Was der See birgt (eBook)
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30385-8 (ISBN)
Lenz Koppelstätter, Jahrgang 1982, ist in Südtirol geboren und aufgewachsen. Er arbeitet als Medienentwickler und als Reporter für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Salon. 2015 startete bei Kiepenheuer & Witsch die Krimireihe um den Südtiroler Commissario Grauner, die ein großer Erfolg bei Leser:innen und Presse ist.
Lenz Koppelstätter, Jahrgang 1982, ist in Südtirol geboren und aufgewachsen. Er arbeitet als Medienentwickler und als Reporter für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Salon. 2015 startete bei Kiepenheuer & Witsch die Krimireihe um den Südtiroler Commissario Grauner, die ein großer Erfolg bei Leser:innen und Presse ist.
TAG 1
Gianna
Stürme zogen auf. Der eine in Gianna Pittis Kopf. Bilder der vergangenen Nacht, kurz schloss sie die Augen, lehnte sich zurück. Der andere über dem See. Er hatte sich über der Pianura Padana zusammengebraut, sich nach Norden geschoben.
Die schwarzen Wolken hingen schwer über dem Wasser, schienen jede Sekunde platzen zu wollen.
Ein erster Blitz, gefolgt von dunklem Donnergrollen. Der nächste Blitz verästelte sich. Wie Gianna es liebte, dieses Weltuntergangswetter! Sie saß, wie beinahe jeden Morgen, vor dem kleinen Café in den Felsen über Torbole, am Nordufer des Sees. Bodentiefe Fenster, schwere Thekenhocker, ein paar weiße Plastikstühle auf der Terrasse. Noch geschlossene Sonnenschirme.
Seit Jahren folgte die junge Polizeireporterin in diesen kostbaren Stunden vor Arbeitsbeginn einer immer gleichen Routine. Das gab ihr ein bisschen Halt. Struktur. Beides brauchte sie unbedingt. Zumindest morgens, von sechs bis zehn, denn sobald sie die Redaktion des Messaggero di Riva betrat, hatte sie nicht mehr in der Hand, was geschah. Wecker um sechs, raus aus dem Bett, dreiunddreißig Liegestütze auf dem Teppich, eiskalt duschen, dabei langsam ebenso bis dreiunddreißig zählen. Dann fütterte sie Spiaggia und Lago – ein erfreulicher neuer Teil der Routine. Sie liebte die Katzen ihres Onkels. Seit drei Wochen lebte sie mit ihnen zusammen. Und ihm. Weil in ihrer kleinen Altstadtwohnung ein Wasserrohr gebrochen war. Der Marchese hatte ihr glücklicherweise gleich angeboten, zu ihm zu ziehen. Sonst hätte sie ihre Mutter, Carla, fragen müssen. Unvorstellbar.
Wieder zuckte ein Blitz über den See. Gianna zog sich die Jacke fester um die Schultern und sah auf die Uhr. Sie hatte noch etwas Zeit. Die Redaktionskonferenz begann um elf Uhr. Dort wurden die Aufgaben verteilt. Der eine eilte im Anschluss zur Pressekonferenz des Bürgermeisters, eine andere fuhr zu einem neu eröffneten Restaurant, um eine nette Geschichte darüber zu verfassen, ein dritter interviewte am Telefon den erfolgreichen Nachwuchssurfer aus Torbole, der sich mit der Nationalmannschaft auf Teneriffa auf die anstehende WM vorbereitete.
Die Praktikanten wurden runter ans Ufer geschickt, Straßenumfrage. Die Lieblingseissorte? Der Sommerhit? Kommt der neue Klettergarten in Arco gut an? Die beste Pizza am See? Lokaltageszeitungsalltag.
»Noch einen, Gianna?«, riss sie eine raue Stimme aus ihren Gedanken. Maurizio Rocchi war von hinten an sie herangetreten und zeigte auf die leere Espressotasse. Ihr zweiter bereits.
Wie jeden Morgen hatte sie sich auf ihre Vespa gesetzt, Riva und Torbole hinter sich gelassen und war die steile, kerzengerade Straße in Richtung Passo San Giovanni hochgefahren. Bis zu der schmalen, sandigen Parkbucht, in der Maurizio das kleine Café betrieb. Er hatte gerade den Laden aufgesperrt. Schon länger vermutete sie, dass er nur ihretwegen so früh kam.
