Brigitta (eBook)

Stifter, Adalbert - Deutsch-Lektüre, Deutsche Klassiker der Literatur - 14563
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
88 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962238-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Brigitta -  Adalbert Stifter
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Brigitta, die Titelgestalt der zuerst 1844, in überarbeiteter Form dann 1847 im vierten Band der Studien erschienenen Erzählung, ist bei aller Vernunft und Tatkraft auf ungewöhnliche Weise benachteiligt: als Kind so hässlich, dass selbst die Mutter sich von ihr abwendet, wächst sie einsam und unverstanden auf, und auch ihre Ehe steht vorerst unter keinem guten Stern. Der Leser wird Schritt für Schritt in die Ereignisse eingeweiht und erkennt erst im Rückblick vom Ende her die Protagonisten ganz. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Adalbert Stifter (23. 10. 1805 Oberplan, Böhmerwald - 28. 1. 1868 Linz) ist einer der exemplarischen Erzähler des Realismus im 19. Jahrhundert. Vor allem erfolgreich waren seine Erzählungen, die großen Romane behaupten das realistische Erzählprogramm in Auseinandersetzung mit der Gattungstradition.

Adalbert Stifter (23. 10. 1805 Oberplan, Böhmerwald – 28. 1. 1868 Linz) ist einer der exemplarischen Erzähler des Realismus im 19. Jahrhundert. Vor allem erfolgreich waren seine Erzählungen, die großen Romane behaupten das realistische Erzählprogramm in Auseinandersetzung mit der Gattungstradition.

[5]1

Steppenwanderung


Es gibt oft Dinge und Beziehungen in dem menschlichen Leben, die uns nicht sogleich klar sind, und deren Grund wir nicht in Schnelligkeit hervorzuziehen vermögen. Sie wirken dann meistens mit einem gewissen schönen und sanften Reize des Geheimnisvollen auf unsere Seele. In dem Angesichte eines Hässlichen ist für uns oft eine innere Schönheit, die wir nicht auf der Stelle von seinem Werte herzuleiten vermögen, während uns oft die Züge eines andern kalt und leer sind, von denen alle sagen, dass sie die größte Schönheit besitzen. Ebenso fühlen wir uns manchmal zu einem hingezogen, den wir eigentlich gar nicht kennen, es gefallen uns seine Bewegungen, es gefällt uns seine Art, wir trauern, wenn er uns verlassen hat, und haben eine gewisse Sehnsucht, ja eine Liebe zu ihm, wenn wir oft noch in späteren Jahren seiner gedenken: während wir mit einem andern, dessen Wert in vielen Taten vor uns liegt, nicht ins Reine kommen können, wenn wir auch jahrelang mit ihm umgegangen sind. Dass zuletzt sittliche Gründe vorhanden sind, die das Herz herausfühlt, ist kein Zweifel, allein wir können sie nicht immer mit der Waage des Bewusstseins und der Rechnung hervorheben, und anschauen. Die Seelenkunde hat manches beleuchtet und erklärt, aber vieles ist ihr dunkel und in großer Entfernung geblieben. Wir glauben daher, dass es nicht zu viel ist, wenn wir sagen, es sei für uns noch ein heiterer unermesslicher Abgrund, in dem Gott und die Geister wandeln. Die Seele in Augenblicken der Entzückung überfliegt ihn oft, die [6]Dichtkunst in kindlicher Unbewusstheit lüftet ihn zuweilen; aber die Wissenschaft mit ihrem Hammer und Richtscheite steht häufig erst an dem Rande, und mag in vielen Fällen noch gar nicht einmal Hand angelegt haben.

Zu diesen Bemerkungen bin ich durch eine Begebenheit veranlasst worden, die ich einmal in sehr jungen Jahren auf dem Gute eines alten Majors erlebte, da ich noch eine sehr große Wanderlust hatte, die mich bald hier bald dort ein Stück in die Welt hinein trieb, weil ich noch weiß Gott was zu erleben und zu erforschen verhoffte.

