mitanzusehen, dass es so nicht mehr lange weitergeht, und keine Lösung zu finden, die nicht alle Beteiligten in den Ruin treibt.

Während ich neben Marie-Luise schweigsam aus Berlin hinaus Richtung südliches Brandenburg gekarrt wurde, schmolzen die Optionen vor meinem inneren Auge zu einem schmalen Korridor finanziellen Darbens, an dessen Ende nicht etwa ein Licht leuchtete, sondern Mutters Tod.

Es war brutal. Mutter kam kaum noch die Treppen hoch. Hüthchen erledigte die Einkäufe, was die Arme derart auszehrte, dass sie zu weiteren häuslichen Verrichtungen nicht mehr in der Lage war. Meine wöchentlichen Besuche wurden überschattet von Wäschewaschen, Bettzeug wechseln, Klo putzen und den Alkohol- und Medikamentenmissbrauch kontrollieren. Ihr ehemaliger Mitbewohner in einem alten Gewerbehof in Mitte, dem zu verdanken war, dass meine Mutter eine der letzten bezahlbaren Mietwohnungen in Berlin aufgegeben hatte, war sein Grundstück zum Preis von zwei Learjets mit Kusshand losgeworden und hatte sich mit einer dreißig, vierzig, fünfzig? Jahre Jüngeren nach Gran Canaria abgesetzt. Mutter und Hüthchen, plötzlich obdachlos, hatten Unterschlupf in einer abgerockten Zweizimmerwohnung im Wedding gefunden, Untermiete, möbliert, zu einem Preis, der mich jetzt schon ausblutete.

Und der Hauptmieter kam demnächst zurück von seinem Auslandsaufenthalt und wollte wieder einziehen. Die einzige Lösung, die sich nach endlosem, zermürbendem Suchen nach bezahlbarem Wohnraum abzeichnete, war, dass die beiden zu hochbetagten Hausbesetzerinnen wurden.

Aber es gab keine Häuser in Berlin mehr, die man besetzen konnte. Allenfalls Rohbauten, an denen sich die Investoren verhoben hatten, weil die Baukosten ins Astronomische gestiegen waren und den potenziellen Käufern die Puste ausging. Zwanzigtausend Euro pro Quadratmeter waren keine Seltenheit mehr. Irgendwann würde ich meinen ersten Fall haben, in dem es nicht mehr um Mord aus Eifersucht oder Habgier ging, sondern um einen Mietvertrag.

»Muss ich hier abfahren?«

Ich schreckte aus meinen apokalyptischen Endzeitvisionen hoch. Freitagmittag bei Badewetter nach Brandenburg, die Idee hatte schon auf der Stadtautobahn zum ersten Stau geführt.

»Keine Ahnung. Navi?«

»Der Akku ist alle.«

Marie-Luise hat sich neben vielerlei anderen Eigenheiten ihren Hang zu alten Volvos bewahrt. Ich mochte diese röhrenden Dreckschleudern, in denen der Sendersuchlauf noch ein mechanischer Knopf war und im Aschenbecher halb aufgerauchte Joints lagen. Es hatte mal einen Zigarettenanzünder gegeben, aber der war außer Betrieb und deshalb nicht geeignet, neuzeitliche Dinge wie ein USB-Kabel mit Strom zu versorgen.

Ich holte mein Handy heraus.

»Jessendorf?«

»Der Grundmann-Hof. Der hat den besten Spargel.«

»Hast du eine Adresse?«

»Der Grundmann-Hof.«

»Okay.«

Ich gab Jessendorf ein. Wir wurden an der nächsten Abfahrt auf eine Landstraße geleitet, die uns vorbei an schnurgerade aufgereihten Alleen durch entzückende, etwas verschlafen wirkende Orte führte. Ich erinnerte mich an einen Landausflug mit Marie-Luise vor vielen Jahren. Es war im Sommer gewesen, und ich hatte aus zweierlei Gründen Herzklopfen gehabt. Angst vor dem, was wir erfahren würden. Und sie neben mir.

Ihre roten Locken wurden von ersten silbernen Haaren durchzogen. Die Fältchen um ihre Augen gruben sich beim Lachen tiefer ein als damals. Ich fragte mich, welche Veränderungen ihr an mir auffallen würden, wenn sie jemals auf diesen Gedanken kommen würde. Ich glaube, er liegt ihr fern.

Jessendorf verteilte sich um eine niedrige Kirche in kleinen, abzweigenden Dorfstraßen. Liguster- und Wacholderhecken, mehr oder weniger getrimmt, umrahmten Vorgärten, in denen Pfingstrosen und Rhododendren eine malerische Blütenpracht entfalteten. Es gab eine Milchtankstelle und ein Bushäuschen. Aber keinen Bauernhof. Eine rüstige ältere Dame wies uns Richtung Ortsausgang.

»Nicht da, wo die Container stehen. Noch zwei Kilometer weiter.«

Wir folgten der Anweisung und rollten wenig später über den Hof eines landwirtschaftlichen Betriebs mit mehreren großen Hallen, Ställen, einem Silo, Nebengebäuden und, rechter Hand, ein Wohnhaus mit einem kleinen Anbau.

Vor dem stand ein junger Mann in Arbeitsoverall und brüllte:

»Krebitz! Komm raus!«

Eine Frau mittleren Alters in Jeans und Karohemd wollte den Rufer offenbar beschwichtigen. Aber der hörte nicht auf sie und brüllte weiter.

»Wenn wir ungelegen kommen …?«, sagte ich zu Marie-Luise.

Die zog die Stirn kraus und zog den Schlüssel ab.

»Aber hier muss es sein. Caro hat gesagt, die verkaufen jetzt zu Spottpreisen und direkt vom Hof.«

Ich hatte längst aufgegeben, die gefahrenen Kilometer und den Benzinverbrauch gegen einen Spargelkauf im nächsten Berliner Supermarkt aufzurechnen. Für Marie-Luise gehörte die Heimsuchung des Erzeugers zum Essen dazu wie Sauce Hollandaise.

Der junge Mann sah sich irritiert nach uns um und fing dann wieder an zu brüllen.

»Krebitz, du Sau!«

Ich hob die Augenbrauen. »In Luckau habe ich einen Supermarkt gesehen. Wenn wir das Zeug da holen, kommt...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Reihe/Serie Joachim Vernau
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2024 • Berlin • Brandenburg • eBooks • Heimatkrimi • Jan Josef Liefers • Joachim Vernau • Karpaten • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mord • Neuerscheinung • Rumänien • Saisonarbeiter • Spiegel-Bestsellerautorin • Verfilmung • ZDF
ISBN-10 3-641-30555-1 / 3641305551
ISBN-13 978-3-641-30555-0 / 9783641305550
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