Abalone und die Schlangengöttin -  Christine Li

Abalone und die Schlangengöttin (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
482 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-1121-7 (ISBN)
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Bei einem mysteriösen Unheil vor dreizehn Jahren hat die Heilerin und Magierstochter Abalone alles verloren. Ihre Liebe, ihre Sprache und ihre Seele. Seitdem versteckt die verängstigte junge Zauberin sich hinter den Mauern von Chinas historischer Hauptstadt Jiankang. Bis sie eines Tages beschließt, einen verbotenen Liebeszauber herzustellen. In schwarzer Neumond-Nacht beschwört die schüchterne Frau das magische Feuer der dunklen Schlangengöttin. Diese aber hat ganz andere Pläne mit ihrer begabtesten Tochter. Die magische Ausbildung beginnt. Ein sinnlich-fesselnder Roman für Frauen, die wissen, dass der Weg der Seele durch die verborgene Welt der Schatten führt. Eine fantastische Reise ins dunkle Herz der Weiblichkeit. Mit diesem Buch beginnt eine Saga über Schamanen, Rebellen, die vergessene Magie des alten China und die Suche nach der verlorenen Seele.

Christine Li ist Sinologin, Ärztin und moderne Mystikerin. Sie sieht ihre Aufgabe darin, Frauen zu ermutigen, ihr angeborenes Potential zu erfüllen. Bekannt wurde die Autorin durch den Bestseller: Der Weg der Kaiserin. Mit Abalone und die Schlangengöttin beginnt der magisch-realistische Romanzyklus Die Legende von Abalone über eine mächtige Schamanin und Heilerin des alten China.

5


SCHLANGENMÄDCHEN


Die Riemen des kleines Tores knarrten sacht, als ich zurück in den Frauenhof trat. Der Mond hing tief und zittrig.

Ein Maulbeerbaum zeichnete lange schwarze Schattenzweige auf die viereckigen Steine. Von jenseits der Hofmauer kamen die Rufe der nackten Treidler, die schwere Flöße an langen Seilen den Kanal hinaufschleppten.

Ein schiefes Latrinenhäuschen lehnte sich an die Hofmauer. An seiner Rückseite gab es eine Klappe für die Jaucheknaben, die einmal im Monat den ‚nächtlichen Dünger‘ abholten und auf ihre Boote brachten. So musste niemand mit stinkenden Eimern den Hof durchqueren.

Genau dort raschelte es nun. Ich erstarrte. Wenn jemand hier eindrang, konnte ich noch nicht einmal um Hilfe rufen. Doch obwohl ich eine ganze Weile lauschte, kam niemand aus dem Häuschen heraus. Dafür raschelte es noch einmal.

• • •

Ich ergriff einen alten Reisstrohbesen und schlich leise zu dem Häuschen. Den Besen hoch erhoben, riss ich die Tür auf.

Im Luftzug, der vom Kanal heraufwehte, baumelten die kostbaren Papierreste, die der Alte Herr uns aus den Schreibstuben schicken ließ, nachdem er sie sorgfältig überprüft hatte, damit keine heiligen Namen beschmutzt wurden. Sonst war alles still.

Wieder raschelte es, diesmal hinter mir. Ich fuhr herum. Nichts. Leise folgte ich dem Geräusch und sah Kleine Wolke.

Das Mädchen kniete auf den Steinquadern im Schatten des Häuschens. Vor ihr lagen ein zerfetztes Stück Papier, eine Tonscherbe voller Wasser und ein zerfasertes Hölzchen. In ihren großen runden Augen spiegelte sich das Mondlicht.

Als sie mich erkannte, begann sie zu zittern.

Vor einem Jahr, als wir von den Gütern des Alten Herrn in die Stadt gekommen waren, hatte Frau Wu das Mädchen für wenige Kupfermünzen erworben. Die meisten Mädchen hatten Namen wie „Nummer drei“ oder „Mädchen“. Das genügte vollkommen, um eine Sklavin zu rufen.