Ich hatte den Major auf einer Reise kennen gelernt, und schon damals lud er mich wiederholt ein, ihn einmal in seiner Heimat zu besuchen. Allein ich hielt dies für eine bloße Redeformel und Artigkeit, wie Reisende wohl oft zu wechseln pflegen, und hätte der Sache wahrscheinlich keine weitere Folge gegeben, wenn nicht im zweiten Jahre unserer Trennung ein Brief von ihm gekommen wäre, in welchem er sich angelegentlich um mein Befinden erkundigte, und zuletzt wieder die alte Bitte hinzufügte, doch einmal zu ihm zu kommen, und einen Sommer, ein Jahr, oder fünf oder zehn Jahre bei ihm zuzubringen, wie es mir gefällig wäre; denn er sei jetzt endlich gesonnen, auf einem einzigen winzigen Punkte dieser Erdkugel kleben zu bleiben, und kein anderes Stäubchen mehr auf seinen Fuß gelangen zu lassen, als das der Heimat, in welcher er nunmehr ein Ziel gefunden habe, das er sonst vergeblich auf der ganzen Welt gesucht hatte.

Das es nun eben Frühling war, da ich neugierig war, sein Ziel kennen zu lernen, da ich eben nicht wusste, wo ich hin reisen sollte; beschloss ich, seiner Bitte nachzugeben und seiner Einladung zu folgen.

[7]Er hatte sein Gut im östlichen Ungarn – zwei Tage schlug ich mich mit Plänen herum, wie ich die Reise am geschicktesten machen sollte, am dritten Tage saß ich im Postwagen, und rollte nach Osten, während ich mich, da ich das Land nie gesehen hatte, bereits mit Bildern von Heiden und Wäldern trug – und am achten wandelte ich bereits auf einer Puszta, so prachtvoll und öde, als sie nur immer Ungarn aufzuweisen haben mag.

Anfangs war meine ganze Seele von der Größe des Bildes gefasst: wie die endlose Luft um mich schmeichelte, wie die Steppe duftete, und ein Glanz der Einsamkeit überall und allüberall hinaus webte: – aber wie das morgen wieder so wurde, übermorgen wieder – immer gar nichts, als der feine Ring, in dem sich Himmel und Erde küssten, gewöhnte sich der Geist daran, das Auge begann zu erliegen, und von dem Nichts so übersättigt zu werden, als hätte es Massen von Stoff auf sich geladen – es kehrte in sich zurück, und wie die Sonnenstrahlen spielten, die Gräser glänzten, zogen verschiedene einsame Gedanken durch die Seele, alte Erinnerungen kamen wimmelnd über die Heide, und darunter war auch das Bild des Mannes, zu dem ich eben auf der Wanderung war – ich griff es gerne auf, und in der Öde hatte ich Zeit genug, alle Züge, die ich von ihm erfahren hatte, in meinem Gedächtnisse zusammenzusuchen, und ihnen neue Frische zu geben.

In Unteritalien beinahe in einer ebenso feierlichen Öde, wie die war, durch die ich heute wandelte, hatte ich ihn zum ersten Male gesehen. Er war damals in allen Gesellschaften gefeiert, und obwohl schon fast fünfzig Jahre alt, doch noch das Ziel von manchen schönen Augen; denn nie hat man einen Mann gesehen, dessen Bau und Antlitz [8]schöner genannt werden konnte, noch einen, der dieses Äußere edler zu tragen verstand. Ich möchte sagen, es war eine sanfte Hoheit, die um alle seine Bewegungen floss, so einfach und siegend, dass er mehr als einmal auch Männer betörte. Auf Frauenherzen aber, ging die Sage, soll er einst wahrhaft sinnverwirrend gewirkt haben. Man trug sich mit Geschichten von Siegen und Eroberungen, die er gemacht haben soll, und die wunderbar genug waren. Aber ein Fehler, sagte man, hänge ihm an, der ihn erst recht gefährlich mache; nämlich, es sei noch niemanden, selbst der größten Schönheit, die diese Erde trage, nicht gelungen, ihn länger zu fesseln, als es ihm eben beliebte. Mit aller Lieblichkeit, die ihm jedes Herz gewann, und das der Erkornen mit siegreicher Wonne füllte, benahm er sich bis zu Ende, dann nahm er Abschied, machte eine Reise, und kam nicht wieder. – Aber dieser Fehler, statt sie abzuschrecken, gewann ihm die Weiber nur noch mehr, und manche rasche Südländerin mochte glühen, ihr Herz und ihr Glück, sobald als nur immer möglich, an seine Brust zu werfen. Auch reizte es sehr, dass man nicht wusste, woher er sei, und welche Stellung er unter den Menschen einnehme. Obwohl sie sagten, dass die Grazien um seinen Mund spielen, setzten sie doch hinzu, dass auf seiner Stirne eine Art Trauer wohne, die der Zeiger einer bedeutenden Vergangenheit sei – aber das war am Ende das Lockendste, dass niemand diese Vergangenheit wusste. Er soll in Staatsbegebenheiten verwickelt gewesen sein, er soll sich unglücklich vermählt, er soll seinen Bruder erschossen haben – und was dieser Dinge mehr waren. Das aber wussten alle, dass er sich jetzt sehr stark mit Wissenschaften beschäftigte.

