Das Verschwinden des Himmels (eBook)
790 Seiten
tolino media (Verlag)
978-3-7579-3641-9 (ISBN)
Christiane Lind hat sich immer schon Geschichten ausgedacht, die sie ihren Freundinnen erzählte. Erst zur Jahrtausendwende brachte sie ihre Ideen zu Papier und ist seitdem dem Schreibvirus verfallen. In ihren Romanen begibt sich Christiane am liebsten auf die Spur von Familien und deren Geheimnissen. Sie lebt in Ahnatal bei Kassel mit unzähligen und ungezählten Büchern, einem Ehemann sowie einem mutigen Kater und einer schüchternen Katze.
Christiane Lind hat sich immer schon Geschichten ausgedacht, die sie ihren Freundinnen erzählte. Erst zur Jahrtausendwende brachte sie ihre Ideen zu Papier und ist seitdem dem Schreibvirus verfallen. In ihren Romanen begibt sich Christiane am liebsten auf die Spur von Familien und deren Geheimnissen. Sie lebt in Ahnatal bei Kassel mit unzähligen und ungezählten Büchern, einem Ehemann sowie einem mutigen Kater und einer schüchternen Katze.
Kapitel 1
Frankfurt am Main, 30. Januar 1933
Die Straßenbahn war überfüllt, so dass Lily zwei Stationen vor ihrer Haltestelle ausstieg, um dem Stimmenwirrwarr und den unsäglichen Gerüchen zu entkommen. Von der Mischung aus Mottenkugeln, gekochtem Kohl und feuchter Wolle war ihr übel geworden. Außerdem konnte sie das belanglose Gerede nicht mehr ertragen. Die Frankfurter beschwerten sich über das Wetter, klagten über die Verspätung der Straßenbahn oder jammerten über die ansteigenden Preise. Noch weniger auszuhalten waren die hoffnungsvollen Worte, mit denen die Menschen Hitlers Ernennung zum Reichskanzler kommentierten. Waren ihre Mitbürger denn blind? Konnten oder wollten die Frankfurter nicht sehen, was es für Deutschland bedeutete, dass die Nationalsozialisten an Macht gewannen?
Lily stolperte aus der Bahn, rang nach Luft, die winterkalt ihre Lungen traf. Noch immer konnte sie nicht glauben, was geschehen war. Nicht einmal ihre Partei, die SPD, hatte Hitler aufhalten können. Vor Verzweiflung kamen Lily die Tränen. Sie senkte den Kopf und stapfte nach Hause. Was für ein furchtbarer Tag! Dabei hatte er so wunderbar angefangen. Doktor Elias, ihr Dozent, der hochgeschätzte Assistent von Professor Mannheim, hatte Lily zum ersten Mal in seine Diskussionsrunde eingeladen. Zwar hatte sie kaum ein Wort herausgebracht, aber aufmerksam zugehört.
Auch an anderen Tischen saßen Studenten und diskutierten. Der Duft der frischgebackenen Torten und Kuchen ließ Lily das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber sie konnte sich gerade mal ein Glas Wasser leisten, an dem sie sich festhielt und nur ab und zu einen Schluck trank. Sie spürte die Wärme der Menschen um sich herum, fühlte sich erstmals als Teil der Studenten zugehörig. Und dann platzte die Nachricht von Hitlers Ernennung in die Runde. Wie alle anderen in dem Café sprang Lily auf und rannte nach draußen.
Sie wurde von der Menge mitgerissen und folgte dem Strom der Studenten in die Innenstadt. Hier versammelten sich die Menschen auf Straßen und Plätzen, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Oder – wie Lily mit eigenen Augen sehen musste – um gegeneinander zu kämpfen. Vor ihr schlug sich ein Braunhemd mit einem Mann, dessen Worte ihn als Kommunisten ausgewiesen hatten. Man konnte die Aggression, die in der Luft lag, förmlich mit den Händen greifen. Daher hatte Lily beschlossen, nach Hause zu gehen, anstatt sich in eine Auseinandersetzung zu begeben, bei der sie nur verlieren würde. Allein könnte sie nichts gegen die Nationalsozialisten ausrichten, so gerne sie das auch würde.
