Zeit der Verwandlung (eBook)
384 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12242-8 (ISBN)
Stefan Bollmann, geboren 1958, Bestsellerautor einer gegen den Strich gebürsteten Goethe-Biographie sowie weiterer Bücher zur Geschichte des Lesens und der Alternativkulturen, promovierte nach einem Studium der Literatur, Geschichte und Philosophie über Thomas Mann. Seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit annähernd eine halbe Million Mal.
Stefan Bollmann, geboren 1958, Bestsellerautor einer gegen den Strich gebürsteten Goethe-Biographie sowie weiterer Bücher zur Geschichte des Lesens und der Alternativkulturen, promovierte nach einem Studium der Literatur, Geschichte und Philosophie über Thomas Mann. Seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit annähernd eine halbe Million Mal.
Kapitel 1
Das Ziel der Befreiten
1887–1890
Das sind die Jahre, in denen sich in München der große Aufbruch vorbereitet. Hedwig Pringsheim, Thomas Manns Schwiegermutter in spe, führt einen Oppositions-Schwarm an, ein lesbisches Paar gründet ein Foto-Atelier und zwei Langhaarige demonstrieren mit Kunst und Wolle für völlige Seelenfreiheit. Überhaupt ist viel von Seele die Rede, eine »Psychologische Gesellschaft« wird gegründet und ein junger Arzt beginnt das therapeutische Potenzial der neumodischen Seelenflüsterei zu ahnen. Aber erst der junge Frank Wedekind ermisst die Abgründe, die das Seelen- und das Sexualleben gleichermaßen trennen wie miteinander verbinden, und schlägt daraus literarische Funken. Und warum passiert das alles ausgerechnet in München und nicht in der Reichshauptstadt Berlin? Auch das erfahren wir von Hedwig Pringsheim.
Der Oppositions-Schwarm
Auf dem Eis
Geistesgegenwärtig weicht die junge Frau den ihr entgegenkommenden Läufern aus, während sie schwungvoll ihre schlängelnden Bahnen auf dem Eis zieht. Sie trägt einen wadenlangen dunklen Rock und dazu eine passende taillierte Jacke mit einem Pelzkragen, der sich um ihren Hals schmiegt. Ihr rötlich-blondes, am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengefasstes Haar ist kaum von dem kunstvoll drapierten schwarzen Filzhut zu bändigen, und das, obwohl sie ihn wegen der schneidenden Kälte tief ins Gesicht gezogen hat.
Hedwig Pringsheim, bemerkenswert hübsch und nie um eine geistreiche Antwort verlegen, liebt das Schlittschuhlaufen. Während andere Anstrengungen sie rasch ermüden, scheint diese ihrem Körper immer neue Schwungkraft zu verleihen. Beinahe täglich dreht sie in den kalten Januartagen ihre Runden auf der glitzernden Eisfläche des Kleinhesseloher Sees im Englischen Garten, vorwärts wie rückwärts gleitend ist sie gleichermaßen eine elegante Erscheinung. Nur wenn sie aus lauter Übermut allzu viel Tempo aufnimmt und dabei die kaum sichtbaren Unebenheiten im Eis ignoriert, kann es hin und wieder zu Stürzen kommen. Aber auch dann ist sie immer wieder schnell auf den Beinen und setzt ihre flotte Fahrt fort, als sei nichts geschehen.
Begleitet wird die Anfang Dreißigjährige von dem inzwischen neunjährigen Erik, dem Ältesten der fünfköpfigen Kinderschar, deren stolze Mutter sie ist, und der, wie sie sich eingestehen muss, auch ihr Liebling ist. Die anderen, darunter die gerade einmal dreijährigen Zwillinge Klaus und Katia, weiß sie in der Zwischenzeit gut vom Kindermädchen betreut, seit kurzem eine französische Bonne.
