RÜCKKEHR NACH BLEIWENHEIM -

RÜCKKEHR NACH BLEIWENHEIM (eBook)

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2023 | 1. Auflage
208 Seiten
p.machinery (Verlag)
978-3-95765-756-5 (ISBN)
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»Lange blieb er dort stehen, sah zu, wie das Nachtdunkel aus dem Tal stieg zum Himmel, wo im allerletzten Licht des Tages der Goldvogel seine erhabenen Kreise zog. Stellte sich vor, in dieses Tal einzudringen und durch die alten, feuchtbemoosten Straßen zu wandern, die greise Stadt langsam kennenzulernen, sie zu schmecken und zu riechen, sie zu ertasten und zu fühlen, in sie zu versinken, sich ihr hinzugeben, ihr die uralten Geheimnisse zu entreißen, die bei den ewig lichtlosen Fundamenten in feuchter Kälte ruhten und still darauf warteten, daß jemand sie aufweckte. Die Stadt, die sich ihm auf seiner Wanderschaft in den Weg stellte und die Bereitschaft hinausschrie, ihn zu empfangen.« (Hubert Katzmarz) Ein Wanderer ist auf der Suche, auf der Suche nach dem Ort, wo die Seelen aufbewahrt werden, bis ihre Zeit gekommen ist. So durchstreift er ruhelos seinen persönlichen, labyrinthischen Limbus, begegnet keiner Menschenseele, bis er endlich sein Ziel erreicht. Die Stationen seines Weges sind wie Bilder, die im Moment des Todes am inneren Auge vorbeiziehen. Hubert Katzmarz hat mit der letzten Geschichte, die er vor seinem frühen Ableben verfasste, den Grundstein gelegt, und Autorinnen und Autoren ließen sich von Bleiwenheim inspirieren und spinnen hier am Gewebe dieser Zwischenwelt weiter. Mit Geschichten von Gabriele Behrend, Uwe Durst, Andreas Fieberg, Barbara Hundgeburt, Jörg Isenberg, Hubert Katzmarz, Boris Koch, Thomas Le Blanc, Richard Lennek, Monika Niehaus, Ellen Norten, Rainer Schorm, Helga Schubert, Malte S. Sembten, Michael Siefener, Peter Stohl und Christian Thielscher. Titelbild & Illustrationen von Thomas Hofmann.

Andreas Fieberg (* 1964) arbeitet hauptberuflich als Mediengestalter und übt daneben verschiedene Herausgeber- und Lektoratstätigkeiten aus, gelegentlich Übersetzungen. Einige seiner Kurzgeschichten waren für den Kurd-Laßwitz-Preis und den SFCD-Literaturpreis nominiert, mit letzterem wurde »Der Fall des Astronauten« ausgezeichnet. Von ihm erschienen: »Der Traumprojektor. Skurrile Geschichten«, vhk, und »Abschied von Bleiwenheim« (als Hrsg.), eine Anthologie in memoriam Hubert Katzmarz, und als Fortsetzung »Willkommen in Bleiwenheim« (zusammen mit Ellen Nor ten), beide p.machinery. Er zeichnet für die Reihe »Gegen unendlich. Phantastische Geschichten« verantwortlich, die in unregelmäßigen Abständen fein erzählte Phantastik abseits des Herkömmlichen bringt. Außerdem ist er gemeinsam mit Michael Siefener und Ellen Norten Herausgeber des »daedalos. Der Story-Reader für Phantastik«. Ellen Norten, geboren 1957 in Gelsenkirchen, ist promovierte Biologin. Während ihres Studiums beschäftigte sie sich intensiv mit Orientalischem Tanz, als Redakteurin bei dem Magazin »Lotosblätter« und tanzte auch selbst vor Publikum. Später arbeitete sie als freie Wissenschaftsjournalistin bei verschiedenen Hörfunksendern, danach folgte eine mehrjährige Tätigkeit bei der Fernsehsendung »Hobbythek«, auch vor der Kamera. In dieser Zeit entstanden ein Dutzend Sachbücher und Ratgeber. Seit 2010 tourt sie zusammen mit ihrem Mann und einem Wohnmobil durch die Welt, schreibt Kurzgeschichten, die in diversen Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht werden. Außerdem verfasst sie Rezensionen für Kultura-Extra, beteiligt sich an Science-Slams und arbeitet als Herausgeberin humoristischer Science-Fiction-Anthologien bei p.machinery. Passend zum Science-Slam zeichnete und textete sie ihr Buch »Mein süßer Parasit«. Als Witwe von Hubert Katzmarz betreut sie dessen literarischen Nachlass und fühlt sich der Fantastik, dem Horror und der Science-Fiction besonders verbunden. Seit 2022 gibt sie nach zwanzigjähriger Pause mit Michael Siefener und Andreas Fieberg »daedalos« als Periodikum heraus.