Mit gesenktem Kopf kämpfte sie gegen den Wind an, der sich an ihr Gesicht schmiegte, als wollte er sie liebkosen. Missmutig zog Lily den Schal etwas höher, aber das Gefühl von Kälte blieb. Kälte, die sie von der Verwirrung ablenkte, die sie schon seit Stunden beschäftigte. Seitdem Alexander Kirchner, ihr Kommilitone, sie im Café Laumer nach ihrer Meinung zu Hitlers Ernennung gefragt hatte, als gehörte sie zu denjenigen, mit denen er sich umgab. Wie kam er dazu, ausgerechnet sie zu fragen? Lily war so überrascht gewesen, dass ihr keine Antwort eingefallen war. Und bevor sie ihre Gedanken geordnet hatte, hatte Alexanders blonder Freund ihn am Arm gegriffen und von Lily weggezogen, an einen anderen Tisch. Sie hatte den beiden Männern nachgestarrt und sich gefragt, warum ihr ausgerechnet heute nichts einfallen wollte.
Er musste sie für dumm halten. Für dumm und einfältig, für eine der Studentinnen, die ihr Studium der Großzügigkeit der Akademie der Arbeit verdankten. Oder, schlimmer noch, für eine der Frauen, die nur deshalb an der Goethe-Universität eingeschrieben waren, um einen passenden Ehemann zu finden. Sonst war sie nie um eine Antwort verlegen, diskutierte gerne mit den Kommilitonen über wissenschaftliche Fragestellungen oder die aktuelle politische Situation. Warum also war sie stumm wie ein Fisch geblieben, als Alexander Kirchner sie gefragt hatte? Sollte sie ihn morgen ansprechen und ihm sagen, was sie dachte, oder wäre das nur noch peinlicher?
Sicher saßen er und die anderen Studenten immer noch im Café Laumer, redeten sich die Köpfe bis spät in die Nacht heiß, um am nächsten Morgen gähnend und mit dunklen Ringen unter den Augen in der Vorlesung zu sitzen. Lily beneidete ihn und seine Freunde um diese Freiheit, die sie sich nicht leisten konnte. Wenn sie nicht lernte, arbeitete sie, um Geld zu verdienen, oder stürzte sich mit Elan in die Parteiarbeit.
»Lily! Lily!«
Erst meinte sie, sich verhört zu haben, und ging zielstrebig weiter. Doch als die Lily-Rufe nicht endeten, blieb sie stehen und wandte sich um. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie ihre Mutter Ida erkannte, dick eingehüllt in den schweren braunen Mantel und den selbst gestickten tiefroten Schal.
»Ich war im Konsum und hatte Glück.« Ida stellte zwei gefüllte Einkaufstaschen zu Boden und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die ihr der Januarwind immer wieder ins Gesicht wehte. »Sie hatten noch Schwarzbrot von gestern. Für den halben Preis. Nur neunzehn Pfennig. Da konnte ich gleich noch zwei Kilo Kartoffeln kaufen. Und Öl.«
»Wie schön. Dann haben wir in den nächsten Tagen gut zu essen«, antwortete Lily und ging ihrer Mutter entgegen. Sie fühlte einen Stich des schlechten Gewissens, weil sie studierte und nur wenig zum Einkommen ihrer Familie beitragen konnte. Daher war ihre Mutter gezwungen, altes Brot zu kaufen und jeden Pfennig umzudrehen. Wie so viele Menschen in Frankfurt. Bei einem Stundenlohn von zweiundfünfzig Reichspfennig, den sie als Näherin erhielt, konnte man eben keine großen Sprünge machen.
»Es tut mir leid, ich sehe, wie schwer es für dich ist. Vielleicht kann ich noch eine Stelle als Kellnerin finden.«
»Nein, Lily.« Ihre Mutter schüttelte vehement den Kopf. »Das kommt gar nicht in Frage. Du sollst studieren und ein gutes Examen machen. Das wünschen dein Vater und ich uns für dich.«
»Das weiß ich und ich bin euch dankbar, aber¨…« Lily wollte die Diskussion nicht wieder führen. »Soll ich dir etwas abnehmen?«
»Ja, trag das Brot.« Flüchtig strich Lilys Mutter ihr mit der Hand über die Wange. »Du siehst erschöpft aus, Kind. Mir scheint, du arbeitest zu viel. Geht es dir gut?«
»Ja, alles in Ordnung, Mutter. Ich bin nur ein bisschen müde. Aber was ist mit dir? Du wirkst aufgewühlt, als hättest du eine unerfreuliche Begegnung gehabt.«
»Ach, das Übliche. Sie werden immer mehr. Immer mehr und immer dreister.« Ida machte eine wegwerfende Bewegung, als wollte sie die düsteren Gedanken verdrängen. »Bertha und Willy kommen gleich vorbei. Wir wollen darüber reden, was …«
Lilys Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Zu stark war das Gefühl von Bedrohung. »Ist etwas passiert?«
»Lass uns gleich darüber reden.«
Lily war es nur recht, dass ihre Mutter gerade nicht über Politik reden wollte. Zu sehr hatte die heutige Nachricht sie getroffen. All ihre Zukunftspläne standen nun zur Disposition und waren auf einmal keinen Pfennig mehr wert.
