Der fremde Passagier (eBook)
432 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-27188-6 (ISBN)
Es ging alles so schnell. An einem Tag lebst du höchst zufrieden deinen Alltag, fährst wie immer mit dem Linienboot in die Londoner city, zusammen mit deinem sympathischen Nachbarn Kit. Am nächsten Tag wird Kit als vermisst gemeldet. Als du aus dem Boot aussteigen willst, wartet bereits die Polizei. Ein anderer Passagier hat gesehen, wie du mit Kit am Abend zuvor gestritten hast. Die Polizei geht davon aus, du hättest ein Motiv für einen Mord. Du bist entsetzt, protestierst. Kit und du, ihr seid Freunde, das weiß doch jeder. Doch wer genau ist dieser andere Passagier, der mit dem Finger auf dich zeigt? Was weiß er über dein Leben? Was hat er noch alles beobachtet? Aber das ist egal, denn du bist ja komplett unschuldig. Oder?
Louise Candlish ist preisgekrönte Sunday-Times-Bestsellerautorin, ihre Bücher werden von Leser*innen und Zeitungen wie der »Washington Post« oder dem »Guardian« gefeiert. Sie studierte Englisch am University College in London, wo sie heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter lebt. Viele ihrer Thriller werden verfilmt, zuletzt »Our House« (»Die Fremden in meinem Haus«) als hoch gelobte ITV-Serie.
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27. Dezember 2019
Wie alle Horrorgeschichten von Pendlern beginnt meine im trüben Licht des frühen Morgens – oder zumindest die offizielle Version.
Kit ist nicht da, als ich am St Mary’s Pier das 7.20-Boot des River Bus nach Waterloo erwische, aber das ist nicht ungewöhnlich. In der Vorweihnachtszeit hatte er mehr als genug selbstverschuldete Krankheitstage. Eine frühmorgendliche Bootsfahrt erfordert selbst unter normalen Umständen einen starken Magen, doch für die schrecklich Verkaterten unter uns ist sie buchstäblich Folter (glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede). So oder so kommt er immer nach mir an. Obwohl wir nur fünf Minuten voneinander entfernt wohnen und er auf dem Weg zum Pier direkt am Prospect Square vorbeimuss, haben wir nach der ersten Woche aufgehört, gemeinsam hinzugehen, nachdem sein notorisches Zuspätkommen – und meine neurotische Pünktlichkeit – sich als unvereinbar herausgestellt hatten.
Nein, Kit taucht lieber genau in letzter Sekunde auf, bevor sie die Gangway schließen, und hebt dann zum Gruß die Hand, in der festen Überzeugung, dass ich unsere Lieblingsplätze ergattert habe, den Vierersitz backbord neben der Bar. In St Mary’s ist der Einstieg vorne, und so kann ich beobachten, wie er den Mittelgang hinabspaziert, während seine Hände an den Metallstangen entlanggleiten – ebenso sehr aus Gründen der Coolness wie fürs Gleichgewicht –, bevor er mit einem unbeschwerten Grinsen neben mir auf den Sitz gleitet. Selbst wenn er bis spät in die Nacht gefeiert hat, riecht er immer toll, wie ein vollmundiges Walnuss-Feigen-Brot (»Kit riecht so millennial«, hatte Clare einmal gesagt, was mit fast hundertprozentiger Sicherheit eine Kritik an mir und meinem Generation-X-Geruch nach, keine Ahnung, abgestandenem Hundekuchen ist).
Schau uns an, sagt er gern, während er träge die anderen Fahrgäste mustert, die gemütlich in ihren cremefarbenen Ledersitzen fläzen. Es ist einer seiner Lieblingssprüche: Schau uns an. Hab Mitleid mit den armen Trotteln, die in überfüllten Regionalzügen zusammengepfercht sitzen oder in der U-Bahn ersticken – wir pendeln auf dem Katamaran. Dort draußen sind Möwen.
Und Abwasser, erwidere ich dann, denn Kit und ich, wir liefern uns gern bissige Wortgefechte.
Nun, zumindest früher mal.