Oft trifft sie am See auf eine größere Gesellschaft, Freunde und Bekannte, darunter die beinahe unvermeidliche Begegnung mit Albert Schaeuffelen, Sohn des berühmten Papierfabrikanten. Dann tönen die Kaskaden perlenden Gelächters, mit denen sie ihre Rufe und Kommentare begleitet, weit über das Eis und ziehen die Aufmerksamkeit der Läuferinnen und Läufer auf sich, von denen der See bei schönem Wetter dicht bevölkert ist. So auch heute, an einem Januartag des Jahres 1887, an dem es besonders lustig zugeht – man spielt »Schwarzer Mann«. »Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann?«, ruft Hedwig gerade, abseits der anderen Mitspieler stehend. »Niemand«, schallt es ihr wie aus einer Kehle entgegen, und jetzt entsteht ein wüstes Gedränge und Gewusel. Während beide Seiten aufeinander zulaufen, um die Plätze zu tauschen, versucht Hedwig, wie es das Spiel will, durch deren Abfangen möglichst viele ihrer Gegner ebenfalls zu »Schwarzen Männern« zu machen. Schaeuffelen, der bis über beide Ohren in sie verliebt ist, legt es geradezu darauf an, von ihr erwischt und ausgezählt zu werden. Der kleine flinke Erik hingegen behauptet sich bis zuletzt tapfer gegen ihre Versuche, auch ihn einzuschwärzen. Da hält sie plötzlich inne: »Das darf doch nicht wahr sein!«
Männer in dunklen Anzügen, augenscheinlich Bedienstete, eilen in einer konzertierten Aktion aufs Eis und stecken den Teil ab, auf dem sich am besten Schlittschuhlaufen lässt. Unmissverständlich verscheuchen sie alle, die sich bislang hier getummelt haben, auch die Schar um Hedwig Pringsheim, die mittlerweile auf über zehn Mitspieler angewachsen ist. Rasch wird klar, worum es geht. Vom Seehaus her dringt eine kleine Gruppe von Damen und Herren auf die Eisfläche vor. Ihre Kleidung, die Distinguiertheit ihres Auftretens und die betonte Steifheit ihrer Bewegungen gibt sie als Aristokraten zu erkennen, wahrscheinlich Leute vom Hof. Man hat wohl im Restaurant des Seehauses gespeist und will jetzt, nach Tisch, ungestört vom gewöhnlichen Volk seine Kreise ziehen. Das arrogante, herrschaftliche Gebaren ruft auf dem Eis einen Entrüstungssturm hervor. »Das lassen wir uns nicht gefallen«, ist auch die einhellige Meinung der Schar um Hedwig Pringsheim.
Anfangs überwiegen Einzelaktionen. Als würde es sich um ein Versehen handeln, dringen Hedwig, Albert Schaeuffelen und die anderen immer wieder ins verbotene Terrain ein, versuchen sich dort an einem Sprung oder drehen eine Pirouette, um danach feixend oder eine Grimasse schneidend – sichtbar nur für die Außenstehenden – wieder abzudrehen. Dann werden sie mutiger und bilden einen »Oppositions-Schwarm«, wie Hedwig das nennt. Dicht an dicht, in chaotischer Formation stoßen sie auf das verbotene Terrain vor, und artikulieren dabei zuweilen lauthals Schlachtrufe. Das macht schon mehr Wirkung, ruft zumindest die Bediensteten wieder auf den Plan, die erneut das Repertoire ihrer Verscheuchungsgesten einsetzen und sogar mit der Gendarmerie drohen. Doch so leicht lässt sich die bürgerliche Widerstandsgruppe heute nicht einschüchtern. Ihre Kampfeslust wächst, und immer dreister und unberechenbarer werden die Vorstöße ins annektierte Gebiet. Zufrieden stellt Hedwig Pringsheim fest, dass der zur Schau gestellte Gleichmut der Besetzer zunehmend sichtbarer Frustration weicht. Schließlich löst die einbrechende Dunkelheit den Konflikt auf ihre Weise. Aber der Vorfall ist ihr wichtig genug, dass sie ihn in ihrem Tagebuch notiert, das sie gewissenhaft führt.