»Ich bin froh, dass ich Glück beim Einkauf hatte«, sagte ihre Mutter. »Obwohl die Lebensmittelpreise stabil sein sollen, kommt es mir vor, als würde von Woche zu Woche alles teurer. Wo soll das noch hinführen?«
Lily antwortete nicht, weil ihre Mutter es wohl nicht mehr erwartete. Schon oft hatten sie einander diese Frage gestellt und keine Hoffnung gesehen. In vertrautem Schweigen legten sie den Weg nach Hause zurück, gaben vor, die Gruppe von Männern vor ihnen nicht zu sehen, die sich aufspielten, als gehörte die Straße ihnen. Kerle in braunen Hemden und mit roter Armbinde, auf der das schwarze Hakenkreuz in weißem Rund hervorstach. Mit zu Fäusten geballten Händen drängte Lily sich an ihnen vorbei. Zu zweit konnten ihre Mutter und sie nichts gegen die Braunhemden ausrichten. Wahrscheinlich wollten sie sich dem Mob anschließen, der zum Römerberg zog und »Sieg Heil! Sieg Heil!« brüllte, als gehörte ihm die Stadt.
Ohnmächtig vor Zorn folgte Lily ihrer Mutter, die mit großen Schritten auf das Haus zuging und die Treppe in den zweiten Stock hinaufeilte. Als sie das Mehrfamilienhaus betraten, schlug Lily der vertraute Geruch von Bohnerwachs und Kohl entgegen. Mit der linken Hand hielt sie sich am Handlauf fest, dessen Holz sich glatt und kühl anfühlte. Als Ida die Tür öffnete, ächzte das Holz und die Angel quietschte. Lilys Vater Gottfried wollte die Scharniere ölen, aber Ida mochte das Geräusch.
Während Ida in die Küche ging, blieb Lily noch einen Augenblick im Flur stehen, bis ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Sorgsam zog sie den dicken Mantel aus, den sie von Oma Bertha geerbt hatte, und hängte ihn auf. Die schweren Stiefel stellte sie auf einen Wischlappen, damit Eis und Schnee nicht auf den Linoleumboden tropften. Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, stieß Lily die Tür zur großen Wohnküche auf. Wie Lily erwartet hatte, war die ganze Familie zusammengekommen. Kaffeeduft zog durch den Raum und schaffte eine heimelige Atmosphäre. Auch wenn es nur Muckefuck war, nicht der teure Bohnenkaffee, den sich die Familie nur zu Geburtstagen und großen Feiertagen wie dem 1. Mai gönnte.
Links an der Wand stand die Eckbank, die ihr Opa Willy gedrechselt hatte, ebenso wie den alten Holztisch, der bereits für den Familienkaffee gedeckt war. Durch die schmalen Fenster fiel das graue Licht des Tages, erreichte die Spüle aus Stein und die Holzschränke, in denen sich ihr Geschirr befand. Die Küche bot Platz für die ganze Familie – und sogar noch ein paar Genossen, denn die Familie erhielt oft Besuch. Auch...
Erscheint lt. Verlag | 18.6.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Familiengeheimnis • Familiengeheimnisroman • Familiensaga • Fliegerinnen • Frankfurt • Historischer Liebesroman • Historischer Roman • Liebe • Liebesroman • mutige Frauen • Nationalsozialismus • Widerstand |
ISBN-10 | 3-7579-3641-8 / 3757936418 |
ISBN-13 | 978-3-7579-3641-9 / 9783757936419 |
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Größe: 2,7 MB
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