Wir sind hier für die Stille (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8083-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir sind hier für die Stille -  Dorothee Riese
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Über eine außergewöhnliche Jugend am Fuße der Karpaten Die Geschichte einer Kindheit als soziales Experiment: Anfang der 1990er Jahre wandert die fast sechsjährige Judith mit ihren Eltern von Deutschland nach Rumänien aus. Ihr Ziel ist ein abgelegenes Dorf in Transsilvanien am Rande der Karpaten. Judith soll in einer ursprünglichen, vom Kapitalismus freien Gemeinschaft aufwachsen. Mit wachem Blick erkundet sie den Ort, seine Menschen, Geschichte und Sprache. Bald wird sie zur Wahlenkelin der alten Siebenbürger Sächsin Lizitanti. Und sie lernt Irina kennen, die mit ihrer Ziege im Milchauto mitfährt. Irina ist eine Romni. Judith möchte das auch sein, Irina aber lehnt das kategorisch ab. Bald stellt der Widerspruch zwischen mitgebrachter Utopie und vorgefundener Realität die Familie vor immer größere Probleme. »Ist Fremdsein eine unüberwindbare Grenze - auch wenn man den Alltag miteinander teilt? Mit Dorothee Riese betritt eine Autorin die literarische Bühne, der es gelingt, mit den Mitteln der Sprache das, was hinter der Sprache liegt, spürbar zu machen.« Jenny Erpenbeck

Dorothee Riese, geboren 1989 bei Göttingen und in Rumänien aufgewachsen, studierte Internationale Literaturen, Slawistik und Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas in Tübingen, Moskau, Frankfurt (Oder) und im südsibirischen Barnaul. Zum Studium des literarischen Schreibens kam sie nach Leipzig. Sie arbeitete an der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar und ist für das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa tätig. Sie lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

Dorothee Riese, geboren 1989 bei Göttingen und in Rumänien aufgewachsen. Sie studierte in Tübingen, Moskau, Frankfurt an der Oder und im südsibirischen Barnaul Internationale Literaturen, Slawistik und Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas. Sie war Freiwillige am Mémorial de la Shoah in Paris. Nach einem Praktikum bei einer Roma-Menschenrechtsorganisation in Bukarest studierte sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie arbeitete an der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar, war beteiligt an einer Ausstellung über Feminismus in Leningrad 1979 und ist Teil der Autor*innengruppe other writers need to concentrate. Zurzeit arbeitet sie für das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Leipzig.

1.


Auf der Ladefläche des Milchautos fuhr es sich gut. Judith schaukelte auf einer Milchkanne. In der anderen Ecke hockte ein Mädchen mit einer Ziege. Es hatte eine Ziege und Judith hatte keine. Sie rief dem Mädchen zu: »Ich hab auch eine Ziege, aber meine Ziege ist groß, und meine Ziege ist tot.«

Judiths Ziege war nämlich gestorben, weil das Zicklein nicht aus ihr hatte herauskommen wollen.

Das Mädchen hörte es nicht; es tat so, als ob es nichts hörte. Guckte aus den Haaren heraus, aber tat so, als ob es nicht guckte. Jetzt kämmte es der Ziege wieder mit den Fingern den Bart. Küsste die Ziegennase. Das Milchauto rumpelte über große Steine. Judith lachte, weil sie fast bis zu den Pappelzweigen hochhüpfte. Aber das Mädchen lachte nicht. Es hatte Angst vor der wilden Fahrt, legte sich auf die Ziege, als ob die ihm gehörte. Es hätte beim Hochhüpfen fast die Ziegennase abgebissen.

Das Mädchen hatte Haare, das waren nicht irgendwelche Haare, die waren so dicht, dass Judith sein Gesicht nicht sehen konnte. Judith hatte geflochtene Zöpfe, weil es im Sommer zu heiß war, um nicht Zöpfe zu tragen. Sie wollte das Mädchen loswerden, aber die Pappeln hörten nicht auf. Das Mädchen streckte die Zunge heraus. Judith schubste eine Milchkanne an, sie rollte über die Ladefläche und stieß an die anderen Kannen. Es war ein tolles Scheppern und Klirren. Sie hasste die Haarige dort auf immer und ewig, weil die sogar eine rosa Zunge hatte, die so spitz war, dass sie bestimmt bis zur Nase ging. Judith erreichte mit ihrer Zunge die Nasenspitze nicht und konnte auch nicht mit den Ohren wackeln. Die leeren Milchkannen rollten durcheinander. Judith rollte hinterher, sodass sie mit dem Kopf in den Bauch der Ziege stieß. Sie mochte den Geruch des Körpers der Ziege. Auch dem Mädchen war sie jetzt ganz nah, und das war so verdutzt, Judith plötzlich zwischen den Beinen der Ziege zu sehen, dass es sich gar nicht mehr bewegte.