Boris Koch: Ketten


 

Aus seinem neuen Zimmer heraus konnte Karl direkt auf die Gleise sehen, die auf dem Bahndamm hinter dem Haus vorbeiführten. Er war vier Jahre alt, und kaum angekommen, stellte er sich ans Fenster, und ein Zug fuhr vorbei, langsam von links nach rechts. Ein Mädchen mit Pferdeschwanz winkte ihm aus einem weit geöffneten Fenster zu; damals konnte man die Fenster in den Waggons noch herunterschieben. Glücklich winkte er zurück, und das Mädchen lachte und winkte wilder.

»Wohin fährt der Zug?«, fragte er seine Eltern, während er ihm hinterherstarrte.

»Halte dich bloß von Gleisen fern!«, verlangte sein Vater, anstatt ihm zu antworten. »Hörst du?«

»Wir wollen nicht, dass dir etwas passiert«, erklärte seine Mutter. »Also versprich es! Die Gleise sind viel zu nah.«

»Ja, gut. Aber wohin fährt er?«

»Ohne Fahrplan weiß ich das nicht. Und jetzt müssen wir weiter auspacken. Hilf mit oder geh’ uns aus dem Weg.«

Karl tat beides und zog seine Spielsachen aus den Kartons und verteilte sie über den Boden. Immer wenn er einen Zug hörte, sprang er ans Fenster und winkte. Manchmal winkte jemand zurück, aber nie war es das Mädchen mit dem Pferdeschwanz, sie war längst weit weg. Das wusste er, und doch war er jedes Mal enttäuscht; ihr fröhliches Winken und Lachen hatten sich ihm eingebrannt, und in der Nacht sollte er von ihr träumen.

»Bleib weg von den Gleisen«, sagte seine Mutter, als sie später hinausgingen, um sich die Gegend anzusehen. Sie sagte es auch, als sie auf den nächsten Spielplatz gingen, der ebenfalls an den Gleisen lag, und sie sagte es noch viele Male danach, obwohl der Damm so steil war und dicht mit Dornen bewachsen, dass niemand dort hinaufklettern konnte. Die Gleise waren unerreichbar. Da auch der Weg in den Kindergarten an ihnen entlangführte, ebenso Jahre später der Weg in die Grundschule, wurde Karl wieder und wieder neu ermahnt.

»Bleib weg von den Gleisen.«

Seine Eltern warnten ihn vor dem Bahnübergang auf dem Weg zum Sportplatz, und wenn sie gemeinsam an einem Bahnsteig warteten, zog seine Mutter ihn immer vom Rand zurück, weil der Sog vorbeifahrender Züge ihn mitreißen könnte.

Nachts träumte er manchmal von schwarzen Zügen ohne Licht, die ihn schnaufend und zischend verfolgten und erfassten und überrollten, doch tagsüber sah er träumend den Zügen nach, die vor seinem Fenster von links nach rechts fuhren. Links kauerte der alte schmuddelige Bahnhof Bleiwenheims, rechts lagen der Süden und die Sonne. Manchmal dachte er an das winkende Mädchen und fragte sich, ob sie noch immer im Süden war oder ob sie nach Bleiwenheim zurückgekehrt war.

Die Jahre vergingen. Karl fand Freunde, verlor sie und fand neue. Manche sprachen davon, den Bahndamm hinaufzuklettern, aber keiner tat es.