Doch Frau Wu bestand auf dem extravaganten Namen „Kleine Wolke“. Das kam, weil sie eine große Begeisterung für die Lehre jenes ausländischen Herrn Buddha entdeckt hatte.

• • •

Der Alte Herr sagte, diese Lehre wäre nichts als eine Vereinfachung der Lehre vom Dao für fremde Völker, Frauen und andere schlichte Gemüter. Auf jeden Fall war sie etwas wirr.

So glaubten die Anhänger dieser Lehre, dass Menschen immer wieder neu zur Welt kämen und immer in einem anderen Körper. Daran sah man schon, wie unsinnig diese Lehre war.

Wenn Fleisch und Blut erkalteten, flogen unsere bunten Seelenvögel, die Wanderseelen, für immer davon und lösten sich auf. Die Körperseelen klebten noch eine Weile an den Knochen fest oder geisterten herum. Wenn die Knochen sich auflösten, vergingen auch sie. Das war alles.

Ich glaubte, der Frau Wu gefiel die Lehre des Herrn Buddha vor allem, weil man da immer schlecht gelaunt sein musste.

Mit großer Inbrunst murmelte sie die langen fremdländischen Namen vor sich hin. Das musste man tun bei dieser Lehre, sonst wurde man als Hund oder Wurm wiedergeboren.

„Nichts hat Bestand. Formen sind nichts als Täuschung der Sinne“, deklamierte Frau Wu mit jener Stimme einer schartigen Flöte, die sie für besondere Anlässe verwendete. „Nennen wir das Mädchen Kleine Wolke.“

Der alte Onkel Zhang vom Tor hatte gebrummt, „Staubwolke“ wäre zutreffender, denn das Mädchen sei das Staubigste gewesen, was man je hier angeschleppt hätte.

Aber da niemand eine bessere Idee hatte, behielt das Mädchen diesen Namen.

• • •

Als sie zu uns kam, behauptete Kleine Wolke, sie verstünde sich auf drei Künste: Seidenraupen füttern, Hühner schlachten und giftige Schlangen aus dem Haus tragen. Frau Wu hatte ihr erklärt, keine dieser Künste würde bei uns benötigt. Es genügte, wenn sie die groben Arbeiten im Haus erledigte.

Es mochte an dem außergewöhnlichen Namen liegen oder auch nicht: Die Kleine hielt sich fern von den anderen Mädchen. Sie erledigte die schmutzigsten Arbeiten brav und ohne zu murren.

Doch statt abends bei allen anderen in der Eingangshalle zu bleiben, schleppte sie ihre zerfetzte Decke nach oben und legte sich zum Schlafen vor die Tür von Frau Wu. Abend für Abend schickte Frau Wu sie hinunter, und Morgen für Morgen lag Kleine Wolke wieder vor der Tür.

Im Frühjahr, zur ‚Zeit der erwachenden Insekten‘, in der die giftigen Tiere aus dem Winterschlaf kamen, drangen gräßliche Schreie zu uns herauf.

Frau Wu sprang auf und schaute über die Balustrade hinunter in die Halle. Ich rannte hinterher und blickte über ihre Schulter. Dort unten standen die Mädchen und schrien, als wollten sie unsere Ohren für immer betäuben.

„Was geht da unten vor?“, keifte Frau Wu.

„Rettet euch!“, schrie ein Mädchen.

„Eine Hundert-Schritt-Schlange!“, schrie eine zweite.

„Raus!“, schrien alle durcheinander und stürmten aus dem Haus.

Frau Wu zog mich von der Balustrade zurück in den Vorraum und schob unendlich langsam die Tür hinter uns zu.

• • •

„Wir dürfen uns nicht bewegen“, krächzte sie.

Die Schlange lag irgendwo dort unten. Würde sie wirklich die Treppe hochspringen, um die alte Wu zu beißen?

„Die Menschen werden schwarz wie Tinte und schwellen an, bis sie fast platzen, wenn ein solches Untier sie beißt. Nach hundert Schritten sterben sie. Ach, was für ein Unheil!“

Bestimmt übertrieb sie. Aber wenn eine ohnehin schon prall und schwarz angelaufen war, dann war zumindest das Sterben doch geradezu ein Glücksfall.