»Was steht heute an, Süße?«, fragte Maurizio, dieser aus der Zeit gefallene, in die Jahre gekommene Charmeur mit listigen Augen und polierter Glatze. Er stellte die leere Tasse auf das Tablett in seiner Hand.
Die Frage überraschte sie ein wenig. In den vergangenen Wochen hatte er sich nicht wie sonst nach ihrer Arbeit erkundigt. Sondern ihr sein Leid geklagt. Seine Freundin hatte ihn verlassen. Endgültig. Nachdem sie ihn schon wieder mit einer anderen erwischt hatte.
Gianna hob die Schultern. »Hoffentlich nichts«, sagte sie und schmunzelte.
»Du hast es gut, du wirst auch bezahlt, wenn nichts passiert«, sagte er lachend und fuhr sich über das dünn rasierte Oberlippenbärtchen. »Wenn hier mal der Trubel ausbleibt, dann gibt’s kein Geld.«
»Du Ärmster!«, sagte die Journalistin und schnitt eine Grimasse.
Sie mochte den stets etwas unruhig wirkenden Mann. Er erzählte ihr manchmal von den Jahren, bevor er die Bar hier oben übernommen hatte. Von damals, als er in Paris als Straßenmusiker gelebt hatte. Gitarre. Blowin’ in the wind. Von seiner Zeit als Söldner. Im Kosovo, später im Irak. Er hatte in Dubai in einem Hotelbistro gearbeitet, in Südafrika nach Gold geschürft. Es wurde viel geredet in den Städtchen am Seeufer. Man munkelte, er sei mit einem ordentlichen Batzen Geld aus Afrika zurückgekommen, besitze mehrere Apartments in Torbole. Gianna wusste nicht, was an den Gerüchten dran war. Reich wirkte er nicht: Er trug stets die immergleichen Ledersandalen, eine abgewetzte Jeans, ein weißes Hemd, darüber ein silbernes Gilet.
Es war ihr auch egal. Die Stürme, jene im Kopf, jener über dem See, waren ihr im Moment spannend genug.
»Nein, zwei caffè müssen reichen«, sagte sie und versank in Gedanken.
Später, in der Konferenz, so hoffte sie, würde die Chefredakteurin Elvira Sondrini als Letztes auf sie zeigen. Gianna würde sich dann räuspern, mit gewichtiger Stimme sagen, sie sei da ja gerade an dieser einen großen Sache dran, diese Sache, die es in sich habe. Sie würde zwei, drei Schlagworte in den Raum werfen.
… ungeklärtes Familiendrama, viele Ungereimtheiten, zuverlässige Quelle aus Polizeikreisen …
Sondrini würde nicken, sie für die Recherche von all ihren anderen Aufgaben freistellen. Die anderen Redakteure würden die Augen verdrehen, weil sie Gianna durchschauten, weil es Mehrarbeit für sie bedeutete, weil die Seiten ja trotzdem gefüllt werden mussten.
Gianna ruckelte sich auf dem Plastikstuhl vor Maurizios Bar in eine gemütlichere, kauernde Position, steckte sich die In-Ear-Kopfhörer in die Ohren, machte Vasco Rossi auf Spotify an, Buoni o cattivi, das Livealbum. Vita spericolata, volle Lautstärke. Leises Mitsummen.
Ich will ein waghalsiges Leben führen, eines jener Leben, einfach so dahingerotzt …
Gianna wollte kein allzu waghalsiges Leben führen. Nein, nein, es reichte ihr, wenn sie berufsbedingt mit den – meist tragischen – Enden der waghalsigen Leben anderer zu tun hatte.
Ob Filippo auch Vasco liebte? Sie hatte ihn gestern gar nicht danach gefragt. So vieles hatte sie ihn nicht gefragt. Sie hatten viel geschwiegen. Ohne dass es unangenehm war. Das war doch ein gutes Zeichen, oder?
Sie beobachtete wieder den herannahenden Sturm. Die steile Straße neben der Bar war leer. Jetzt, am frühen Morgen, kamen noch keine Besucher an den See.
