Das Lied von Eis und Feuer 7
Blanvalet Taschenbuch Verlag
978-3-442-24350-1 (ISBN)
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Der Kampf um den Eisernen Thron ist zum Erliegen gekommen, nachdem die sieben mächtigsten Familien des Landes im Streit um die Herrschaft einen hohen Blutzoll zahlen mussten. Doch schon regen sich neue Machtkämpfe, werden Intrigen gesponnen und Allianzen geschmiedet. Und aus dem Chaos, das die Kriege hinterlassen haben, tauchen Totgeglaubte und Verschollene auf und machen ihre Ansprüche geltend ...
George R. R. Martin, 1948 in Bayonne/New Jersey geboren, veröffentlichte seine ersten Kurzgeschichten im Jahr 1971 und gelangte damit in der Science-Fiction-Szene zu frühem Ruhm. Gleich mehrfach wurde ihm der renommierte Hugo Award verliehen. Danach arbeitete er in der Produktion von Fernsehserien, etwa als Dramaturg der TV-Serie "Twilight Zone", ehe er 1996 mit einem Sensationserfolg auf die Bühne der Fantasy-Literatur zurückkehrte: Sein mehrteiliges Epos "Das Lied von Eis und Feuer" wird einhellig als Meisterwerk gepriesen. George R. R. Martin lebt in Santa Fe, New Mexico.
"An Spannung und epischer Wucht nicht zu überbieten!"
Prolog »Drachen«, sagte Mollander. Er hob einen schrumpligen Apfel vom Boden auf und warf ihn von einer Hand in die andere. »Mach schon«, verlangte Alleras die Sphinx. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. »Einen Drachen würde ich auch gern mal sehen.« Roone war der Jüngste unter ihnen, ein vierschrötiger Junge, dem zwei Jahre fehlten, bis man ihn einen Mann nennen durfte. »Sehr gern.« Und ich würde gern in Roseys Armen schlafen, dachte Pate. Er rutschte unruhig auf der Bank hin und her. Morgen schon könnte das Mädchen ihm gehören. Ich gehe mit ihr fort aus Oldtown, über die Meerenge, in eine der Freien Städte. Dort gab es keine Maester, niemanden, der ihm Vorhaltungen machen könnte. Durch die Fensterläden über ihm hörte er Emmas Lachen, das sich mit der tiefen Stimme des Mannes mischte, dem sie gerade zu Diensten war. Sie war die älteste Schankmagd im Federkiel und Fässchen, mindestens vierzig, ein wenig korpulent, aber noch immer hübsch. Rosey war ihre Tochter, fünfzehn und unlängst erblüht. Roseys Jungfräulichkeit würde einen goldenen Drachen kosten, hatte Emma verkündet. Pate hatte neun Silberhirschen und einen Topf voller Kupfersterne und Pfennige gespart, was ihm jedoch nicht viel weiterhalf. Vermutlich würde er eher einen echten Drachen ausbrüten, als jemals einen goldenen in die Hände bekommen. »Für Drachen bist du zu spät geboren, Junge«, meinte Armen der Akolyth zu Roone. Armen trug ein Lederband um den Hals, an dem Glieder aus Zinn, Blei und Kupfer aufgereiht waren, und wie die meisten Akolythen schien er zu glauben, bei Novizen sitze anstelle des Kopfes eine Rübe zwischen den Schultern. »Der Letzte ist während der Herrschaft von König Aegon dem Dritten verendet.« »Der letzte Drache in Westeros«, widersprach Mollander. »Wirf den Apfel«, verlangte Alleras aufs Neue. Ihre Sphinx war ein schöner junger Mann. Alle Schankmädchen schwärmten für ihn. Sogar Rosey legte ihm manchmal die Hand auf den Arm, wenn sie ihm Wein brachte, und Pate tat dann stets zähneknirschend so, als bemerke er nichts. »Der letzte Drache in Westeros war der letzte Drache überhaupt«, beharrte Armen. »Das ist doch allseits bekannt.« »Der Apfel«, sagte Alleras. »Es sei denn, du willst ihn essen.« »Hier.« Mollander vollführte einen kleinen Hüpfer und zog dabei seinen Klumpfuß hinter sich her, wirbelte herum und schleuderte den Apfel mit einer tief geführten Armbewegung in den Nebel, der über dem Honeywine hing. Ohne diesen Fuß wäre er ein Ritter geworden, wie sein Vater. In den dicken Armen und den breiten Schultern steckte jedenfalls ausreichend Kraft. Schnell und weit flog der Apfel ... ... doch nicht so schnell wie der Pfeil, der hinterher zischte, ein schrittlanger Schaft aus goldenem Holz, der am Ende scharlachrot befiedert war. Pate sah nicht, wie der Pfeil den Apfel traf, hörte es jedoch. Ein leises Plopp hallte über den Fluss zu ihnen herüber, darauf folgte ein Platschen. Mollander pfiff. »Du hast ihn glatt entkernt. Süß.« Nicht halb so süß wie Rosey. Pate liebte ihre braunen Augen und ihre knospenden Brüste, er mochte die Art, wie sie ihn anlächelte, wann immer sie ihn sah. Auch in ihre Grübchen war er verliebt. Manchmal lief sie beim Servieren barfuß, um das Gras unter den Füßen zu spüren. Das gefiel ihm ebenfalls. Er liebte ihren sauberen Geruch und ihre Haare, die sich hinter den Ohren lockten. Sogar ihre Zehen hatten es ihm angetan. Einmal hatte sie ihm nachts erlaubt, ihr die Füße zu reiben, und er durfte sogar mit den Zehen spielen. Dabei hatte er sich für jede eine lustige Geschichte ausgedacht, damit Rosey nur nicht aufhörte zu kichern. Vielleicht wäre es besser, auf dieser Seite der Meerenge zu bleiben. Er könnte mit seinen ersparten Münzen einen Esel kaufen, würde sich mit Rosey beim Reiten abwechseln und durch Westeros wandern. Ebrose glaubte vielleicht, Pate sei des Silbers nicht würdig, aber Pate konnte einen Knochen richten oder einen Fieberkranken zur Ader lassen. Das gemeine Volk würde seine Hilfe schätzen. Wenn er dazu noch lernte, Haare zu schneiden und Bärte zu scheren, könnte er Barbier werden. Das würde mir genügen, sagte er sich, solange ich nur bei Rosey wäre. Rosey war alles auf der Welt, was er sich wünschte. Nicht immer war es so gewesen. Früher einmal hatte er davon geträumt, ein Maester auf einer Burg zu werden und für einen großzügigen Lord tätig zu sein, der ihn für seine Weisheit achtete und ihm zum Dank für seine Dienste ein wunderschönes weißes Pferd schenkte. Wie hoch zu Ross hätte er gesessen, wie nobel wäre er dahergeritten und hätte dem gemeinen Volk auf der Straße von oben zugelächelt ... Eines Abends hatte Pate im Schankraum vom Federkiel und Fässchen nach dem zweiten Krug dieses grässlich starken Apfelweins damit geprahlt, dass er nicht ewig ein Novize bleiben werde. »Gewiss, gewiss«, hatte der Faule Leo gerufen. »Später bist du ein ehemaliger Novize und hütest Schweine.« Er trank den letzten Schluck aus seinem Krug. Die Fackeln auf der Terrasse des Federkiel und Fässchen bildeten eine Insel aus Licht in einem Meer aus Nebel. Weiter flussabwärts schwebte das ferne Leuchtfeuer des hohen Turms, des Hightower, in der Feuchtigkeit der Nacht wie ein orangefarbener, dunstverhangener Mond, doch auch dieses Licht hellte Pates Stimmung nicht auf. Der Alchimist hätte längst hier sein sollen. Hatte sich der Mann lediglich einen bösen Scherz erlaubt, oder war ihm etwas zugestoßen? Es wäre nicht das erste Mal, dass sich das Schicksal für Pate zum Schlechten wendete. So hatte er sich zunächst glücklich geschätzt, als man ihn auswählte, dem alten Erzmaester Walgrave bei den Raben zu helfen, denn er hätte sich niemals träumen lassen, dass er schon nach so kurzer Zeit dem alten Mann seine Mahlzeiten bringen, seine Gemächer kehren und ihn jeden Morgen anziehen würde. Alle behaupteten, der Greis habe über die Rabenzucht mehr vergessen, als die meisten Maester je an Wissen anhäufen würden, daher war Pate der festen Überzeugung gewesen, er dürfe zumindest auf ein schwarzes Eisenglied hoffen. Doch schließlich stellte sich heraus, dass Walgrave ihm keines verleihen konnte. Der