Sie zischte dem Mädchen das gruselige Wort Sarmizegetusa ins Ohr. Das Mädchen roch auch nach Ziegenmilch. Es zeigte auf eine Burg mit Türmen, unter der Häuser herumstanden. Aber das war ein Trick. Judith sah nur kurz auf, aber schon griff das Mädchen nach ihren Zöpfen rechts und links. Es ließ die Finger über ihre Zöpfe gleiten. Das Mädchen sagte etwas und lächelte. Judith wollte ihm mit dem Kopf in den Bauch stoßen. Das Mädchen zuckte zusammen und versteckte sich hinter einer Milchkanne. Als ob Judith das nicht gesehen hätte. Jetzt würde sie dem Mädchen zeigen, wie gut sie fangen konnte. Sie krallte sich in den Haaren des Mädchens fest. Der Strick der Ziege war ans Handgelenk des Mädchens gebunden. Die Ziege sprang von der Ladefläche herunter und riss das Mädchen mit. Vielleicht war es tot. Schade, dass Judith nicht herunterkonnte, dann hätte sie ihm die Haare abgeschnitten.

 

Der Milchautofahrer hielt an einem großen Strommast. Nach diesem Mädchen und seiner Ziege fragte er nicht. Er rieb Zeigefinger und Daumen aneinander.

»Geld«, sagte ihre Mutter.

»Der hat uns doch mitgenommen«, sagte Kurt.

»Oder vielleicht Kuchen?«, sagte die Mutter.

Warum denn Kuchen?, dachte Judith.

»Selbst gebacken«, sagte die Mutter.

Der Fahrer schleuderte den Apfelkuchen durch die Luft und schrie, sodass alle Kühe stehen blieben und zu pinkeln anfingen.

Judith musste auch pinkeln, sie hockte sich an den Strommast, aber bei den Kühen brauste es lauter. Sie konnte keinen so großen See machen, der die Fliegen fortschwemmte. Da stupste sie ein Ziegenbart von hinten an. Das Mädchen mit der Ziege! Judith holte ein großes Taschentuch aus Kurts Hosentasche und hielt es dem Mädchen hin, weil es eine blutige Nase hatte. Das Mädchen wischte sich damit quer über das Gesicht. Die Mutter streckte die Hand aus und streichelte dem Mädchen über die Haare. Dann öffnete sie noch einmal die Dose und gab ihm das letzte Stück Apfelkuchen. Das war übertrieben. Judith hatte auch Hunger. Aber die mit der Ziege aß den Apfelkuchen auf, ohne nachzufragen, ob Judith auch etwas wollte. Sie hatte das Taschentuch abgegeben, das Mädchen aber gab nichts ab.

*

Die alte Frau saß auf der Bank vor dem Haus und strickte. Vor ihr pickten Hühner. So eine alte Frau hatte Judith noch nie gesehen. Die Eltern passten nicht auf, sie fingen gleich an zu reden. Die alte Frau aber stand auf, sodass sie riesig wurde. Die Hühner rannten auseinander. Der Hahn blieb stehen, flatterte mit den Flügeln, rannte einem der Hühner hinterher und hieb ihm mit dem Schnabel in den Hals. Unter dem Strohhut der alten Frau war es ganz schwarz. Sie schwang ihren Krückstock durch die Luft, dessen Spitze scharf war, und er sauste nieder. Judith wollte schon ihre Zöpfe nehmen und davonlaufen, als ein schreckliches Donnern voller R und T hervorbrach: »Und wer ist die Verrotzte dort?«

Das Mädchen mit der Ziege stand hinter ihnen. Die Ziege riss es fast um. Judith war einverstanden, das war Rotz, kein Blut.

»Das ist unser guter Engel«, sagte Kurt.

»Sie hat uns den Weg gezeigt«, sagte die Mutter.