Karl erinnerte sich kaum noch an das Dorf, in dem er die ersten vier Lebensjahre verbracht hatte, Bleiwenheim überlagerte alles, es hatte sich über ihn gestülpt wie eine Glocke. Mit Ach und Krach schaffte er es aufs Gymnasium und Jahr für Jahr hindurch. Die Fenster in den Zügen ließen sich nun aus Sicherheitsgründen nicht mehr öffnen, und niemand winkte mehr hinaus. Auch Karl winkte nicht mehr, dafür war er längst zu alt geworden. Doch den Zügen nach Süden sah er noch immer nach, immer wieder nachts, wenn er schlafen sollte, es aber nicht konnte.

Seine Eltern wurden nie ganz heimisch in Bleiwenheim, aber sie blieben und fügten sich ein zwischen Nachbarn, Kollegen und Vereinskameraden. Sein Vater betonte, seine Stelle sei gut und sehr gut bezahlt, warum solle er noch einmal wechseln, niemand konnte ihm garantieren, dass es woanders besser sei. Karls Mutter arbeitete halbtags und sagte, das könne sie überall tun, also auch hier.

»Wir wollen dich nicht aus deiner vertrauten Umgebung herausreißen«, sagten sie zu Karl, aber sie fassten auch keine Umzugspläne für die Zeit nach seinem Abitur nächstes Jahr, wenn er zum Studieren fortgehen wollte, auch wenn er noch nicht wusste, wohin und welches Fach. Aber er wusste, dass er fort von hier musste, raus in die Welt.

Dann verliebte sich Karl auf einer Party Hals über Kopf in Sonya. Sie trug einen Pferdeschwanz, und für einen Moment dachte Karl, sie wäre das winkende Mädchen. Mit einem verlegenen Lächeln fragte er sie, ob sie es sei, und sie schüttelte lachend den Kopf. »Aber ich wäre es wirklich gern.«

Später am Abend küssten sie sich, und am nächsten Tag sahen sie sich nüchtern wieder und küssten sich erneut. Sie war ein halbes Jahr jünger und im Jahrgang unter ihm. Karl schenkte ihr eine Kette und dachte, vielleicht sollte er doch in Bleiwenheim bleiben, auch wenn er sich gefreut hatte, fortzukommen. Über die nächsten Wochen verfestigte sich der Gedanke.

»Gute Idee«, sagte sein Vater, als Karl den Gedanken laut äußerte, ohne Sonya als Grund dafür anzugeben. »Du musst nicht studieren, mach was Solides, so gut ist dein Notenschnitt auch nicht.«

Karl nickte.

Innerhalb von wenigen Wochen beschaffte ihm sein Vater eine Lehrstelle bei einer Bank, mit deren Abteilungsleiter er Tennis spielte. Obwohl Karl nie davon geträumt hatte, ein Banker zu werden, bedankte er sich. Bleiwenheim würde ihn behalten, und Sonya war es wert, dachte er.

Als er Sonya davon erzählte, wurde sie wütend. Sie verließ ihn. »Ich dachte, ich bin dein winkendes Mädchen! Ich dachte …«

»Das bist du!«, versicherte er.

»Wie kannst du das dann tun? Ich verstehe es nicht. Dein Bleiben macht alles kaputt. Alles!«

Das wiederum verstand er nicht, und schnell versicherte er: »Ich kann die Ausbildung auch hinschmeißen. Ich habe ja noch gar nicht angefangen.«

»Das ändert nun auch nichts mehr. Du hast es kaputtgemacht.« Sie gab ihm die Kette zurück.

Er begriff gar nichts, war gebrochen und wütend und stolz und allein. Die Züge verließen Bleiwenheim noch immer Richtung Süden, und er sah ihnen weiter nach. Nachts, wenn er nicht schlafen konnte und stundenlang schwermütige Musik hörte.