alte Mann hatte seinen Rang als Erzmaester allein aufgrund der Höflichkeit seiner Kollegen behalten. Was für ein großer Maester er einst auch gewesen sein mochte, jetzt verhüllte seine Robe ein ums andere Mal eingenässte Unterwäsche, und vor einem halben Jahr hatte ihn ein Akolyth weinend in der Bibliothek entdeckt, weil er den Rückweg zu seinen Gemächern nicht mehr fand. Maester Gormon saß jetzt unter der eisernen Maske auf Walgraves Platz, genau jener Gormon, der Pate einst des Diebstahls bezichtigt hatte. Im Apfelbaum am Wasser begann eine Nachtigall mit ihrem Gesang. Die lieblichen Laute boten eine willkommene Abwechslung zu dem rauen Krakeelen und dem endlosen Krächzen der Raben, um die er sich den ganzen Tag gekümmert hatte. Die weißen Raben kannten seinen Namen und murmelten ihn einander zu, sobald sie den Jungen sahen, »Pate, Pate, Pate«, so lange, bis ihm nur noch nach Schreien zumute war. Die weißen Vögel waren Erzmaester Walgraves ganzer Stolz. Nach seinem Tod wollte er von ihnen gefressen werden, und Pate hegte den leisen Verdacht, dass sie auch durchaus darauf erpicht waren, ihn zu verspeisen. Vielleicht lag es an diesem grässlich starken Apfelwein - Pate war eigentlich gar nicht gekommen, um zu trinken, aber Alleras hatte zur Feier seines Kupferglieds eingeladen, und das schlechte Gewissen hatte Pates Durst geweckt - dennoch klang es fast, als trällerte die Nachtigall Gold für Eisen, Gold für Eisen, Gold für Eisen. Das war überaus eigenartig, das Gleiche hatte der Fremde an jenem Abend gesagt, an dem Rosey sie zusammengebracht hatte. »Wer seid Ihr?«, hatte Pate von ihm wissen wollen, und der Mann hatte geantwortet: »Ein Alchimist. Ich kann Eisen in Gold verwandeln.« Und dann hatte er plötzlich diese Münze in der Hand, ließ sie zwischen den Fingern über die Knöchel tanzen, und das Gold glänzte im Schein der Kerzen. Auf einer Seite prangte der dreiköpfige Drache, auf der anderen der Kopf irgendeines toten Königs. Gold für Eisen, erinnerte sich Pate, besser kannst du es gar nicht treffen. Begehrst du sie? Liebst du sie? »Ich bin kein Dieb«, hatte er dem Mann gesagt, der sich als Alchimist ausgab, »ich bin ein Novize der Citadel.« Der Alchimist hatte den Kopf geneigt. »Falls du es dir anders überlegst, ich bin in drei Tagen mit meinem Drachen wieder hier.« Die drei Tage waren vergangen. Pate saß wieder im Federkiel und Fässchen, immer noch unsicher, was er war, doch anstelle des Alchimisten hatte er Mollander und Armen und die Sphinx vorgefunden, und in ihrem Schlepptau Roone. Es hätte ihr Misstrauen erregt, wenn er sich nicht zu ihnen gesellt hätte. Das Federkiel und Fässchen schloss niemals seine Pforten. Seit sechshundert Jahren stand es auf seiner Insel im Honeywine, und in dieser Zeit hatte es kein einziges Mal zugemacht. Obwohl sich das hohe Holzgebäude nach Süden neigte, so wie Novizen manchmal nach einem Krug zu viel, ging Pate davon aus, dass das Gasthaus hier noch weitere sechshundert Jahre stehen und man Wein und Bier und grässlich starken Apfelwein an Flussleute und Seeleute ausschenken würde, an Schmiede und Sänger, Priester und Prinzen und an die Novizen und Akolythen der Citadel. »Oldtown ist nicht die Welt«, verkündete Mollander mit zu lauter Stimme. Er war der Sohn eines Ritters und hätte betrunkener nicht sein können. Seit man ihm die Nachricht vom Tode seines Vaters am Blackwater überbracht hatte, betrank er sich fast jeden Abend. Sogar hier in Oldtown, weit entfernt von den Kämpfen und hinter den sicheren Mauern, hatte der Krieg der Fünf Könige sie erreicht. ... wobei Erzmaester Benedict darauf beharrte, es habe niemals einen Krieg von fünf Königen gegeben, da Renly Baratheon ermordet worden sei, bevor Balon Greyjoy sich die Krone aufs Haupt gesetzt habe. »Mein Vater hat immer gesagt, die Welt ist größer als jede Burg, die ein Lord besitzen kann«, fuhr Mollander fort. »Drachen wären doch das Mindeste, was man in Qarth oder Asshai oder Yi Ti finden sollte. Diese Geschichten der Seefahrer ...« »... sind Geschichten von Seefahrern«, fiel ihm Armen ins Wort. »Seefahrer, mein lieber Mollander. Geh nur hinunter zum Hafen, und ich wette, dort findest du Seeleute, die dir von Meerjungfrauen erzählen, bei denen sie gelegen haben, oder die dir weismachen wollen, sie hätten ein Jahr im Bauch eines Fisches verbracht.« »Woher weißt du denn, dass das nicht stimmt?« Mollander suchte im Gras nach weiteren Äpfeln. »Du müsstest ja selbst im Bauch eines Fisches gewesen sein, um beschwören zu können, dass sie es nicht waren. Ein Seemann und eine Geschichte, ja, darüber könnte man lachen, aber wenn die Ruderer von vier verschiedenen Galeeren die gleiche Geschichte in vier verschiedenen Sprachen erzählen ...« »Die Geschichten sind nicht gleich«, widersprach Armen. »Drachen in Asshai, Drachen in Qarth, Drachen in Meereen, Drachen der Dothraki, Drachen, die Sklaven befreien ... jede Erzählung unterscheidet sich von den anderen.« »Nur in den Einzelheiten.« Mollanders Sturheit steigerte sich, wenn er trank, und selbst nüchtern war er ein Dickkopf. »In allen wird von Drachen und einer wunderschönen jungen Königin berichtet.« Der einzige Drache, für den sich Pate interessierte, war aus gelbem Gold geprägt. Er fragte sich, was dem Alchimisten zugestoßen war. Am dritten Tag. Er hat gesagt, er würde kommen. »Da liegt ein Apfel neben deinem Fuß«, rief Alleras Mollander zu, »und ich habe noch zwei Pfeile im Köcher.« »Scheiß auf deinen Köcher.« Mollander hob den Fallapfel auf. »Der ist wurmstichig«, beschwerte er sich, warf ihn jedoch trotzdem. Der Pfeil traf den Apfel, als dieser zu sinken begann, und teilte ihn sauber in zwei Hälften. Eine landete auf dem Dach eines Türmchens, kullerte auf ein niedrigeres Dach, hüpfte herunter und verfehlte Armen nur um einen Fuß. »Wenn du einen Wurm in zwei Stücke schneidest, hast du zwei Würmer«, erklärte der Akolyth ihnen. »Na, das müsste bei Äpfeln auch so sein, dann bräuchte nie wieder jemand Hunger leiden«, sagte Alleras und setzte dieses milde Lächeln auf. Die Sphinx lächelte stets, als grinse er im Stillen über einen Scherz. Irgendwie niederträchtig, was gut zu dem spitzen Kinn, dem in der Stirnmitte spitz zulaufenden Haaransatz und dem dichten Wust der kurz geschnittenen, pechschwarzen Locken passte. Alleras würde es zum Maester bringen. Obwohl er erst seit einem Jahr auf der Citadel war, hatte er bereits drei Glieder seiner Maesterkette geschmiedet. Armen hatte zwar mehr, aber er hatte für jedes ein Jahr gebraucht. Dennoch würde auch er ein Maester werden. Roone und Mollander blieben Novizen mit rosa Hals, doch Roone war noch sehr jung, und Mollander zog das Trinken dem Lesen vor. Pate hingegen ... Er war bereits seit fünf Jahren in der Citadel, mit dreizehn war er angekommen, und trotzdem war sein Hals so rosa wie am Tag seiner Ankunft aus den Westerlanden. Zweimal hatte er geglaubt, bereit zu sein. Beim ersten Mal war er vor Erzmaester Vaellyn getreten, um ihm sein Wissen über den Himmel darzulegen. Stattdessen hatte er erfahren, wie Weinessig-Vaellyn zu seinem Spitznamen gekommen war. Zwei Jahre brauchte Pate, bis er wieder genug Mut gesammelt hatte, um es erneut zu versuchen. Diesmal wandte er sich an den freundlichen alten Erzmaester Ebrose, der für seine leise Stimme und seine sanften Hände bekannt war, doch hatten sich Ebroses Seufzer als ebenso schmerzhaft erwiesen wie Vaellyns spitze Bemerkungen. »Einen Apfel noch«, versprach Alleras, »dann erzähle ich euch, was es meiner Vermutung nach mit diesen Drachen auf sich hat.