Etwas abseits stand nur ein einziges weiteres Fahrzeug. Ein neuer VW-Van. Schwarz. Gemietet. Ein »I Lake Garda«-Aufkleber prangte auf der Tür neben dem Logo der Autovermietung.
Ein Mann stieg aus, biss in ein Nutellabrot, in der anderen Hand hielt er eine Kaffeetasse. Gut beleibt, grauer Dreitagebart, schwarze Hornbrille. Hinter ihm tauchte eine Frau auf, wasserstoffblond gefärbtes Haar.
Holländer, tippte Gianna. Beide etwa Mitte fünfzig. Amüsiert betrachtete sie das Paar.
Sie hatten einen Tisch und Stühle vor das Gefährt gestellt. Illegalerweise, denn auf dem kleinen Sandparkplatz war Wildcampen, wie überall am See, verboten.
Gianna konnte die beiden verstehen. Dieser Ausblick! Und Maurizio war viel zu gutmütig, um wegen so einer Lappalie die Carabinieri zu rufen.
Die Frau bückte sich nun, um den Teppich unter dem Campingtisch zurechtzurücken, ihr T-Shirt rutschte hoch. Zum Vorschein kam eine verwelkte, verwaschene Version eines einst stolzen Arschgeweihs.
Tja, dachte Gianna, da konnte man nur eines machen. Es mit Würde tragen. Sie lächelte zur Camperin hinüber, doch die schien an ihr vorbei in Richtung See zu starren, sie gar nicht zu bemerken.
Gianna musterte nun eines ihrer eigenen Tattoos. Ein zwinkernder Smiley auf der Innenseite ihres Unterarms. Sie musste schmunzeln. Sie dankte dem lieben Gott nun, dass sie sich damals, als sie bei einem feucht-fröhlichen Mädelsabend diese blöde Wette verloren hatte, nicht für ein Arschgeweih entschieden hatte. Wie hatte sie sich so irren können. Sie war sich hundertprozentig sicher gewesen, Vascos legendäre Auftritte beim Festival von Sanremo wären 1981 und 1982 gewesen, nicht 1982 und 1983.
Der See glitzerte in unendlich vielen Schattierungen, die Blitze zuckten nun immer häufiger darüber hinweg. Im Augenwinkel nahm Gianna ein dunkelblaues Blinken wahr. Vor dem Hügel am Ufer, dem Monte Brione, der wie der Rücken eines Drachens aussah und hinter dem sich ihr Heimatort Riva versteckte, ja, da blinkte ein Blaulicht im Wasser. Noch eins. Zwei Polizeiboote. Sie bewegten sich schnell auf Riva und den Monte zu, dann verschwanden sie dahinter. Ein Unfall? Nein. Dann würden nicht gleich Boote anrücken. Zwei schon gar nicht. Oder?
»Da kommt Arbeit auf dich zu.«
Wieder war sie zusammengezuckt. Wieder hatte sie Maurizio nicht herantreten hören.
»Arbeit, ja, sieht so aus«, sagte sie, legte einen Fünfeuroschein auf den Tisch und drückte dem Mann ein Küsschen auf die Wange. »Danke für das Video von vorgestern, es hat mir die Mittagspause versüßt.«
Manchmal schickte er ihr WhatsApp-Nachrichten mit Vasco-Rossi-Material, das er auf YouTube fand. Alte...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2024 |
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Reihe/Serie | Ermittlungen am Gardasee | Ermittlungen am Gardasee |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Familiengeheimnis • Gabriele D’Annunzio • Gardaseeurlaub • Geheimbund • Italien-Krimi • Journalistin ermittelt • Krimi für den Italien Urlaub • Krimi Gardasee Urlaub • Krimi mit Lokalkolorit • Krimi-Neuerscheinungen 2024 • neue Krimireihe • neue Krimis • Polizeireporterin • Regionalkrimi • Urlaubskrimi • Urlaubslektüre • Verschwörung • was der see birgit |
ISBN-10 | 3-462-30385-6 / 3462303856 |
ISBN-13 | 978-3-462-30385-8 / 9783462303858 |
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