Todesblues (eBook)

Ein Fall für Tamara Hayle
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61483-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Todesblues -  Valerie Wilson Wesley
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Shawn Raymond war auf der schiefen Bahn, jetzt ist er tot. Die Polizei legt den Fall des toten Drogendealers schnell zu den Akten, seine Mutter möchte jedoch, daß der Mord aufgeklärt wird, und Tamara Hayle soll es tun. Tamara weiß, daß Gangster damit rechnen können, das zu bekommen, was sie verdienen. Und muß feststellen, daß es dabei nicht immer um Geld geht.

Valerie Wilson Wesley, geboren 1947, lebt in New Jersey. Sie wuchs auf US-Militärstützpunkten in Spanien und Deutschland auf. Sie studierte Philosophie und Journalistik und war Chefredakteurin bei der Zeitschrift ?Essence?. Ihre Bestsellerserie um Privatdetektivin Tamara Hayle ist in mehreren Ländern erschienen.

An dem Abend hatte ich nichts anderes im Sinn als ein Fisch-Sandwich. Ein Sandwich mit frittiertem Dorsch, und zwar von der verräucherten Fischbratbude nahe der Central Avenue in Newark. Ich konnte es fast schon schmecken, wie der leckere Fisch knusprig und fett zwischen zwei weichen Weißbrotscheiben lag, als Beilage gab es einen Haufen Grünzeug, ein kleines Töpfchen Red-Devil-Chili-Sauce wurde mitgeliefert, und vom Tellerrand lachte mich ein heller Klecks Remouladensoße verführerisch an. Dieses Fisch-Sandwich hätte mich beinah das Leben gekostet.

Ich habe ihn nicht kommen hören, er muss sich auf Zehenspitzen angeschlichen haben, wie ein Gespenst. Vermutlich hat er schnell und tief Luft geholt, aber das habe ich nicht gehört, habe auch nicht gesehen, wie er den Blick von einem Ende des Parkplatzes zum anderen wandern ließ, um sicherzugehen, dass wir allein waren. Ich habe das Unheil nicht gewittert. Aber gespürt habe ich es: die Mündung seiner Waffe, die sich in mein Kreuz bohrte und die zitterte, wenn seine Hand zitterte.

»Los, her damit, Alte!« Es war eine Kinderstimme. Ein leises, hohes Wispern, ohne jeden männlich-tiefen Unterton, der Junge war noch nicht im Stimmbruch wie mein Sohn Jamal. Es dauerte etwas, bis ich die Dinge zusammenbrachte – die zarte Stimme und das harte Stück Metall da in meinem Rücken.

»Los, her damit, hab ich gesagt! Hörst du nicht?«

Das »Hörst du nicht?«, sagte er so, wie es wahrscheinlich seine Mutter zu ihm sagte, halb drohend, halb aggressiv – ein Junge, der ein Mann sein wollte und sich auch so aufspielte. Ich erstarrte und hatte wohl ebenso viel Angst wie er. Vielleicht hatte er sogar noch mehr.

Die Straße war leer, der Parkplatz lag im Halbdunkel. Es war kurz vor Mitternacht. Ich hatte noch spät an letzten Aufzeichnungen über eine Observierung gearbeitet, damit ich meinem Klienten den Abschlussbericht zusammen mit der Rechnung schicken konnte. Hungrig und hundemüde war ich auf den Parkplatz gegangen und hatte nicht einmal gemerkt, wie dunkel es da war. Auf dem schäbigen Gelände in der Nähe meines Detektivbüros brennen mit Glück zwei schwache Laternen, doch an dem Abend war nur eine an und leuchtete etwa einen halben Meter nach beiden Seiten. Ich war auf mein Auto zugegangen und hatte in der Handtasche nach dem Schlüssel gekramt, als er von hinten an mich herantrat. Jetzt stand ich stocksteif da, der Schweiß lief mir den Rücken runter, und ich hielt den Lederriemen meiner Handtasche so fest, dass mir die Hand wehtat.

»Was willst du? Mein Geld? Die Schlüssel? Da.« Ohne eine Antwort abzuwarten, warf ich meine rot-grüne Keniatasche hinter mich und hoffte, das würde ihn aus dem Konzept bringen. Die Tasche traf ihn, und die Waffe bohrte sich tiefer in meinen Rücken, während er sich die Handtasche schnappte und sie zwischen uns auf dem Boden ausleerte. Meine Sachen fielen auf die Erde, und irgendetwas ging kaputt.