« »Was könntest du darüber wissen, das mir unbekannt ist?«, knurrte Mollander. An einem Ast entdeckte er einen Apfel, sprang hoch, riss ihn ab und warf ihn in die Luft. Alleras zog die Bogensehne bis ans Ohr zurück und drehte sich anmutig, während er sein davonfliegendes Ziel verfolgte. In dem Moment, wo der Apfel zu sinken begann, ließ er den Pfeil los. »Dein letzter Schuss geht immer daneben«, sagte Roone. Unversehrt platschte der Apfel in den Fluss. »Siehst du?«, meinte Roone. »Wenn du alle schaffst, kannst du dich nicht mehr verbessern.« Alleras löste die Sehne und schob den Bogen in sein Lederfutteral. Der Bogen war aus Goldherz geschnitzt, einem seltenen und berühmten Holz von den Summer Isles. Pate hatte einmal versucht, es durchzubiegen, doch er hatte es nicht geschafft. Die Sphinx sieht schmächtig aus, aber in diesen dünnen Armen steckt eine Menge Kraft, dachte er, während Alleras ein Bein quer über die Bank legte und nach seinem Weinbecher langte. »Der Drache hat drei Köpfe«, verkündete er in seinem breiten dornischen Dialekt. »Soll das ein Rätsel sein?«, wollte Roone wissen. »In den Legenden sprechen Sphinxe immer in Rätseln.« »Kein Rätsel.« Alleras nippte an seinem Wein. Die anderen tranken den grässlich starken Apfelwein, für den das Federkiel und Fässchen so bekannt war, aus großen Krügen, doch er bevorzugte den süßen Wein aus dem Land seiner Mutter. Selbst in Oldtown waren solche Weine nicht billig zu haben. Der Faule Leo hatte Alleras den Spitznamen »Sphinx« verpasst. Eine Sphinx ist ein wenig von diesem und ein wenig von jenem; sie hat ein menschliches Gesicht, den Körper eines Löwen und die Flügel eines Falken. Das traf auch auf Alleras zu; sein Vater war ein Dornischer, seine schwarzhäutige Mutter stammte von den Summer Isles. Auch seine eigene Haut war so dunkel wie Teakholz. Und wie die grünen Marmorsphinxe, die den Haupteingang der Citadel flankierten, hatte Alleras Augen aus Onyx. »Außer auf Schilden und Bannern hat nie ein Drache drei Köpfe gehabt«, hielt Armen der Akolyth dagegen. »Das ist eine Frage der Wappenkunde, mehr nicht. Außerdem sind die Targaryens alle tot.« »Nicht alle«, erwiderte Alleras. »Der Bettlerkönig hatte eine Schwester.« »Ich dachte, der hat man den Kopf an der Wand eingeschlagen«, wandte Roone ein. »Nein«, meinte Alleras. »Das war Prinz Rhaegars kleiner Sohn Aegon, den die Männer des Lannister-Löwen mit dem Kopf gegen die Wand geschmettert haben. Ich spreche von Rhaegars Schwester, die auf Dragonstone geboren wurde, bevor die Festung gefallen ist. Die, die sie Daenerys nennen.« »Die Sturmgeborene. Jetzt erinnere ich mich.« Mollander hob seinen Krug und stürzte den letzten Apfelwein hinunter. »Ich trinke auf sie!« Er schluckte, knallte den leeren Krug auf den Tisch, rülpste und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. »Wo ist Rosey? Unsere rechtmäßige Königin verdient eine Runde Apfelwein, findet ihr nicht auch?« Armen der Akolyth sah erschrocken aus. »Nicht so laut, du Narr. Über solche Dinge sollte man nicht einmal spotten. Man weiß nie, wer gerade zuhört. Die Spinne hat überall ihre Ohren.« »Ach, mach dir nicht in die Hose, Armen. Ich habe nur vorgeschlagen, etwas zu trinken, nicht zu einer Rebellion aufgerufen. Pate hörte ein Kichern. Leise und verschlagen rief eine Stimme von hinten: »Ich wusste doch immer, dass du ein Verräter bist, Hüpffrosch.« Der Faule Leo saß am Ende der alten Brücke aus Planken; er war in grünen und goldenen Satin gehüllt, und um die Schultern hing ihm ein schwarzes Seidencape, das vorn mit einer Jaderose verschlossen war. Der Wein, der ihm vorn auf die Kleidung getropft war, musste sehr rot gewesen sein, angesichts der Farbe der Flecken. Eine Locke seines aschblonden Haars fiel ihm über das eine Auge. Mollander nahm eine drohende Haltung an. »Ach, verflucht. Geht weg! Euch will hier niemand sehen.« Alleras legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, Armen runzelte die Stirn. »Leo. Mylord. Ich habe gehört, Ihr dürft die Citadel nicht verlassen, wenigstens noch für ...« »... drei weitere Tage.« Der Faule Leo zuckte mit den Achseln. »Perestan sagt, die Welt ist vierzigtausend Jahre alt. Mollos meint, es seien fünfhunderttausend. Was machen da schon drei Tage aus, frage ich dich?« Obwohl auf der Terrasse ein Dutzend Tische frei waren, setzte sich Leo an ihren. »Spendier mir einen Becher Arborgold, Hüpffrosch, und vielleicht verrate ich dann meinem Vater nichts von deinem Trinkspruch. Im Geschachten Hasard haben sich die Spielsteine gegen mich gewendet, und meinen letzten Hirschen habe ich fürs Essen verschwendet. Ferkel in Pflaumensoße, gefüllt mit Kastanien und weißen Trüffeln. Schließlich muss ein Mann auch essen. Was gab es bei euch?« »Hammel«, murmelte Mollander. Er klang nicht besonders begeistert. »Wir haben uns eine gekochte Hammelkeule geteilt.« »Gewiss seid ihr satt geworden.« Leo wandte sich an Alleras. »Der Sohn eines Lords sollte freigebig sein, Sphinx. Wie mir zu Ohren kam, hast du dein Kupferglied geschmiedet. Darauf trinke ich.« Alleras lächelte ihn an. »Ich lade nur meine Freunde zum Trinken ein. Und ich bin nicht der Sohn eines Lords, das habe ich Euch schon einmal gesagt. Meine Mutter war eine Händlerin.«
Prolog »Drachen«, sagte Mollander. Er hob einen schrumpligen Apfel vom Boden auf und warf ihn von einer Hand in die andere. »Mach schon«, verlangte Alleras die Sphinx. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. »Einen Drachen würde ich auch gern mal sehen.« Roone war der Jüngste unter ihnen, ein vierschrötiger Junge, dem zwei Jahre fehlten, bis man ihn einen Mann nennen durfte. »Sehr gern.« Und ich würde gern in Roseys Armen schlafen, dachte Pate. Er rutschte unruhig auf der Bank hin und her. Morgen schon könnte das Mädchen ihm gehören. Ich gehe mit ihr fort aus Oldtown, über die Meerenge, in eine der Freien Städte. Dort gab es keine Maester, niemanden, der ihm Vorhaltungen machen könnte. Durch die Fensterläden über ihm hörte er Emmas Lachen, das sich mit der tiefen Stimme des Mannes mischte, dem sie gerade zu Diensten war. Sie war die älteste Schankmagd im Federkiel und Fässchen, mindestens vierzig, ein wenig korpulent, aber noch immer hübsch. Rosey war ihre Tochter, fünfzehn und unlängst erblüht. Roseys Jungfräulichkeit würde einen goldenen Drachen kosten, hatte Emma verkündet. Pate hatte neun Silberhirschen und einen Topf voller Kupfersterne und Pfennige gespart, was ihm jedoch nicht viel weiterhalf. Vermutlich würde er eher einen echten Drachen ausbrüten, als jemals einen goldenen in die Hände bekommen. »Für Drachen bist du zu spät geboren, Junge«, meinte Armen der Akolyth zu Roone. Armen trug ein Lederband um den Hals, an dem Glieder aus Zinn, Blei und Kupfer aufgereiht waren, und wie die meisten Akolythen schien er zu glauben, bei Novizen sitze anstelle des Kopfes eine Rübe zwischen den Schultern. »Der Letzte ist während der Herrschaft von König Aegon dem Dritten verendet.