Krimi Herbst Festival September 2023 (eBook)
1700 Seiten
Uksak E-Books (Verlag)
978-3-7389-8573-3 (ISBN)
ZWEISAM IN SONSBECK
von Alfred Bekker
Krimi von Alfred Bekker
Die Stimmen.
Sie hören nicht auf.
Ich dachte, ich könnte sie zum Schweigen bringen, aber das war wohl ein Irrtum. Eine gewisse Traurigkeit überkommt mich. Ein Gefühl der Vergeblichkeit.
Zu Hause ist es manchmal ziemlich einsam.
Wenn ich niemanden habe, mit dem ich reden kann, höre ich die Stimmen.
Also muss ich immer dafür sorgen, dass ich nicht allein bin.
Es war an einem heißen Juli-Nachmittag, als die St. Gerebernus-Prozession durch Sonsbeck zog.
Letztes Jahr.
Der Musikverein Harmonie 1911 spielte.
Trotz der komischen Uniform, die nicht gerade feminin wirkt, fiel mir eine Trompeterin auf. Ich bin nicht sehr musikalisch, hatte aber das Gefühl, dass es nicht richtig sein kann, wenn man eine Trompete aus dem Bläsersatz dermaßen schrill heraushört. Dem Gesichtsausdruck des Dirigenten nach hatte ich mit dieser Einschätzung Recht.
Damals sah ich Franziska zum allerersten Mal. Allerdings wusste ich noch nicht, dass sie Franziska hieß.
Ich konnte sie einfach nicht vergessen.
Ihr Gesicht, meine ich.
Ich betrete das Sonsbecker Rathaus in der Herrenstraße 2. Es dauert eine Weile, bis ich mich durchgefragt habe und schließlich im Zimmer des Sachbearbeiters sitze, der dafür zuständig ist, einem Bedürftigen wie mir Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren.
Der Sachbearbeiter heißt Wolke. So hat er sich mir gegenüber vorgestellt. Seine Kollegin, die während unseres Gesprächs mehrfach hereinschneit und uns mit irgendwelchen ach so dringenden Lappalien unterbricht, nennt ihn HEBBET.
Nicht HERBERT sondern HEBBET.
Vielleicht kommt sie aus dem Hessischen.
Jedenfalls ist sie nicht von hier.
Zugezogen.
Ihre Sprache verrät sie.
Sie ist blond und quirlig.
HEBBET ist genau das Gegenteil.
Dunkelhaarig und ziemlich behäbig. Richtig lahm. So, wie man sich einen Beamten in seiner Amtsstube eben vorstellt.
Wolke lehnt sich in seinem Sessel zurück und sieht mich abschätzig an.
"Sie wollen also Geld von mir haben."
"Nicht von Ihnen persönlich."
"Logisch", knurrt er. "War ein Witz."
"Ach, so."
Er atmet tief durch, beugt sich vor und greift sich anschließend mit schmerzverzerrtem Blick an den Rücken. Irgendetwas zwickt ihn da. Das sind eben die Folgen des Dauersitzens. Kann man in jedem Apothekenblatt nachlesen.
"Sie haben zurzeit keine Arbeit?", fragt er mich.
"Nein."
"Seit wann?"
"Seit ... Schon jahrelang."
"Wovon haben Sie gelebt?"
"Vom Geld meiner Mutter."
"Ist Ihre Mutter berufstätig?"
"Nein, jetzt nicht mehr. Sie steht nicht mehr auf. Jedenfalls nicht ohne Hilfe."
"Heißt das, sie ist ein Pflegefall?"
"Kann man so sagen."
"Zahlen Sie Miete?"
"Nein. Ich lebe im Haus meiner Mutter. Also, eigentlich ist es mein Haus. Sie hat es mir vor ein paar Jahren überschrieben."
"Außer den Zuwendungen Ihrer Mutter haben Sie keinerlei Einkünfte?"
"Ich habe hin und hin und wieder mal ..." Ich stocke.
"Schwarzarbeit?", erlöst er mich davon, mich selbst belasten zu müssen.
"Ja."
Er seufzt. Sieht genervt aus. Ich bereue schon, überhaupt hier her gekommen zu sein.
"Sie müssen mir Ihre Vermögensverhältnisse offen legen, sonst gibt es kein Geld für Sie", erklärt mir Wolke jetzt unmissverständlich. "Wenn Sie Ihre Mutter pflegen, dann hätten Sie auch vielleicht Anspruch auf Leistungen der Pflegekasse. Haben Sie Ihre Mutter vom medizinischen Dienst begutachten und in eine Pflegestufe einstufen lassen?"
"Nein."
"Das sollten Sie schleunigst veranlassen", sagt Wolke. "Ihren Schilderungen entnehme ich, dass Ihre Mutter bettlägerig ist."
"Ja."
"Dann sind Sie auf Grund der übernommenen Pflege auch nicht voll erwerbsfähig." Er seufzt, sieht auf die Uhr. "Wissen Sie was, ich muss heute pünktlich weg. Aber ich habe hier ein Formular für Sie. Füllen Sie das bitte aus und kommen Sie doch danach wieder in mein Büro."
"Wann?", frage ich.
Er zuckt die Achseln. "Die Tage mal."
Ich bekomme das Formular.
Seine quirlige Kollegin schneit noch einmal hinein. "HEBBET, eine Unterschrift!", säuselt sie, legt ihm was auf den Tisch. HEBBET unterschreibt ohne sich das Blatt durchzulesen.
"Alles klar?", fragt HEBBET Wolke.
"Alles paletti. Hast du übrigens schon gehört, dass da eine junge Frau vermisst wird?"