 

Als sich ein Paar vor Bleiwenheim an die Gleise kettete, um gemeinsam zu sterben, überlebte die Frau das durch einen kaum zu glaubenden Zufall. Sie wurde von den Gleisen geschleudert, doch der Mann wurde zerrissen, und Karls Mutter sagte wieder: »Halte dich bloß von den Gleisen fern.«

Natürlich, ich habe ja niemanden, mit dem ich mich an die Schienen ketten könnte, dachte er bitter, aber wenn er jemanden hätte, würde er es erst recht nicht tun. Und er fragte sich, warum die beiden es getan hatten. Während er nachts aus dem Fenster starrte, zermarterte er sich den Kopf und kam zu keinem Ergebnis.

Getrieben von der Frage, ging Karl zur Beerdigung des Mannes und sah aus der Ferne zu. Die Frau hielt sich gebückt und hinkte, und er fragte sich, ob sie verletzt war. Ihre Bewegungen wirkten apathisch, so als sei sie zur Hälfte gar nicht richtig da, sondern in einem anderen Bleiwenheim, das nur ein Schatten der wahren Stadt war, der jedoch in jeder Sekunde auf der Stadt lag, selbst im Sonnenschein, vielleicht sogar gerade dann. Ein Schatten, den Karl schon immer gespürt hatte.

Mit einem Mal schien die Luft kälter zu werden, eine Kälte, die ihm eine Gänsehaut verursachte und in die Knochen kroch. Unwillkürlich sah er sich um, aber er war allein. Was auch sonst? Schließlich war er hergekommen, weil er allein war.

Plötzlich überfiel ihn der Gedanke, dies wäre seine eigene Beerdigung, und er wäre tot, oder würde vielleicht auch lebendig begraben, und er würde zusehen und könnte nichts daran ändern, und da wäre keine Frau, die überlebt hätte, weil er niemanden hatte, und er sich allein an die Schienen gekettet hätte, und gebrochen und gebeugt am Grab, das wären seine Eltern.

Gefangen in dieser Vorstellung starrte er hinüber, sein Herz schrumpfte zu einem schweren schwarzen Klumpen zusammen. Nur mühsam konnte er die Vorstellung abschütteln, doch auch dann blieb die Kälte.

Der Sarg wurde in die Erde gelassen, und Karl wandte sich ab. War das Einbildung gewesen, Angst oder eine echte Vision? Er glaubte nicht an Visionen, aber das half ihm nicht, er zitterte trotzdem. Er wusste, dass er niemals in Bleiwenheim begraben werden wollte. Seine Asche sollte überall auf der Welt verstreut werden, beschloss er in diesem Moment, doch dann dachte er: Als Asche ist es zu spät.

Er glaubte auch nicht an ein Leben nach dem Tod, vielleicht abgesehen von Geistern, aber das war kein Leben, das war nur ein Echo, das letztlich auch irgendwann verklingen musste.

Er musste fort, nur fort aus Bleiwenheim. Die Stadt lag wie eine schwere Decke auf ihm wie auf allen, und er wusste nicht, wie oft er sich würde freistrampeln können. Heute schon.

Aufgewühlt verließ er den Friedhof und ließ die Kälte hinter sich zurück. Kreuz und quer irrte er durch die Stadt, er musste in Bewegung bleiben. Der Klumpen in seiner Brust wurde wieder zu einem Herz. Es schlug schnell.

Unvermeidlich stieß er irgendwann auf den Bahndamm. Steil wie eine alte Wallanlage erhob er sich vor ihm, ein Wall, der Feinde abhalten sollte, lange bevor Stadtmauern erfunden worden waren. Überwuchert von einem dichten Dornengestrüpp. Während im Märchen die undurchdringliche Dornenhecke das schlafende Dornröschen und den ganzen Königshof von der Welt getrennt hatte, die Welt in Gestalt von Prinzen am Eindringen gehindert hatte, dämmerte hier Bleiwenheim vor sich hin, und niemand erreichte die Gleise, die hinaus in die Welt führten.

So ein Unsinn, verlachte Karl sogleich seine Analogie, Bleiwenheim hat einen Bahnhof und mehrere Straßen, die die Stadt verlassen.

Dennoch konnte er nicht...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
ISBN-10 3-95765-756-3 / 3957657563
ISBN-13 978-3-95765-756-5 / 9783957657565
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