« »Der letzte Drache in Westeros«, widersprach Mollander. »Wirf den Apfel«, verlangte Alleras aufs Neue. Ihre Sphinx war ein schöner junger Mann. Alle Schankmädchen schwärmten für ihn. Sogar Rosey legte ihm manchmal die Hand auf den Arm, wenn sie ihm Wein brachte, und Pate tat dann stets zähneknirschend so, als bemerke er nichts. »Der letzte Drache in Westeros war der letzte Drache überhaupt«, beharrte Armen. »Das ist doch allseits bekannt.« »Der Apfel«, sagte Alleras. »Es sei denn, du willst ihn essen.« »Hier.« Mollander vollführte einen kleinen Hüpfer und zog dabei seinen Klumpfuß hinter sich her, wirbelte herum und schleuderte den Apfel mit einer tief geführten Armbewegung in den Nebel, der über dem Honeywine hing. Ohne diesen Fuß wäre er ein Ritter geworden, wie sein Vater. In den dicken Armen und den breiten Schultern steckte jedenfalls ausreichend Kraft. Schnell und weit flog der Apfel ... ... doch nicht so schnell wie der Pfeil, der hinterher zischte, ein schrittlanger Schaft aus goldenem Holz, der am Ende scharlachrot befiedert war. Pate sah nicht, wie der Pfeil den Apfel traf, hörte es jedoch. Ein leises Plopp hallte über den Fluss zu ihnen herüber, darauf folgte ein Platschen. Mollander pfiff. »Du hast ihn glatt entkernt. Süß.« Nicht halb so süß wie Rosey. Pate liebte ihre braunen Augen und ihre knospenden Brüste, er mochte die Art, wie sie ihn anlächelte, wann immer sie ihn sah. Auch in ihre Grübchen war er verliebt. Manchmal lief sie beim Servieren barfuß, um das Gras unter den Füßen zu spüren. Das gefiel ihm ebenfalls. Er liebte ihren sauberen Geruch und ihre Haare, die sich hinter den Ohren lockten. Sogar ihre Zehen hatten es ihm angetan. Einmal hatte sie ihm nachts erlaubt, ihr die Füße zu reiben, und er durfte sogar mit den Zehen spielen. Dabei hatte er sich für jede eine lustige Geschichte ausgedacht, damit Rosey nur nicht aufhörte zu kichern. Vielleicht wäre es besser, auf dieser Seite der Meerenge zu bleiben. Er könnte mit seinen ersparten Münzen einen Esel kaufen, würde sich mit Rosey beim Reiten abwechseln und durch Westeros wandern. Ebrose glaubte vielleicht, Pate sei des Silbers nicht würdig, aber Pate konnte einen Knochen richten oder einen Fieberkranken zur Ader lassen. Das gemeine Volk würde seine Hilfe schätzen. Wenn er dazu noch lernte, Haare zu schneiden und Bärte zu scheren, könnte er Barbier werden. Das würde mir genügen, sagte er sich, solange ich nur bei Rosey wäre. Rosey war alles auf der Welt, was er sich wünschte. Nicht immer war es so gewesen. Früher einmal hatte er davon geträumt, ein Maester auf einer Burg zu werden und für einen großzügigen Lord tätig zu sein, der ihn für seine Weisheit achtete und ihm zum Dank für seine Dienste ein wunderschönes weißes Pferd schenkte. Wie hoch zu Ross hätte er gesessen, wie nobel wäre er dahergeritten und hätte dem gemeinen Volk auf der Straße von oben zugelächelt ... Eines Abends hatte Pate im Schankraum vom Federkiel und Fässchen nach dem zweiten Krug dieses grässlich starken Apfelweins damit geprahlt, dass er nicht ewig ein Novize bleiben werde. »Gewiss, gewiss«, hatte der Faule Leo gerufen. »Später bist du ein ehemaliger Novize und hütest Schweine.« Er trank den letzten Schluck aus seinem Krug. Die Fackeln auf der Terrasse des Federkiel und Fässchen bildeten eine Insel aus Licht in einem Meer aus Nebel. Weiter flussabwärts schwebte das ferne Leuchtfeuer des hohen Turms, des Hightower, in der Feuchtigkeit der Nacht wie ein orangefarbener, dunstverhangener Mond, doch auch dieses Licht hellte Pates Stimmung nicht auf. Der Alchimist hätte längst hier sein sollen. Hatte sich der Mann lediglich einen bösen Scherz erlaubt, oder war ihm etwas zugestoßen? Es wäre nicht das erste Mal, dass sich das Schicksal für Pate zum Schlechten wendete. So hatte er sich zunächst glücklich geschätzt, als man ihn auswählte, dem alten Erzmaester Walgrave bei den Raben zu helfen, denn er hätte sich niemals träumen lassen, dass er schon nach so kurzer Zeit dem alten Mann seine Mahlzeiten bringen, seine Gemächer kehren und ihn jeden Morgen anziehen würde. Alle behaupteten, der Greis habe über die Rabenzucht mehr vergessen, als die meisten Maester je an Wissen anhäufen würden, daher war Pate der festen Überzeugung gewesen, er dürfe zumindest auf ein schwarzes Eisenglied hoffen. Doch schließlich stellte sich heraus, dass Walgrave ihm keines verleihen konnte. Der alte Mann hatte seinen Rang als Erzmaester allein aufgrund der Höflichkeit seiner Kollegen behalten. Was für ein großer Maester er einst auch gewesen sein mochte, jetzt verhüllte seine Robe ein ums andere Mal eingenässte Unterwäsche, und vor einem halben Jahr hatte ihn ein Akolyth weinend in der Bibliothek entdeckt, weil er den Rückweg zu seinen Gemächern nicht mehr fand. Maester Gormon saß jetzt unter der eisernen Maske auf Walgraves Platz, genau jener Gormon, der Pate einst des Diebstahls bezichtigt hatte. Im Apfelbaum am Wasser begann eine Nachtigall mit ihrem Gesang. Die lieblichen Laute boten eine willkommene Abwechslung zu dem rauen Krakeelen und dem endlosen Krächzen der Raben, um die er sich den ganzen Tag gekümmert hatte. Die weißen Raben kannten seinen Namen und murmelten ihn einander zu, sobald sie den Jungen sahen, »Pate, Pate, Pate«, so lange, bis ihm nur noch nach Schreien zumute war. Die weißen Vögel waren Erzmaester Walgraves ganzer Stolz. Nach seinem Tod wollte er von ihnen gefressen werden, und Pate hegte den leisen Verdacht, dass sie auch durchaus darauf erpicht waren, ihn zu verspeisen. Vielleicht lag es an diesem grässlich starken Apfelwein - Pate war eigentlich gar nicht gekommen, um zu trinken, aber Alleras hatte zur Feier seines Kupferglieds eingeladen, und das schlechte Gewissen hatte Pates Durst geweckt - dennoch klang es fast, als trällerte die Nachtigall Gold für Eisen, Gold für Eisen, Gold für Eisen. Das war überaus eigenartig, das Gleiche hatte der Fremde an jenem Abend gesagt, an dem Rosey sie zusammengebracht hatte. »Wer seid Ihr?«, hatte Pate von ihm wissen wollen, und der Mann hatte geantwortet: »Ein Alchimist. Ich kann Eisen in Gold verwandeln.« Und dann hatte er plötzlich diese Münze in der Hand, ließ sie zwischen den Fingern über die Knöchel tanzen, und das Gold glänzte im Schein der Kerzen. Auf einer Seite prangte der dreiköpfige Drache, auf der anderen der Kopf irgendeines toten Königs. Gold für Eisen, erinnerte sich Pate, besser kannst du es gar nicht treffen. Begehrst du sie? Liebst du sie? »Ich bin kein Dieb«, hatte er dem Mann gesagt, der sich als Alchimist ausgab, »ich bin ein Novize der Citadel.« Der Alchimist hatte den Kopf geneigt. »Falls du es dir anders überlegst, ich bin in drei Tagen mit meinem Drachen wieder hier.