"Wirklich?"
"Ja, hier aus dem Ort."
"Nö, weiß ich nix von."
"Kam gerade im Radio. Den Namen habe ich vergessen, aber morgen ist sicher ein Foto in der Zeitung."
"Vielleicht kennen wir sie."
"Sandra Stahlke oder Stahnke."
"Nee, das ist 'ne Schauspielerin, da vertust du dich, Katharina."
"HEBBET ..."
"Ja, wirklich!"
"HEBBET, die heißt Susan Stahnke und ist auch keine richtige Schauspielerin sondern ... Wat weiß ich!"
Ich habe langsam das Gefühl, hier überflüssig zu sein. Immerhin weiß ich jetzt, dass die Quirlige Katharina heißt. Sie gefällt mir. Ich hätte sie gerne zu Hause. Nur so zum Reden. Nur zum Reden. Nicht für mehr.
Das Land hier am Niederrhein ist flach. Bäume, Häuser, Alleen, hin und wieder eine Kirche. So sieht es aus hier in Sonsbeck. Idyllisch könnte man dazu sagen. Mein Haus liegt ein Stück die Weseler Straße raus. Man kann es von der Straße aus nur im Winter sehen, wenn die Bäume kein Laub tragen. Mein Wagen, der Wagen, der meinem Vater gehört hat, steht jetzt in der Garage. Ich habe kein Geld für den Sprit mehr. Ich bin ein sparsamer Mensch, aber vielleicht war ich in der Vergangenheit nicht sparsam genug.
Jetzt fahre ich mit dem Fahrrad in die Stadt.
Geht auch.
Muss gehen.
Muss einfach.
Als ich später meine Mutter umbette, damit sie bequem liegt und keine Druckstellen bekommt, sagt sie: "Wir damals, in der schweren Zeit, wir haben ganz andere Sachen ausgehalten. Und du meckerst, wenn du mal in die Pedale treten musst!"
Als ich das Sozialamt verlasse, fällt mir das Plakat der Volkshochschule auf. "Volkshochschulzweckverband Alpen-Rheinberg-Sonsbeck-Xanten" , so nennt sich diese Institution mit vollem Namen. In Zimmer 22 des Rathauses residiert der offizielle Ansprechpartner, ein Herr mit einem holländisch klingenden Namen. Ich sehe mir das Plakat an. Karate für Anfänger, Wirtschaftsenglisch für Fortgeschrittene und Kreatives Schreiben.
MORD FÜR ANFÄNGER UND FORTSCHRITTENE, steht da in großen Buchstaben. Lernen Sie literarisch zu morden.
Klingt interessant, denke ich.
Schreiben befreit, heißt es. Man ordnet dadurch angeblich seine Gedanken.
Die vielen Stimmen im Kopf. Auch andere Dinge. Man ordnet seine Welt. Man erschafft seine Welt neu. Besser vielleicht.
Eine Weile habe ich das geglaubt.
Aber es stimmt nicht.
Gleichgültig, mit welch salbungsvollen Worten unsere Kursleiterin dies auch zu beschwören versucht. Die Stimmen sind immer noch da.
Und manch anderes auch. Aber in so einem Volkshochschulkurs für Kreatives Schreiben lernt man nette Menschen kennen. Frauen überwiegend. Und das ist doch auch etwas.
Es ist eine traurige Sache.
Warum bleiben sie nicht?
Warum erschrecken sie, wenn sie das Haus betreten? Weshalb beklagen sie alle sich über einen bestimmten Geruch, von dem sie nicht sagen können, wodurch er verursacht wird?
Sie wollen nicht bleiben und mit mir reden.
Ich weiß nicht warum.
Ist es zuviel, was ich verlange?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Und doch, es ist immer dasselbe.
Sie wollen nicht bleiben. Ich kann von Glück sagen, wenn sie sich wenigstens mit mir an den gedeckten Tisch setzen.
"Hat jemand etwas von Franziska gehört?", fragt die Kursleiterin irgendwann, nachdem Franziska schon das dritte Mal nicht zum Kurs gekommen ist.
Zunächst herrscht Schweigen.
Schließlich sagt eine junge Frau mit mattglänzendem Haar und einem sehr ernsten Gesicht, bei dem man unwillkürlich auf die Idee kommt, dass eine schwere Jugend sehr schwermütige Gedanken zur Folge hat:
"Ich habe bei ihr geklingelt, aber es war wohl niemand da."
"Also wenn ihr jemand zufällig begegnen sollte", so die Kursleiterin,
"dann möge er ihr doch bitte schöne Grüße von mir ausrichten und sie fragen, ob sie nun an unserer Lesung teilnehmen will oder nicht.
Irgendwann muss ich ja auch planen."
Sie wird nicht teilnehmen, denke ich.
Weder an der Lesung, noch an sonst irgendetwas.
Franziska wird gar nichts mehr tun.
Ich zünde die Kerzen an.
Der Schein der Flammen fällt auf ihre ebenmäßigen Züge und taucht sie in ein diffuses Licht.
Ich konnte sie nicht gehen lassen.
Ich konnte einfach nicht.
Ich spaziere gerne am Dassendaler Weg zwischen dem Römerturm und der St. Gerebernus-Kapelle. Manchmal sagen mir Stimmen, ich soll hier hin gehen. Vielleicht suche ich instinktiv die Nähe eines sakralen Gebäudes. Betreten habe...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
ISBN-10 | 3-7389-8573-5 / 3738985735 |
ISBN-13 | 978-3-7389-8573-3 / 9783738985733 |
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