Eine Bohemienne des Geistes: Hedwig Pringsheim, fotografiert vom Atelier Elvira, 1887.
Hedwig Pringsheim
Hedwig Pringsheim ist seit 1878 mit dem fünf Jahre älteren Multimillionärssohn Alfred Pringsheim verheiratet, der seit kurzem eine außerordentliche Professur für Mathematik an der Universität München innehat. Die beiden leben zusammen mit ihren Kindern in einer sehr großzügigen Etagenwohnung in der Münchner Sophienstraße, direkt gegenüber dem Glasplast im Alten Botanischen Garten, tragen sich aber mit Umzugsgedanken. Alfred Pringsheim, ein kleiner, eher unscheinbarer Mann, Kettenraucher mit einer Vorliebe für sarkastische, zuweilen auch ins Kalauerhafte abgleitende Bemerkungen, ist der erstgeborene Sohn des oberschlesischen Eisenbahn- und Bergbauunternehmers Rudolf Pringsheim, eines so erfolgreichen wie schwerreichen Aufsteigers, und für die Bestreitung seines Lebensstandards nicht auf sein Professorengehalt angewiesen. Soweit seine Erinnerungen zurückreichen, schwimmt er in einem beständig fließenden Geldstrom, dessen unversiegbare Quelle der ungeheure väterliche Reichtum ist. Keineswegs ist er nur der Zahlenmensch, den man in einem Mathematikprofessor vermuten könnte. Mindestens ebenso sehr ist er »Notenfax« – glühender Verehrer der Musik Richard Wagners; er hat mit dem Meister persönlich korrespondiert und seine Opern für vierhändiges Klavierspiel bearbeitet, zu deren Darbietung er nun gerne zu sich einlädt. Obendrein ist er Sammler, mit durchaus monomanischen Zügen, wie ihm seine Frau bescheinigt. Seine Sammlung von Renaissance-Majoliken ist auf dem besten Wege, die weltweit bedeutendste Privatsammlung auf diesem Gebiet zu werden.
Hedwig Pringsheim, schlank und zierlich wie ihr Mann, ist die Tochter der bekannten Berliner Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Hedwig Dohm. Ihr Weg nach München hat über die Schauspielerei geführt. Vor ihrer Ehe ist sie Mitglied des Ensembles des Meininger Hoftheaters gewesen, des damals führenden deutschen Regie- und Tourneetheaters – wichtig für die Durchsetzung des Naturalismus und moderner Frauenrollen, beherrscht von einem Patriarchen, dem regierenden Herzog Georg II. von Sachsen-Meininigen, Intendant, Regisseur und Kostümbildner in Personalunion. Die junge Hedwig Dohm ist in dem Metier durchaus erfolgreich gewesen. Aber auch nicht so erfolgreich, dass sich darauf eine Bühnenkarriere hätte gründen lassen....
Erscheint lt. Verlag | 14.10.2023 |
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Zusatzinfo | gestreut |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Blauer Reiter • Frank Wedekind • Franziska von Reventlow • Franziska zu Reventlow • Franz Marc • Gabriele Münter • Hedwig Pringsheim • Jahrhundertwende • Jugendstil • Kaiserreich • Kandinsky • Literarische Moderne • Literarisches München • Lovis Corinth • Maxvorstadt • Moderne • München • Neuerscheinung 2023 • neuerscheinung sachbuch 2023 • Rainer Maria Rilke • Richard Strauß • Rilke • Sachbuch Neuerscheinung • Salome • Salon • satirehauptstadt • Schwabing • Schwabinger Boheme • Secession • Stefan George • Thomas Mann • weihnachtsgeschenke für mama • Zeit der Zauberer |
ISBN-10 | 3-608-12242-7 / 3608122427 |
ISBN-13 | 978-3-608-12242-8 / 9783608122428 |
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