Verdammt! Mein Rouge von Guerlain zu dreißig Dollar!, dachte ich, und im selben Moment wurde mir klar, dass jetzt nichts zählte außer diesem Jungen, der mir seine Waffe in den Rücken stieß. Ich versuchte, mich von ihm loszumachen. Er ließ mich nicht entkommen.

»Aufheben!«

»Was aufheben?«

»Das Zeug aus der Tasche, das Zeug aus der Tasche! Heb’s auf!«

Heb’s doch selber auf, du kleines Scheusal.

»Okay.« Meine Stimme überschlug sich wie bei einem ängstlichen kleinen Mädchen. Es ärgerte mich, dass ich mir meine Angst anmerken ließ. Mit gewollt fester Stimme sprach ich weiter. »Ich muss mich umdrehen, damit ich es aufheben kann. Okay?« Ich sprach mit ihm wie mit meinem eigenen Sohn, als würde ich ihm etwas erklären, das er womöglich nicht verstand. Mein Herz raste, mein Mund war wie ausgetrocknet. Aber ich wusste, dass er ebenfalls Angst hatte. Ich erkannte es an dem Zittern seiner Stimme, und ich weiß, wie sich ein ängstlicher Junge anhört. Auch die Waffe zitterte jetzt, als er sie in meinem Kreuz herumschob. Ein verängstigtes Kind mit einer Waffe in der Hand ist das Schlimmste auf der Welt. So ein Kind nimmt überhaupt nichts mehr wahr – dich nicht, die Waffe nicht, gar nichts. Das knallt dich ab, wie andere Kaugummi kauen.

»Ich tret jetzt einen Schritt vor. Okay?«

Schweigen.

»Ich will die Sachen aus der Tasche aufheben, damit ich sie dir geben kann.«

Er holte Luft, als wüsste er nicht recht weiter.

»Okay.« Seine Stimme klang nervös, aber umgänglich. Ich spürte einen Schauer der Erleichterung.

Ich drehte mich um, bückte mich und konnte im Licht der trüben Straßenlampe einen raschen Blick auf ihn werfen und sehen, was für ein Gesicht und was für ein Körper zu der Kinderstimme gehörten.

Er war größer, als die Stimme vermuten ließ, aber immer noch gut zehn Zentimeter kleiner als ich, und ich war bestimmt mehr als zehn Kilo schwerer als er. Hagere, leicht gekrümmte Schultern und ein magerer Hals gaben ihm das Aussehen eines jungen Raubvogels. Seine Haut war von dem stumpfen, fahlen Braun, das davon kommt, wenn man sich von Schokodrinks und Orangenlimonade ernährt statt von Milch und Orangensaft. Er war so angezogen wie die Kids in den Gangsta-Rap-Videos – mein Sohn würde wohl auch so herumlaufen, wenn ich nicht ein scharfes Auge auf ihn hätte –, die immer so großspurig und nassforsch tun: Schlabber-Jeans, deren Hosenboden bis fast in die Kniekehlen runterhing, schwarze Ballonjacke, nicht zugeschnürte Timberland-Boots, kahl geschorener Kopf. Ein Junge, der aussah wie die Knackis im Bau, als wüsste er, dass er nichts als Gefängnis oder den Friedhof vor sich hat. Zuchthaus-Schick.

Jetzt richtete ich mich auf und sah ihm direkt ins Gesicht, Brief‌tasche und Schlüsselbund in der Hand.

Soweit ich erkennen konnte, hatte er ein Milchgesicht ohne den leisesten Anflug eines Schnurrbarts auf der Oberlippe. Gut möglich, dass er auf dem Schulhof und auf der Straße fertiggemacht wurde, weil er so weiche Züge hatte.