Ich hatte schon sehr viel von ihm gehört, und erkannte [9]ihn augenblicklich, als ich ihn einmal auf dem Vesuve Steine herabschlagen, und dann zu dem neuen Krater hinzugehen, und freundlich auf das blaue Ringeln des Rauches schauen sah, der noch sparsam aus der Öffnung und aus den Ritzen quoll. Ich ging über die gelb glänzenden Knollen zu ihm hin und redete ihn an. Er antwortete gerne, und ein Wort gab das andere. Wirklich war damals eine furchtbar zerworfene dunkle Öde um uns, die so schroffer wurde, als der unsäglich anmutige tiefblaue Südhimmel gerade über ihr stand, zu dem die Rauchwölkchen traulich seitwärts zogen. Wir sprachen damals lange miteinander, gingen dann aber jeder allein von dem Berge.

Später fand sich wieder Gelegenheit, dass wir zusammenkamen, wir besuchten uns dann öfter, und waren endlich bis zu meiner Heimreise fast unzertrennt beieinander. Ich fand, dass er an den Wirkungen, die sein Äußeres machen sollte, ziemlich unschuldig war. Aus seinem Innern brach oft so etwas Ursprüngliches und Anfangsmäßiges, gleichsam als hätte er sich, obwohl er schon gegen die fünfzig Jahre ging, seine Seele bis jetzt aufgehoben, weil sie das Rechte nicht hatte finden können. Dabei erkannte ich, als ich länger mit ihm umging, dass diese Seele das Glühendste und Dichterischste sei, was mir bis dahin vorgekommen ist, daher es auch kommen mochte, dass sie das Kindliche, Unbewusste, Einfache, Einsame, ja oft Einfältige an sich hatte. Er war sich dieser Gaben nicht bewusst, und sagte in Natürlichkeit die schönsten Worte, die ich je aus einem Munde gehört habe, und nie in meinem Leben, selbst später nicht, als ich Gelegenheit hatte, mit Dichtern und Künstlern umzugehen, habe ich einen so empfindlichen Schönheitssinn angetroffen, der durch Ungestalt und [10]Rohheit bis zur Ungeduld gereizt werden konnte, als an ihm. Diese unbewussten Gaben mochten es auch sein, die ihm alle Herzen des andern Geschlechtes zufliegen machten, weil dieses Spielen und Glänzen an Männern in vorgerückten Jahren gar so selten ist. Eben daher mochte es auch kommen, dass er mit mir als einem ganz jungen Menschen so gerne umging, so wie ich meinerseits in jenen Zeiten eigentlich auch noch nicht recht diese Dinge zu würdigen vermochte, und mir dieselben erst recht einleuchtend wurden, da ich älter war, und daran ging, die Erzählung seines Lebens zusammenzustellen. Wie weit es mit seinem sagenhaften Glücke bei Weibern ging, habe ich nie erfahren können, da er niemals über diese Dinge sprach, und sich auch nie Gelegenheit zu Beobachtungen vorfand. Von jener Trauer, die auf seiner Stirne sitzen sollte, konnte ich ebenfalls nichts wahrnehmen, so wie ich auch von seinen...

Erscheint lt. Verlag 29.4.2024
Reihe/Serie Reclam premium Sprachtraining
Reclams Universal-Bibliothek
Mitarbeit Kommentare: Ulrich Dittmann
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schulbuch / Wörterbuch Lektüren / Interpretationen Latein
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte 19. Jahrhundert • Beidermeier • Belletristik • Biedermeier • Buch Latein lernen • Buch Latinum Intensivkurs • Deutsch • Deutsch-Unterricht • gelb • gelbe bücher • Grundlagen Latein • Klassenlektüre • Klassische Belletristik • Latein Crashkurs • Latein Grundkurs • Latein Gymnasium • Latein Schüler • Latein Studium • Latein Übungsaufgaben • Lektüre • Lernhilfe Latein • Literatur • Literatur Klassiker • Prosa • Reclam Hefte • Reclams Rote Reihe Latein • Reclams Universal Bibliothek • Schullektüre • Sprachtrainining Latein • Stifter Studien • Weltliteratur
ISBN-10 3-15-962238-X / 315962238X
ISBN-13 978-3-15-962238-5 / 9783159622385
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