»Du Teufel«, zischte die alte Frau. Sie legte die Stricknadeln aus den Händen, und das Wollknäuel rollte ihr auf die Pflastersteine. Judith drehte sich zu dem Mädchen um, das ein paar Schritte hinter ihnen stand. Sie hoffte, dass es sich hinter der Ziege verstecken würde, um sich in Sicherheit zu bringen. Das Mädchen aber machte die Augen an den Winterschuhen fest und sah dabei fast genauso grimmig drein wie die Alte. Die bückte sich, streckte die Hand aus und griff nach Judiths Kopf mit ihren Knochenfingern.

»Ich bin Lizitanti«, sagte sie.

Das weiße Wollknäuel rollte über die Steine, die moosig waren zwischen dem Gänsekot. Lizitanti hatte breite Beine, und sie trug, obwohl es Sommer war, eine wollweiße Strumpfhose. Ihre Schuhe waren klobig, die waren schon auf dem Mist gewesen. Lizitanti war sehr schwarz, sie trug einen schwarzen Rock, eine schwarze Schürze und unter dem Hut auch ein schwarzes Kopftuch. Aber die Ärmel ihrer Bluse waren weiß.

Lizitanti hatte hellblaue Augen, die sahen alles. Und sie sprach auch so eine Sprache. Das war Deutsch, aber es pikste, rollte und stach. Sie sah streng zu Judiths Füßen: »Warum hast du deine Schuhe nicht an?«

Kurt wollte erklären, dass Kinder keine Schuhe brauchten, aber die Mutter zwickte ihn in die Hand.

»Der Herr Vater hat auch nackte Füße«, sagte die alte Frau langsam, ihre Augen wanderten von den Füßen zu Kurts Kopf.

»Ich bin Kurt«, sagte er und begann davon zu reden, wie heilsam es sei, barfuß zu laufen. Die Mutter zwickte wieder, aber zu spät.

Die senkrechte Falte zwischen Lizitantis Augen wurde ein finsterer Graben. Sie erzählte von ihren Zehen, die im Winter in Russland fast abgefallen waren. »Wollen Sie das sehen?«, fragte sie. »Meine Niere ist krank. Ein ordentlicher Mensch soll nicht ohne Schuhe gehen.«

Die Mutter wollte sie beruhigen. Ihr Mann habe unbedingt neue Schuhe mitnehmen wollen und da sofort Blasen bekommen. Da habe die Kleine natürlich auch die Schuhe ausgezogen.

Lizitanti machte aus den Augen Schlitze, weil sie der Mutter nicht glaubte, und auch Judith glaubte ihr nicht. Das mit dem Mann kam schon hin, nur klein war hier niemand, außer dem Mädchen da vielleicht. Aber Judith verstand, dass Lizitanti richtig wütend werden könnte, wenn sie wüsste, dass Kurt immer barfuß lief.

Zu Hause in Bad Rosau waren die Kinder nicht mehr zum Spielen gekommen, weil er barfuß gegangen war und Judith schon allein durch den Ort hatte laufen dürfen. Bei der Brotzeit im Kindergarten hatten die Tischnachbarinnen laut geschmatzt, ihre Zähne gezeigt und geflüstert, wenn Judith ihre Apfelsinenstücke aß: »Blut.« In der Arche, dem Mitgliederbioladen, bei dem ihre Mutter gearbeitet hatte, gab es diese Apfelsinen mit rotem Fleisch, die sehr saftig waren. Kurt hatte ihr erklärt, dass es nicht die Kinder seien, die Judith nicht mochten. Die Eltern seien es, meinte er, die etwas dagegen hätten, wenn jemand, statt mit dem Auto zu fahren, barfuß ging. Aber Judith könne stolz auf ihren Vater sein, weil er für die Freiheit barfuß gehe. Judith war wirklich stolz, auch wenn sie sich fragte, was Freiheit mit nackten Füßen zu tun hatte. Die Tiere im Zoo hatten ja auch nichts an und waren...

Erscheint lt. Verlag 29.2.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aberglaube • Aussteiger • cultural appropriation • Dorfgeschichte • Freundschaft • Freundschaftsgeschichte • Kapitalismuskritik • Karpaten • Kinderperspektive • Konsumkritik • Konsumverzicht • Kulturelle Aneignung • Kulturelle Unterschiede • Migration • Mitgefühl • Roma • Rumänien • Siebenbürgen • Siebenbürger Sachsen • Solidarität • Sozialarbeit • Transsilvanien • Ungleichheit
ISBN-10 3-8270-8083-5 / 3827080835
ISBN-13 978-3-8270-8083-7 / 9783827080837
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