Rumps. Die Tür der Halle wurde aufgestoßen.

„Frau Wu“, rief Kleine Wolke von unten. „Kommt ruhig hervor. Ich hab die Schlange.“

„Das Kind ist verrückt geworden!“, wisperte Frau Wu.

Rumps. Die Tür fiel zu. Das Kreischen kam nun aus dem Hof. Dann wurde alles vollkommen still. Nur Frau Wu murmelte unaufhörlich die langen fremdartigen Namen ihrer Heiligen. Langsam wuchs auch in mir die Sorge.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als die Tür der Halle wieder aufging. Schritte polterten die Treppe hinauf.

Kleine Wolke steckte den Kopf herein: „Ich hab die Schlange vor das Stadttor getragen.“

„Die Innere Stadt ist geschlossen. Niemand kommt ohne Passierschein an den Wächtern vorbei. Da werden sie gerade für ein Mädchen wie dich eine Ausnahme machen.“

Ich bin einfach hinter jemand anderem hergelaufen. Als sie mich aufhalten wollten, hab ich die Schlange hochgehoben. Da sind alle weggerannt und haben das Tor offengelassen.“

• • •

Nachdem Frau Wu aufgehört hatte, mit den Zähnen zu klappern, erklärte die Kleine, dass in den Bauerndörfern bestimmte Mädchen ausgewählt wurden, die Schlangen, die nach dem Winterschlaf aus den Ritzen der Hütten hervorkamen, einzusammeln und auf einen heiligen Hügel zu tragen, den man den Schlangenhügel nannte.

Dort lebten diese heiligen Wesen von Menschen ungestört, und sie behelligten ihrerseits die Menschen nicht.

„Ich war so ein Mädchen“, piepste die Kleine mit kaum verhohlenem Stolz. „Als ich ganz klein war, hat mich eine Schlange gebissen. Mir ist aber nichts passiert.

Da hat die Dorfgroßmutter mich das Schlangenlied gelehrt. Wenn ich das summe, werden die Schlangen ruhig. Dann beißen sie kaum noch. Außer einer ärgert sie. Oder einer ärgert mich.“

Frau Wu nickte, stumm und bleich. Seitdem durfte Kleine Wolke des Nachts vor unserer Tür schlafen.

Im Sommer besorgte sie sich ein Töpfchen zinnoberrot gefärbtes Schweineschmalz, das sie großzügig auf den breiten Wangen verteilte. Selbst Frau Wu brachte es nicht über sich, das Mädchen wegen seiner Eitelkeit zu tadeln.

Eine große Schönheit würde sie niemals werden. Doch ihr rundes Gesicht, die kullernden Augen und die beiden wippenden Haarknoten gewannen alle Herzen.

Kleine Wolke wollte alles lernen. Sie schaute genau zu, wenn Frau Wu mich frisierte und ankleidete und übte an den anderen Mädchen das Aufstecken der Haare. Sie lernte mit einer großen kohlegefüllten Eisenpfanne zu bügeln, Brokatkanten mit goldenen Fäden einzufassen, Essen zu servieren und Tee einzuschenken, den wir seit neuestem ohne Ingwer und sogar ohne Zwiebeln aus großen schwarzen Teeziegeln kochten.

Niemand hatte etwas dagegen, wenn eine Sklavin lernen wollte. Lernen liegt in der Natur der Menschen. Was Kleine Wolke aber im Herbst anstellte, ging dann doch zu weit.

Sie begann, das Papier aus dem Latrinenhäuschen zu stehlen und die Zeichen darauf mit Kohle nachzuzeichnen. Frau Wu kam ihr auf die Schliche und verprügelte sie mit einem großen Stock, bis das Blut in Strömen ihren Rücken hinabfloss.

Die Regeln von hoch und niedrig sind seit alten...

Erscheint lt. Verlag 4.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
ISBN-10 3-7534-1121-3 / 3753411213
ISBN-13 978-3-7534-1121-7 / 9783753411217
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