Mit einem Räuspern schlucke ich genau in dem Moment den Kloß in meiner Kehle hinunter, als das Boot ein jähes Dieselgrummeln von sich gibt, fast als wären diese beiden Dinge miteinander verknüpft. Bei unserer Abfahrt gleiten über unseren Köpfen in rascher Folge Informationen über die Bildschirme – Mit Halt in Woolwich, North Greenwich, Greenwich, Surrey Quays –, doch inzwischen kenne ich die Strecke in- und auswendig, sodass ich ihnen wenig Beachtung schenke. Am Beginn durch die silbrig glänzenden Tore der Thames Barrier und am alten Kieswerk und den Lagerhallen vorbei. Dann erreicht man den Yachtclub und kommt in die mit Segelbooten gesprenkelte erste Schleife, mit den Wohntürmen der Halbinsel zur Linken, während man auf die riesige weiße Kuppel der O2-Arena zusteuert. Hoch über dem Fluss ist die Seilbahn gespannt, die die Halbinsel mit den Royal Docks verbindet, doch ich erlaube mir keinen Gedanken an meine bislang einzige Fahrt mit diesem Verkehrsmittel. Daran, was in jener Nacht geschah. Und was gesprochen wurde.
Nun, vielleicht ganz kurz.
Ich wende den Blick vom leeren Platz neben mir ab, als wäre Kit doch hier und könnte meine geheimen, schmutzigen Gedanken lesen.
»Dann bis Freitag«, hatte er am Montagabend auf dem Boot gebrummt, nachdem er sich über die Sturheit seiner Firma beschwert hatte, die auf diesem verwaisten Wochentag zwischen zweitem Weihnachtsfeiertag und dem Wochenende beharrte. »Verfluchte Geizkragen.« Normalerweise schreibe ich ihm eine Nachricht, wenn er das Boot verpasst, meine Solidaritätsbekundung: Lange Nacht? Vielleicht ein paar Bier-Emojis oder, falls ich mit von der Partie war, ein würgendes Gesicht. Doch heute tue ich nichts dergleichen. Seit kurz vor Weihnachten habe ich mein Handy kaum benutzt und muss gestehen, dass mir die Auszeit gutgetan hat. Dieses Old-School-Gefühl der Neunzigerjahre, nicht erreichbar zu sein.
Jetzt preschen wir an den spitzen Glastürmen von Canary Wharf in Richtung Greenwich vorbei, dem einzigen Teilstück, das immer noch die Macht hat, meinen Londoner Stolz zu wecken: die Zwillingstürme des Old Royal Naval College, der smaragdgrüne Park dahinter. Ich beobachte das Servicepersonal, das Weihnachtskekse mit weißem Zuckerguss zu Tee und Kaffee serviert – es ist überraschend, wie viele Menschen solches Zeug gleich morgens essen wollen, insbesondere meine Altersgruppe: weder jung genug, um sich keine Gedanken um ihre Silhouette (auch ein solches Melia-Wort) machen zu müssen, noch nah genug an ihrem Lebensende, um jegliche Gesundheitswarnungen in den Wind zu schlagen. Koffein und Zucker, Koffein und Zucker: So geht es immer weiter, bis endlich die Sonne tief genug steht, dass wir uns einen Schluck genehmigen dürfen, und, nun ja, das können wir besonders gut, nicht wahr? Wir sind doch alle Schluckspechte.
Erst als wir vor der Cutty Sark anlegen, ziehe ich mein Handy hervor und tauche wieder in die Nachrichten von Montagabend und die Nachwehen der kleinen Weihnachtsfeier der Wasserratten ein. Ich überfliege meinen Posteingang nach Kits Namen. Meine letzte Nachricht an ihn war völlig spontan gewesen und bezeichnenderweise ohne jegliches Emoji:
Pass lieber DU auf!
Geschickt am Montag um 23.38 Uhr und mit zwei Häkchen, was sie als gelesen markiert, aber keine Antwort. Dafür aber fünf verpasste Anrufe von Melia, ebenso wie drei Sprachnachrichten. Eigentlich sollte ich sie mir wirklich anhören. Doch stattdessen höre ich Clares Stimme von gestern Morgen, das »Erwachsenen«-Gespräch, das wir unter dem metallgrauen Himmel im Norden, 400 Meilen entfernt von hier, geführt haben:
Du musst diese Freundschaft beenden.
Nicht nur die mit ihm, Jamie. Auch die mit ihr.
Irgendwas stimmt mit den beiden nicht.
Und das sagt sie mir erst jetzt. Ich stecke das Handy wieder in die Tasche und erlaube mir noch ein paar Extraminuten der unschuldigen Ahnungslosigkeit.