« Die drei Tage waren vergangen. Pate saß wieder im Federkiel und Fässchen, immer noch unsicher, was er war, doch anstelle des Alchimisten hatte er Mollander und Armen und die Sphinx vorgefunden, und in ihrem Schlepptau Roone. Es hätte ihr Misstrauen erregt, wenn er sich nicht zu ihnen gesellt hätte. Das Federkiel und Fässchen schloss niemals seine Pforten. Seit sechshundert Jahren stand es auf seiner Insel im Honeywine, und in dieser Zeit hatte es kein einziges Mal zugemacht. Obwohl sich das hohe Holzgebäude nach Süden neigte, so wie Novizen manchmal nach einem Krug zu viel, ging Pate davon aus, dass das Gasthaus hier noch weitere sechshundert Jahre stehen und man Wein und Bier und grässlich starken Apfelwein an Flussleute und Seeleute ausschenken würde, an Schmiede und Sänger, Priester und Prinzen und an die Novizen und Akolythen der Citadel. »Oldtown ist nicht die Welt«, verkündete Mollander mit zu lauter Stimme. Er war der Sohn eines Ritters und hätte betrunkener nicht sein können. Seit man ihm die Nachricht vom Tode seines Vaters am Blackwater überbracht hatte, betrank er sich fast jeden Abend. Sogar hier in Oldtown, weit entfernt von den Kämpfen und hinter den sicheren Mauern, hatte der Krieg der Fünf Könige sie erreicht. ... wobei Erzmaester Benedict darauf beharrte, es habe niemals einen Krieg von fünf Königen gegeben, da Renly Baratheon ermordet worden sei, bevor Balon Greyjoy sich die Krone aufs Haupt gesetzt habe. »Mein Vater hat immer gesagt, die Welt ist größer als jede Burg, die ein Lord besitzen kann«, fuhr Mollander fort. »Drachen wären doch das Mindeste, was man in Qarth oder Asshai oder Yi Ti finden sollte. Diese Geschichten der Seefahrer ...« »... sind Geschichten von Seefahrern«, fiel ihm Armen ins Wort. »Seefahrer, mein lieber Mollander. Geh nur hinunter zum Hafen, und ich wette, dort findest du Seeleute, die dir von Meerjungfrauen erzählen, bei denen sie gelegen haben, oder die dir weismachen wollen, sie hätten ein Jahr im Bauch eines Fisches verbracht.« »Woher weißt du denn, dass das nicht stimmt?« Mollander suchte im Gras nach weiteren Äpfeln. »Du müsstest ja selbst im Bauch eines Fisches gewesen sein, um beschwören zu können, dass sie es nicht waren. Ein Seemann und eine Geschichte, ja, darüber könnte man lachen, aber wenn die Ruderer von vier verschiedenen Galeeren die gleiche Geschichte in vier verschiedenen Sprachen erzählen ...« »Die Geschichten sind nicht gleich«, widersprach Armen. »Drachen in Asshai, Drachen in Qarth, Drachen in Meereen, Drachen der Dothraki, Drachen, die Sklaven befreien ... jede Erzählung unterscheidet sich von den anderen.« »Nur in den Einzelheiten.« Mollanders Sturheit steigerte sich, wenn er trank, und selbst nüchtern war er ein Dickkopf. »In allen wird von Drachen und einer wunderschönen jungen Königin berichtet.« Der einzige Drache, für den sich Pate interessierte, war aus gelbem Gold geprägt. Er fragte sich, was dem Alchimisten zugestoßen war. Am dritten Tag. Er hat gesagt, er würde kommen. »Da liegt ein Apfel neben deinem Fuß«, rief Alleras Mollander zu, »und ich habe noch zwei Pfeile im Köcher.« »Scheiß auf deinen Köcher.« Mollander hob den Fallapfel auf. »Der ist wurmstichig«, beschwerte er sich, warf ihn jedoch trotzdem. Der Pfeil traf den Apfel, als dieser zu sinken begann, und teilte ihn sauber in zwei Hälften. Eine landete auf dem Dach eines Türmchens, kullerte auf ein niedrigeres Dach, hüpfte herunter und verfehlte Armen nur um einen Fuß. »Wenn du einen Wurm in zwei Stücke schneidest, hast du zwei Würmer«, erklärte der Akolyth ihnen. »Na, das müsste bei Äpfeln auch so sein, dann bräuchte nie wieder jemand Hunger leiden«, sagte Alleras und setzte dieses milde Lächeln auf. Die Sphinx lächelte stets, als grinse er im Stillen über einen Scherz. Irgendwie niederträchtig, was gut zu dem spitzen Kinn, dem in der Stirnmitte spitz zulaufenden Haaransatz und dem dichten Wust der kurz geschnittenen, pechschwarzen Locken passte. Alleras würde es zum Maester bringen. Obwohl er erst seit einem Jahr auf der Citadel war, hatte er bereits drei Glieder seiner Maesterkette geschmiedet. Armen hatte zwar mehr, aber er hatte für jedes ein Jahr gebraucht. Dennoch würde auch er ein Maester werden. Roone und Mollander blieben Novizen mit rosa Hals, doch Roone war noch sehr jung, und Mollander zog das Trinken dem Lesen vor. Pate hingegen ... Er war bereits seit fünf Jahren in der Citadel, mit dreizehn war er angekommen, und trotzdem war sein Hals so rosa wie am Tag seiner Ankunft aus den Westerlanden. Zweimal hatte er geglaubt, bereit zu sein. Beim ersten Mal war er vor Erzmaester Vaellyn getreten, um ihm sein Wissen über den Himmel darzulegen. Stattdessen hatte er erfahren, wie Weinessig-Vaellyn zu seinem Spitznamen gekommen war. Zwei Jahre brauchte Pate, bis er wieder genug Mut gesammelt hatte, um es erneut zu versuchen. Diesmal wandte er sich an den freundlichen alten Erzmaester Ebrose, der für seine leise Stimme und seine sanften Hände bekannt war, doch hatten sich Ebroses Seufzer als ebenso schmerzhaft erwiesen wie Vaellyns spitze Bemerkungen. »Einen Apfel noch«, versprach Alleras, »dann erzähle ich euch, was es meiner Vermutung nach mit diesen Drachen auf sich hat.« »Was könntest du darüber wissen, das mir unbekannt ist?«, knurrte Mollander. An einem Ast entdeckte er einen Apfel, sprang hoch, riss ihn ab und warf ihn in die Luft. Alleras zog die Bogensehne bis ans Ohr zurück und drehte sich anmutig, während er sein davonfliegendes Ziel verfolgte. In dem Moment, wo der Apfel zu sinken begann, ließ er den Pfeil los. »Dein letzter Schuss geht immer daneben«, sagte Roone. Unversehrt platschte der Apfel in den Fluss. »Siehst du?«, meinte Roone. »Wenn du alle schaffst, kannst du dich nicht mehr verbessern.« Alleras löste die Sehne und schob den Bogen in sein Lederfutteral. Der Bogen war aus Goldherz geschnitzt, einem seltenen und berühmten Holz von den Summer Isles. Pate hatte einmal versucht, es durchzubiegen, doch er hatte es nicht geschafft. Die Sphinx sieht schmächtig aus, aber in diesen dünnen Armen steckt eine Menge Kraft, dachte er, während Alleras ein Bein quer über die Bank legte und nach seinem Weinbecher langte. »Der Drache hat drei Köpfe«, verkündete er in seinem breiten dornischen Dialekt. »Soll das ein Rätsel sein?«, wollte Roone wissen. »In den Legenden sprechen Sphinxe immer in Rätseln.« »Kein Rätsel.« Alleras nippte an seinem Wein. Die anderen tranken den grässlich starken Apfelwein, für den das Federkiel und Fässchen so bekannt war, aus großen Krügen, doch er bevorzugte den süßen Wein aus dem Land seiner Mutter. Selbst in Oldtown waren solche Weine nicht billig zu haben. Der Faule Leo hatte Alleras den Spitznamen »Sphinx« verpasst. Eine Sphinx ist ein wenig von diesem und ein wenig von jenem; sie hat ein menschliches Gesicht, den Körper eines Löwen und die Flügel eines Falken. Das traf auch auf Alleras zu; sein Vater war ein Dornischer, seine schwarzhäutige Mutter stammte von den Summer Isles. Auch seine eigene Haut war so dunkel wie Teakholz. Und wie die grünen Marmorsphinxe, die den Haupteingang der Citadel flankierten, hatte Alleras Augen aus Onyx. »Außer auf Schilden und Bannern hat nie ein Drache drei Köpfe gehabt«, hielt Armen der Akolyth dagegen. »Das ist eine Frage der Wappenkunde, mehr nicht. Außerdem sind die Targaryens alle tot.« »Nicht alle«, erwiderte Alleras. »Der Bettlerkönig hatte eine Schwester.« »Ich dachte, der hat man den Kopf an der Wand eingeschlagen«, wandte Roone ein. »Nein«, meinte Alleras. »Das war Prinz Rhaegars kleiner Sohn Aegon, den die Männer des Lannister-Löwen mit dem Kopf gegen die Wand geschmettert haben. Ich spreche von Rhaegars Schwester, die auf Dragonstone geboren wurde, bevor die Festung gefallen ist. Die, die sie Daenerys nennen.« »Die Sturmgeborene. Jetzt erinnere ich mich.« Mollander hob seinen Krug und stürzte den letzten Apfelwein hinunter. »Ich trinke auf sie!