»Wenn du mir das jetzt wegnimmst, ist das ein Verbrechen. Du kannst ein paar Jahre Gefängnis kriegen, wenn du mir das aus der Hand nimmst.« Jetzt, wo ich dem Jungen ins Gesicht sah, hatte ich keine Angst mehr vor ihm. Wie alt mochte er sein? Zwölf? Dreizehn? Ich fragte mich, ob der Revolver echt war. Das hatte ich schon gehört, dass Kids wie er ein Ding drehen mit einer Waffe, die bloß eine Attrappe ist. Von der Größe her konnte sie echt sein – sie sah aus wie ein Colt, stupsnasig, eindeutig ein 38er-Kaliber, aber dergleichen hatte ich auch schon als Spielzeug gesehen. Das wirkt heutzutage ja täuschend echt, damit man sich von Kindesbeinen an dran gewöhnt.

»Verstehst du mich? Es ist ein Verbrechen.«

Einen Moment lang schien er verwirrt, als ob er das nicht recht auf die Reihe bekam, sein Gesicht immer noch im Schatten verborgen.

»Wenn es rauskommt.«

Meine Nackenhaare sträubten sich. Mir wurde flau im Magen.

»Du meinst wohl, es kommt nicht raus?« Ich fand meine Stimme wieder und zwang mich, sie energisch klingen zu lassen. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn es mir wegen eines mageren Kindes die Stimme verschlug. Doch kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, da fiel mir ein, was ich vor Kurzem im Star-Ledger über die Frau gelesen hatte, die bei einem Jungen, der sie womöglich umbringen wollte, an das Gewissen appellierte. Er war mit ihrem neuen Auto in der Gegend herumgefahren, und sie saß auf dem Beifahrersitz und versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen, redete auf ihn ein, flehte, argumentierte, und am Ende hat er sie dann doch umgebracht, trotz aller ihrer Reden. Einfach so. Weil ihm gerade danach war. Am Ende war sie genauso tot, als wenn sie ihn unflätig beschimpft hätte. So tot, wie ich am Ende auch sein könnte. Ich betrachtete sein Kindergesicht und den Revolver, den er jetzt tiefer hielt, sodass er auf mein Herz zielte. Und doch hatte der Junge auch etwas Zögerliches und Unsicheres an sich. Ich beschloss, es darauf ankommen zu lassen.

»Machst du so was zum ersten Mal?«

Er sah mich an, als wäre ich übergeschnappt.

»Da.« Ich warf ihm die Schlüssel zu, womit er nicht gerechnet hatte; er sprang zurück, als könnte er sich daran verbrennen oder als wollte ich ihn schlagen, und das Schlüsselbund fiel mit metallischem Klirren zu Boden. »Du willst mein Auto? Nimm’s dir.«

Er stand da wie ein verunsichertes Kind und betrachtete die Schlüssel, die zwischen uns auf der Erde lagen, als hätte er noch nie ein Schlüsselbund gesehen und wüsste nicht, was er jetzt tun sollte. Da wurde mir klar, dass er den Revolver nicht einsetzen würde. Sonst hätte er es getan, als ich so plötzlich mit den Schlüsseln nach ihm warf. Wenn er mich wirklich töten wollte, wenn ihm der geringste Vorwand recht gewesen wäre, dann hätte mich diese Dreistigkeit das Leben gekostet.

Er war allein, und das war gut. Er hatte keine Bande im Rücken, vor der er sich aufspielen musste. Da war niemand, vor dem er sich schämen müsste. Verbrüderung und Macho-Gehabe kamen nicht infrage, und das würde letztendlich den Ausschlag geben. Hätte ihm einer seiner Jungs zur Seite gestanden und mit angesehen, wie ich ihn behandelte, wie ich ihm die Schlüssel vor die Füße warf, dann hätte ich keine Chance gehabt. So aber war dies nur eine Sache zwischen uns beiden da auf dem Parkplatz. Wenn er auf mein Geld und mein Auto aus war, dann hatte er sein Ziel erreicht. Er hatte bekommen, was er wollte. Nun konnte er aller Welt die tollsten Geschichten auf‌tischen, und niemand würde sie zurechtrücken und erzählen, wie es...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2024
Reihe/Serie Tamara Hayle
Tamara Hayle
Übersetzer Gertraude Krueger
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel No Hiding Place
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte afroamerikanisch • alleinerziehend • Amerika • Black lives matter • Colorism • Diskriminierung • Hard Boiled • Krimi • Newark bei New York • Polizei • Privatdetektivin • Schwarz • Serie • Tamara Hayle
ISBN-10 3-257-61483-7 / 3257614837
ISBN-13 978-3-257-61483-1 / 9783257614831
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