*
An der Station Surrey Quays steigt Gretchen ein. Die einzige weibliche Wasserratte wirkt steif in ihrem schmalen petrolblauen Wollmantel, einen dieser breiten Bambusbecher mit ihrem Flat White in der Hand. Obwohl ich unseren Stammplatz ergattert habe, wählt sie einen Sitz irgendwo in der Mitte, mehrere Reihen entfernt vor mir. Sonderbar. Ich spaziere den Mittelgang hinab und lasse mich auf den Platz neben ihr fallen. Bei dem Boot um 07.20 hat man normalerweise keine derart freie Platzwahl, aber das Boot ist halbleer – selbst wenn man die Glückspilze außen vor lässt, die erst nach Silvester wieder zur Arbeit müssen, ist der Fluss bestimmt kein Ort, an dem man bei diesen Temperaturen sein will. Es ist einer der kältesten Tage des Jahres, Atemwolken sind vor den Mündern der Menschen am Kai und den Heizungsanlagen der Gebäude sichtbar.
»Jamie, hi«, sagt sie, ohne sich richtig zu mir zu drehen, ohne ein richtiges Lächeln. Ihre Wimpern sind marineblaue Spinnenbeine, und das Weiß ihrer Augen durchzieht ein rosafarbenes Netz.
»Ich dachte schon, du ignorierst mich absichtlich«, sage ich heiter. »Schönes Weihnachtsfest mit deiner Familie verlebt?« Sie war irgendwo in einer Stadt wie Norwich, wenn ich mich recht erinnere. Dort hat sie gesunde, unkomplizierte Eltern, einen Bruder und eine Schwester, eine Schar Nichten und Neffen.
Achselzuckend nippt sie an ihrem Kaffee. »Es dreht sich doch bloß um die Kinder, nicht wahr? Und ich hab keine.«
Es ist wirklich unnötig, dass sie noch deutlicher wird: Uns, unsere kleine Gruppe, verbindet die Kinderlosigkeit, unsere Freiheit, uns wichtiger als alle anderen zu nehmen. Unsere Selbstbezogenheit, unsere Risikobereitschaft. Kein Elternteil würde das tun, was ich dieses Jahr getan habe, oder zumindest nicht so bereitwillig, so bedenkenlos.
»Was ist mit gestern? Warst du auf Schnäppchenjagd?«
Gretchen blinzelt überrascht, als hätte ich angedeutet, sie wäre nackt auf einem Einhorn die Regent Street hinabgeritten. Sie hat reine Haut und eine zierliche Statur, aber von ihrem Temperament her ist sie eine Frau, die besser mit Jungs kann, sich über die Kompliziertheit ihres eigenen Geschlechts beschwert und glaubt, Männer wären zuverlässigere Verbündete (meiner Meinung nach eine gefährliche Verallgemeinerung).
»Alles gut bei dir, Gretch?«
»Ja, nur ein bisschen müde.«
»Ich frage mich, wo Kit heute Morgen steckt. Ich bin sicher, er hat gesagt, er müsste heute arbeiten. Hat er dir was gesagt?«
»Nö.« Ihrer Stimme haftet ein scharfer Unterton an, der mir vertraut ist, ein typisch weibliches Verschnupftsein.
Ab und an habe ich mich gefragt, ob zwischen Kit und ihr etwas läuft. Vielleicht gab es am Montagabend ein Techtelmechtel, vielleicht ist sie besorgt, was ich gesehen haben könnte. Habe ich etwas gesagt, das ich nicht hätte sagen sollen? Meine Güte, die Liste an »hätte nicht«-Dingen wird immer länger: Ich hätte mich nicht so betrinken, hätte mich nicht von ihm so reizen lassen dürfen.
Hätte ihm nicht diese letzte Nachricht schreiben dürfen.
»Was ist da passiert?«, fragt sie, als sie meine verbundene rechte Hand bemerkt.
»Oh,...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2024 |
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Übersetzer | Beate Brammertz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Other Passenger |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Bestseller aus England • Domestic Suspense • eBooks • Krimi • Kriminalromane • Krimis • London • Neuerscheinung • Nicci French • Psychothriller • Themse • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-27188-6 / 3641271886 |
ISBN-13 | 978-3-641-27188-6 / 9783641271886 |
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