« Er schluckte, knallte den leeren Krug auf den Tisch, rülpste und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. »Wo ist Rosey? Unsere rechtmäßige Königin verdient eine Runde Apfelwein, findet ihr nicht auch?« Armen der Akolyth sah erschrocken aus. »Nicht so laut, du Narr. Über solche Dinge sollte man nicht einmal spotten. Man weiß nie, wer gerade zuhört. Die Spinne hat überall ihre Ohren.« »Ach, mach dir nicht in die Hose, Armen. Ich habe nur vorgeschlagen, etwas zu trinken, nicht zu einer Rebellion aufgerufen. Pate hörte ein Kichern. Leise und verschlagen rief eine Stimme von hinten: »Ich wusste doch immer, dass du ein Verräter bist, Hüpffrosch.« Der Faule Leo saß am Ende der alten Brücke aus Planken; er war in grünen und goldenen Satin gehüllt, und um die Schultern hing ihm ein schwarzes Seidencape, das vorn mit einer Jaderose verschlossen war. Der Wein, der ihm vorn auf die Kleidung getropft war, musste sehr rot gewesen sein, angesichts der Farbe der Flecken. Eine Locke seines aschblonden Haars fiel ihm über das eine Auge. Mollander nahm eine drohende Haltung an. »Ach, verflucht. Geht weg! Euch will hier niemand sehen.« Alleras legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, Armen runzelte die Stirn. »Leo. Mylord. Ich habe gehört, Ihr dürft die Citadel nicht verlassen, wenigstens noch für ...« »... drei weitere Tage.« Der Faule Leo zuckte mit den Achseln. »Perestan sagt, die Welt ist vierzigtausend Jahre alt. Mollos meint, es seien fünfhunderttausend. Was machen da schon drei Tage aus, frage ich dich?« Obwohl auf der Terrasse ein Dutzend Tische frei waren, setzte sich Leo an ihren. »Spendier mir einen Becher Arborgold, Hüpffrosch, und vielleicht verrate ich dann meinem Vater nichts von deinem Trinkspruch. Im Geschachten Hasard haben sich die Spielsteine gegen mich gewendet, und meinen letzten Hirschen habe ich fürs Essen verschwendet. Ferkel in Pflaumensoße, gefüllt mit Kastanien und weißen Trüffeln. Schließlich muss ein Mann auch essen. Was gab es bei euch?« »Hammel«, murmelte Mollander. Er klang nicht besonders begeistert. »Wir haben uns eine gekochte Hammelkeule geteilt.« »Gewiss seid ihr satt geworden.« Leo wandte sich an Alleras. »Der Sohn eines Lords sollte freigebig sein, Sphinx. Wie mir zu Ohren kam, hast du dein Kupferglied geschmiedet. Darauf trinke ich.« Alleras lächelte ihn an. »Ich lade nur meine Freunde zum Trinken ein. Und ich bin nicht der Sohn eines Lords, das habe ich Euch schon einmal gesagt. Meine Mutter war eine Händlerin.«
Prolog »Drachen«, sagte Mollander. Er hob einen schrumpligen Apfel vom Boden auf und warf ihn von einer Hand in die andere. »Mach schon«, verlangte Alleras die Sphinx. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. »Einen Drachen würde ich auch gern mal sehen.« Roone war der Jüngste unter ihnen, ein vierschrötiger Junge, dem zwei Jahre fehlten, bis man ihn einen Mann nennen durfte. »Sehr gern.« Und ich würde gern in Roseys Armen schlafen, dachte Pate. Er rutschte unruhig auf der Bank hin und her. Morgen schon könnte das Mädchen ihm gehören. Ich gehe mit ihr fort aus Oldtown, über die Meerenge, in eine der Freien Städte. Dort gab es keine Maester, niemanden, der ihm Vorhaltungen machen könnte. Durch die Fensterläden über ihm hörte er Emmas Lachen, das sich mit der tiefen Stimme des Mannes mischte, dem sie gerade zu Diensten war. Sie war die älteste Schankmagd im Federkiel und Fässchen, mindestens vierzig, ein wenig korpulent, aber noch immer hübsch. Rosey war ihre Tochter, fünfzehn und unlängst erblüht. Roseys Jungfräulichkeit würde einen goldenen Drachen kosten, hatte Emma verkündet. Pate hatte neun Silberhirschen und einen Topf voller Kupfersterne und Pfennige gespart, was ihm jedoch nicht viel weiterhalf. Vermutlich würde er eher einen echten Drachen ausbrüten, als jemals einen goldenen in die Hände bekommen. »Für Drachen bist du zu spät geboren, Junge«, meinte Armen der Akolyth zu Roone. Armen trug ein Lederband um den Hals, an dem Glieder aus Zinn, Blei und Kupfer aufgereiht waren, und wie die meisten Akolythen schien er zu glauben, bei Novizen sitze anstelle des Kopfes eine Rübe zwischen den Schultern. »Der Letzte ist während der Herrschaft von König Aegon dem Dritten verendet.« »Der letzte Drache in Westeros«, widersprach Mollander. »Wirf den Apfel«, verlangte Alleras aufs Neue. Ihre Sphinx war ein schöner junger Mann. Alle Schankmädchen schwärmten für ihn. Sogar Rosey legte ihm manchmal die Hand auf den Arm, wenn sie ihm Wein brachte, und Pate tat dann stets zähneknirschend so, als bemerke er nichts. »Der letzte Drache in Westeros war der letzte Drache überhaupt«, beharrte Armen. »Das ist doch allseits bekannt.« »Der Apfel«, sagte Alleras. »Es sei denn, du willst ihn essen.« »Hier.« Mollander vollführte einen kleinen Hüpfer und zog dabei seinen Klumpfuß hinter sich her, wirbelte herum und schleuderte den Apfel mit einer tief geführten Armbewegung in den Nebel, der über dem Honeywine hing. Ohne diesen Fuß wäre er ein Ritter geworden, wie sein Vater. In den dicken Armen und den breiten Schultern steckte jedenfalls ausreichend Kraft. Schnell und weit flog der Apfel ... ... doch nicht so schnell wie der Pfeil, der hinterher zischte, ein schrittlanger Schaft aus goldenem Holz, der am Ende scharlachrot befiedert war. Pate sah nicht, wie der Pfeil den Apfel traf, hörte es jedoch. Ein leises Plopp hallte über den Fluss zu ihnen herüber, darauf folgte ein Platschen. Mollander pfiff. »Du hast ihn glatt entkernt. Süß.« Nicht halb so süß wie Rosey. Pate liebte ihre braunen Augen und ihre knospenden Brüste, er mochte die Art, wie sie ihn anlächelte, wann immer sie ihn sah. Auch in ihre Grübchen war er verliebt. Manchmal lief sie beim Servieren barfuß, um das Gras unter den Füßen zu spüren. Das gefiel ihm ebenfalls. Er liebte ihren sauberen Geruch und ihre Haare, die sich hinter den Ohren lockten. Sogar ihre Zehen hatten es ihm angetan. Einmal hatte sie ihm nachts erlaubt, ihr die Füße zu reiben, und er durfte sogar mit den Zehen spielen. Dabei hatte er sich für jede eine lustige Geschichte ausgedacht, damit Rosey nur nicht aufhörte zu kichern. Vielleicht wäre es besser, auf dieser Seite der Meerenge zu bleiben. Er könnte mit seinen ersparten Münzen einen Esel kaufen, würde sich mit Rosey beim Reiten abwechseln und durch Westeros wandern. Ebrose glaubte vielleicht, Pate sei des Silbers nicht würdig, aber Pate konnte einen Knochen richten oder einen Fieberkranken zur Ader lassen. Das gemeine Volk würde seine Hilfe schätzen. Wenn er dazu noch lernte, Haare zu schneiden und Bärte zu scheren, könnte er Barbier werden. Das würde mir genügen, sagte er sich, solange ich nur bei Rosey wäre. Rosey war alles auf der Welt, was er sich wünschte. Nicht immer war es so gewesen. Früher einmal hatte er davon geträumt, ein Maester auf einer Burg zu werden und für einen großzügigen Lord tätig zu sein, der ihn für seine Weisheit achtete und ihm zum Dank für seine Dienste ein wunderschönes weißes Pferd schenkte. Wie hoch zu Ross hätte er gesessen, wie nobel wäre er dahergeritten und hätte dem gemeinen Volk auf der Straße von oben zugelächelt ... Eines Abends hatte Pate im Schankraum vom Federkiel und Fässchen nach dem zweiten Krug dieses grässlich starken Apfelweins damit geprahlt, dass er nicht ewig ein Novize bleiben werde. »Gewiss, gewiss«, hatte der Faule Leo gerufen. »Später bist du ein ehemaliger Novize und hütest Schweine.« Er trank den letzten Schluck aus seinem Krug. Die Fackeln auf der Terrasse des Federkiel und Fässchen bildeten eine Insel aus Licht in einem Meer aus Nebel. Weiter flussabwärts schwebte das ferne Leuchtfeuer des hohen Turms, des Hightower, in der Feuchtigkeit der Nacht wie ein orangefarbener, dunstverhangener Mond, doch auch dieses Licht hellte Pates Stimmung nicht auf. Der Alchimist hätte längst hier sein sollen. Hatte sich der Mann lediglich einen bösen Scherz erlaubt, oder war ihm etwas zugestoßen? Es wäre nicht das erste Mal, dass sich das Schicksal für Pate zum Schlechten wendete. So hatte er sich zunächst glücklich geschätzt, als man ihn auswählte, dem alten Erzmaester Walgrave bei den Raben zu helfen, denn er hätte sich niemals träumen lassen, dass er schon nach so kurzer Zeit dem alten Mann seine Mahlzeiten bringen, seine Gemächer kehren und ihn jeden Morgen anziehen würde. Alle behaupteten, der Greis habe über die Rabenzucht mehr vergessen, als die meisten Maester je an Wissen anhäufen würden, daher war Pate der festen Überzeugung gewesen, er dürfe zumindest auf ein schwarzes Eisenglied hoffen. Doch schließlich stellte sich heraus, dass Walgrave ihm keines verleihen konnte. Der alte Mann hatte seinen Rang als Erzmaester allein aufgrund der Höflichkeit seiner Kollegen behalten. Was für ein großer Maester er einst auch gewesen sein mochte, jetzt verhüllte seine Robe ein ums andere Mal eingenässte Unterwäsche, und vor einem halben Jahr hatte ihn ein Akolyth weinend in der Bibliothek entdeckt, weil er den Rückweg zu seinen Gemächern nicht mehr fand. Maester Gormon saß jetzt unter der eisernen Maske auf Walgraves Platz, genau jener Gormon, der Pate einst des Diebstahls bezichtigt hatte. Im Apfelbaum am Wasser begann eine Nachtigall mit ihrem Gesang. Die lieblichen Laute boten eine willkommene Abwechslung zu dem rauen Krakeelen und dem endlosen Krächzen der Raben, um die er sich den ganzen Tag gekümmert hatte. Die weißen Raben kannten seinen Namen und murmelten ihn einander zu, sobald sie den Jungen sahen, »Pate, Pate, Pate«, so lange, bis ihm nur noch nach Schreien zumute war. Die weißen Vögel waren Erzmaester Walgraves ganzer Stolz. Nach seinem Tod wollte er von ihnen gefressen werden, und Pate hegte den leisen Verdacht, dass sie auch durchaus darauf erpicht waren, ihn zu verspeisen. Vielleicht lag es an diesem grässlich starken Apfelwein - Pate war eigentlich gar nicht gekommen, um zu trinken, aber Alleras hatte zur Feier seines Kupferglieds eingeladen, und das schlechte Gewissen hatte Pates Durst geweckt - dennoch klang es fast, als trällerte die Nachtigall Gold für Eisen, Gold für Eisen, Gold für Eisen. Das war überaus eigenartig, das Gleiche hatte der Fremde an jenem Abend gesagt, an dem Rosey sie zusammengebracht hatte. »Wer seid Ihr?«, hatte Pate von ihm wissen wollen, und der Mann hatte geantwortet: »Ein Alchimist. Ich kann Eisen in Gold verwandeln.« Und dann hatte er plötzlich diese Münze in der Hand, ließ sie zwischen den Fingern über die Knöchel tanzen, und das Gold glänzte im Schein der Kerzen. Auf einer Seite prangte der dreiköpfige Drache, auf der anderen der Kopf irgendeines toten Königs. Gold für Eisen, erinnerte sich Pate, besser kannst du es gar nicht treffen. Begehrst du sie? Liebst du sie? »Ich bin kein Dieb«, hatte er dem Mann gesagt, der sich als Alchimist ausgab, »ich bin ein Novize der Citadel.« Der Alchimist hatte den Kopf geneigt. »Falls du es dir anders überlegst, ich bin in drei Tagen mit meinem Drachen wieder hier.« Die drei Tage waren vergangen. Pate saß wieder im Federkiel und Fässchen, immer noch unsicher, was er war, doch anstelle des Alchimisten hatte er Mollander und Armen und die Sphinx vorgefunden, und in ihrem Schlepptau Roone. Es hätte ihr Misstrauen erregt, wenn er sich nicht zu ihnen gesellt hätte. Das Federkiel und Fässchen schloss niemals seine Pforten. Seit sechshundert Jahren stand es auf seiner Insel im Honeywine, und in dieser Zeit hatte es kein einziges Mal zugemacht. Obwohl sich das hohe Holzgebäude nach Süden neigte, so wie Novizen manchmal nach einem Krug zu viel, ging Pate davon aus, dass das Gasthaus hier noch weitere sechshundert Jahre stehen und man Wein und Bier und grässlich starken Apfelwein an Flussleute und Seeleute ausschenken würde, an Schmiede und Sänger, Priester und Prinzen und an die Novizen und Akolythen der Citadel. »Oldtown ist nicht die Welt«, verkündete Mollander mit zu lauter Stimme. Er war der Sohn eines Ritters und hätte betrunkener nicht sein können. Seit man ihm die Nachricht vom Tode seines Vaters am Blackwater überbracht hatte, betrank er sich fast jeden Abend. Sogar hier in Oldtown, weit entfernt von den Kämpfen und hinter den sicheren Mauern, hatte der Krieg der Fünf Könige sie erreicht. ... wobei Erzmaester Benedict darauf beharrte, es habe niemals einen Krieg von fünf Königen gegeben, da Renly Baratheon ermordet worden sei, bevor Balon Greyjoy sich die Krone aufs Haupt gesetzt habe. »Mein Vater hat immer gesagt, die Welt ist größer als jede Burg, die ein Lord besitzen kann«, fuhr Mollander fort. »Drachen wären doch das Mindeste, was man in Qarth oder Asshai oder Yi Ti finden sollte. Diese Geschichten der Seefahrer ...« »... sind Geschichten von Seefahrern«, fiel ihm Armen ins Wort. »Seefahrer, mein lieber Mollander. Geh nur hinunter zum Hafen, und ich wette, dort findest du Seeleute, die dir von Meerjungfrauen erzählen, bei denen sie gelegen haben, oder die dir weismachen wollen, sie hätten ein Jahr im Bauch eines Fisches verbracht.« »Woher weißt du denn, dass das nicht stimmt?« Mollander suchte im Gras nach weiteren Äpfeln. »Du müsstest ja selbst im Bauch eines Fisches gewesen sein, um beschwören zu können, dass sie es nicht waren. Ein Seemann und eine Geschichte, ja, darüber könnte man lachen, aber wenn die Ruderer von vier verschiedenen Galeeren die gleiche Geschichte in vier verschiedenen Sprachen erzählen ...« »Die Geschichten sind nicht gleich«, widersprach Armen. »Drachen in Asshai, Drachen in Qarth, Drachen in Meereen, Drachen der Dothraki, Drachen, die Sklaven befreien ... jede Erzählung unterscheidet sich von den anderen.« »Nur in den Einzelheiten.« Mollanders Sturheit steigerte sich, wenn er trank, und selbst nüchtern war er ein Dickkopf. »In allen wird von Drachen und einer wunderschönen jungen Königin berichtet.« Der einzige Drache, für den sich Pate interessierte, war aus gelbem Gold geprägt. Er fragte sich, was dem Alchimisten zugestoßen war. Am dritten Tag. Er hat gesagt, er würde kommen. »Da liegt ein Apfel neben deinem Fuß«, rief Alleras Mollander zu, »und ich habe noch zwei Pfeile im Köcher.« »Scheiß auf deinen Köcher.« Mollander hob den Fallapfel auf. »Der ist wurmstichig«, beschwerte er sich, warf ihn jedoch trotzdem. Der Pfeil traf den Apfel, als dieser zu sinken begann, und teilte ihn sauber in zwei Hälften. Eine landete auf dem Dach eines Türmchens, kullerte auf ein niedrigeres Dach, hüpfte herunter und verfehlte Armen nur um einen Fuß. »Wenn du einen Wurm in zwei Stücke schneidest, hast du zwei Würmer«, erklärte der Akolyth ihnen. »Na, das müsste bei Äpfeln auch so sein, dann bräuchte nie wieder jemand Hunger leiden«, sagte Alleras und setzte dieses milde Lächeln auf. Die Sphinx lächelte stets, als grinse er im Stillen über einen Scherz. Irgendwie niederträchtig, was gut zu dem spitzen Kinn, dem in der Stirnmitte spitz zulaufenden Haaransatz und dem dichten Wust der kurz geschnittenen, pechschwarzen Locken passte. Alleras würde es zum Maester bringen. Obwohl er erst seit einem Jahr auf der Citadel war, hatte er bereits drei Glieder seiner Maesterkette geschmiedet. Armen hatte zwar mehr, aber er hatte für jedes ein Jahr gebraucht. Dennoch würde auch er ein Maester werden. Roone und Mollander blieben Novizen mit rosa Hals, doch Roone war noch sehr jung, und Mollander zog das Trinken dem Lesen vor. Pate hingegen ... Er war bereits seit fünf Jahren in der Citadel, mit dreizehn war er angekommen, und trotzdem war sein Hals so rosa wie am Tag seiner Ankunft aus den Westerlanden. Zweimal hatte er geglaubt, bereit zu sein. Beim ersten Mal war er vor Erzmaester Vaellyn getreten, um ihm sein Wissen über den Himmel darzulegen. Stattdessen hatte er erfahren, wie Weinessig-Vaellyn zu seinem Spitznamen gekommen war. Zwei Jahre brauchte Pate, bis er wieder genug Mut gesammelt hatte, um es erneut zu versuchen. Diesmal wandte er sich an den freundlichen alten Erzmaester Ebrose, der für seine leise Stimme und seine sanften Hände bekannt war, doch hatten sich Ebroses Seufzer als ebenso schmerzhaft erwiesen wie Vaellyns spitze Bemerkungen. »Einen Apfel noch«, versprach Alleras, »dann erzähle ich euch, was es meiner Vermutung nach mit diesen Drachen auf sich hat.« »Was könntest du darüber wissen, das mir unbekannt ist?«, knurrte Mollander. An einem Ast entdeckte er einen Apfel, sprang hoch, riss ihn ab und warf ihn in die Luft. Alleras zog die Bogensehne bis ans Ohr zurück und drehte sich anmutig, während er sein davonfliegendes Ziel verfolgte. In dem Moment, wo der Apfel zu sinken begann, ließ er den Pfeil los. »Dein letzter Schuss geht immer daneben«, sagte Roone. Unversehrt platschte der Apfel in den Fluss. »Siehst du?«, meinte Roone. »Wenn du alle schaffst, kannst du dich nicht mehr verbessern.« Alleras löste die Sehne und schob den Bogen in sein Lederfutteral. Der Bogen war aus Goldherz geschnitzt, einem seltenen und berühmten Holz von den Summer Isles. Pate hatte einmal versucht, es durchzubiegen, doch er hatte es nicht geschafft. Die Sphinx sieht schmächtig aus, aber in diesen dünnen Armen steckt eine Menge Kraft, dachte er, während Alleras ein Bein quer über die Bank legte und nach seinem Weinbecher langte. »Der Drache hat drei Köpfe«, verkündete er in seinem breiten dornischen Dialekt. »Soll das ein Rätsel sein?«, wollte Roone wissen. »In den Legenden sprechen Sphinxe immer in Rätseln.« »Kein Rätsel.« Alleras nippte an seinem Wein. Die anderen tranken den grässlich starken Apfelwein, für den das Federkiel und Fässchen so bekannt war, aus großen Krügen, doch er bevorzugte den süßen Wein aus dem Land seiner Mutter. Selbst in Oldtown waren solche Weine nicht billig zu haben. Der Faule Leo hatte Alleras den Spitznamen »Sphinx« verpasst. Eine Sphinx ist ein wenig von diesem und ein wenig von jenem; sie hat ein menschliches Gesicht, den Körper eines Löwen und die Flügel eines Falken. Das traf auch auf Alleras zu; sein Vater war ein Dornischer, seine schwarzhäutige Mutter stammte von den Summer Isles. Auch seine eigene Haut war so dunkel wie Teakholz. Und wie die grünen Marmorsphinxe, die den Haupteingang der Citadel flankierten, hatte Alleras Augen aus Onyx. »Außer auf Schilden und Bannern hat nie ein Drache drei Köpfe gehabt«, hielt Armen der Akolyth dagegen. »Das ist eine Frage der Wappenkunde, mehr nicht. Außerdem sind die Targaryens alle tot.« »Nicht alle«, erwiderte Alleras. »Der Bettlerkönig hatte eine Schwester.« »Ich dachte, der hat man den Kopf an der Wand eingeschlagen«, wandte Roone ein. »Nein«, meinte Alleras. »Das war Prinz Rhaegars kleiner Sohn Aegon, den die Männer des Lannister-Löwen mit dem Kopf gegen die Wand geschmettert haben. Ich spreche von Rhaegars Schwester, die auf Dragonstone geboren wurde, bevor die Festung gefallen ist. Die, die sie Daenerys nennen.« »Die Sturmgeborene. Jetzt erinnere ich mich.« Mollander hob seinen Krug und stürzte den letzten Apfelwein hinunter. »Ich trinke auf sie!« Er schluckte, knallte den leeren Krug auf den Tisch, rülpste und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. »Wo ist Rosey? Unsere rechtmäßige Königin verdient eine Runde Apfelwein, findet ihr nicht auch?« Armen der Akolyth sah erschrocken aus. »Nicht so laut, du Narr. Über solche Dinge sollte man nicht einmal spotten. Man weiß nie, wer gerade zuhört. Die Spinne hat überall ihre Ohren.« »Ach, mach dir nicht in die Hose, Armen. Ich habe nur vorgeschlagen, etwas zu trinken, nicht zu einer Rebellion aufgerufen. Pate hörte ein Kichern. Leise und verschlagen rief eine Stimme von hinten: »Ich wusste doch immer, dass du ein Verräter bist, Hüpffrosch.« Der Faule Leo saß am Ende der alten Brücke aus Planken; er war in grünen und goldenen Satin gehüllt, und um die Schultern hing ihm ein schwarzes Seidencape, das vorn mit einer Jaderose verschlossen war. Der Wein, der ihm vorn auf die Kleidung getropft war, musste sehr rot gewesen sein, angesichts der Farbe der Flecken. Eine Locke seines aschblonden Haars fiel ihm über das eine Auge. Mollander nahm eine drohende Haltung an. »Ach, verflucht. Geht weg! Euch will hier niemand sehen.« Alleras legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, Armen runzelte die Stirn. »Leo. Mylord. Ich habe gehört, Ihr dürft die Citadel nicht verlassen, wenigstens noch für ...« »... drei weitere Tage.« Der Faule Leo zuckte mit den Achseln. »Perestan sagt, die Welt ist vierzigtausend Jahre alt. Mollos meint, es seien fünfhunderttausend. Was machen da schon drei Tage aus, frage ich dich?« Obwohl auf der Terrasse ein Dutzend Tische frei waren, setzte sich Leo an ihren. »Spendier mir einen Becher Arborgold, Hüpffrosch, und vielleicht verrate ich dann meinem Vater nichts von deinem Trinkspruch. Im Geschachten Hasard haben sich die Spielsteine gegen mich gewendet, und meinen letzten Hirschen habe ich fürs Essen verschwendet. Ferkel in Pflaumensoße, gefüllt mit Kastanien und weißen Trüffeln. Schließlich muss ein Mann auch essen. Was gab es bei euch?« »Hammel«, murmelte Mollander. Er klang nicht besonders begeistert. »Wir haben uns eine gekochte Hammelkeule geteilt.« »Gewiss seid ihr satt geworden.« Leo wandte sich an Alleras. »Der Sohn eines Lords sollte freigebig sein, Sphinx. Wie mir zu Ohren kam, hast du dein Kupferglied geschmiedet. Darauf trinke ich.« Alleras lächelte ihn an. »Ich lade nur meine Freunde zum Trinken ein. Und ich bin nicht der Sohn eines Lords, das habe ich Euch schon einmal gesagt. Meine Mutter war eine Händlerin.«
Reihe/Serie | BLA - Fantasy | Das Lied von Eis und Feuer ; BD 7 | 1.70 |
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Übersetzer | Andreas Helweg |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Feast for Crows. Book four of a Song of Ice and Fire (1) |
Maße | 135 x 206 mm |
Gewicht | 568 g |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Fantasy |
ISBN-10 | 3-442-24350-5 / 3442243505 |
ISBN-13 | 978-3-442-24350-1 / 9783442243501 |
Zustand | Neuware |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
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