Mord im Dorf der Esel. Stella Honeycut ermittelt (eBook)
304 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0607-9 (ISBN)
Mörder haben lange Ohren - ein hinreißend schräger und charmant britischer Fall
Die Agatha-Christie-Expertin Stella Honeycut reist nach Hillbrush, einem malerischen Ort im Süden Englands, um ihrer Tante Jane unter die Arme zu greifen. Was sie jedoch nicht erwartet hat, sind die vielen Esel, die aufgrund des steilen Gefälles im Ort als Last- und Reittiere eingesetzt werden. Auch Tante Jane, die mit Giftpflanzen experimentiert, um die Zipperlein der Dorfbewohner zu kurieren, gibt ihr Rätsel auf. Als schließlich Edna Inglethorpe, die Haushälterin des Vikars, vergiftet wird und Jane unter Verdacht gerät, setzt Stella alles daran, den Fall aufzuklären ...
<p>Katharina Schendel wurde in einem winzigen Dorf an der Küste geboren und ist seit ihrer Kindheit vernarrt in Esel. Nach ihrer Schulzeit verbrachte sie mehrere Jahre in Metropolen wie Tokio und London. Sie liebt Ausflüge nach Devon und Cornwall sowie lange Spaziergänge mit ihrem Beagle.</p>
Kapitel 1
Ernest Tattlebrook saß inmitten seiner Bücher und dachte über den Tod nach.
Es kommt, wie es kommen muss, war seine Devise. Dagegen kann man nichts machen.
Der Tod war unaufhaltsam, das wusste Tattlebrook aus Erfahrung. Unaufhaltsam. Und unausweichlich.
Er selbst hegte keinerlei gewalttätige oder selbstmörderische Absichten, gehörte er doch zu den friedfertigeren Menschen, die ihre Konflikte allein mit Worten lösten. Es war eher eine üble Vorahnung, die ihn beschlich.
Etwas Schreckliches wird passieren. Jemand hier in diesem Dorf wird sterben. Und es wird kein natürlicher Tod sein, so viel stand schon mal fest. Hillbrush würde bald wieder von einem Mord erschüttert werden.
Bereits mitten in der Nacht war Tattlebrook mit diesem unguten Gefühl im Bauch aufgewacht, und ihm war sofort klar gewesen, was es zu bedeuten hatte. Denn sein Gespür für nahendes Unheil war nicht neu – er hatte es im Laufe seines sechsundfünfzigjährigen Lebens bereits einige Dutzend Male erfahren. Stets begann es damit, dass ihm flau im Magen wurde. Manchmal zwickte oder kribbelte es auch, als ob ein halber Ameisenstaat in seinen Eingeweiden hauste. Dann breitete sich das Gefühl von Ermattung und Kraftlosigkeit über seinen ganzen Körper aus, bis in die Finger- und Zehenspitzen hinein. An solchen Tagen war er kaum zu etwas zu gebrauchen.
Welch ein Glück, dass er in seinem kleinen verwinkelten Buchladen die meiste Zeit ungestört war. Nur ganz wenige Menschen verirrten sich hierher. Die Einheimischen, die ihn regelmäßig aufsuchten, konnte er an einer Hand abzählen. Manchmal kam Jane und brachte frisches Obst, weil er, wie sie behauptete, so blass um die Nase aussähe. Jane merkte immer gleich, wenn mit ihm etwas nicht stimmte. Ihr konnte man nichts vormachen, nicht einmal am Telefon. Ab und an schauten auch mal ein paar Touristen vorbei, denen er Ansichtskarten verkaufte und dabei die eine oder andere Geschichte zum Besten geben konnte.
Obwohl Ernest Tattlebrook im Grunde ein geselliger und offener Mensch war, genoss er doch die Ruhe und Einsamkeit, die ihm sein Buchladen und die Abgeschiedenheit des kleinen Küstenortes boten. Heute zum Beispiel war er von Besuchen und Störungen jeglicher Art bislang verschont geblieben, wofür er sehr dankbar war. Ihm stand der Sinn ganz und gar nicht nach Gesellschaft. Jetzt galt es, abzuwarten, was passieren würde – und dann musste er seine Pflicht erfüllen.
Er war weder aufgeregt noch unruhig, wusste er doch, dass es nicht in seiner Macht stand, den Lauf des Schicksals zu ändern. Er war ein Beobachter. Und ein Chronist.
Über diese, wie er es nannte, übersinnlichen Fähigkeiten hatte er bislang stets geschwiegen – nicht einmal mit Jane hatte er darüber gesprochen. Ihren Fragen war er beharrlich ausgewichen – und hatte es bei der Erklärung belassen, dass er hin und wieder eben unpässlich war. Es reichte, wenn sie wusste, dass er von Zeit zu Zeit kränkelte – mehr wollte er ihr nicht zumuten. Es war ja nicht ihre Bürde, sondern seine.
Morde zu wittern, bevor sie passieren, sei eine Gabe, hatte sein verstorbener Vater vor vielen Jahren einmal gesagt. Eine Gabe und ein Fluch. Für Ernest war es definitiv Letzteres.
Nicht verzagen, Junge!, war der Rat seines Vaters gewesen. Wir Tattlebrooks sind die geborenen Chronisten. Uns liegt die Gabe der Voraussicht im Blut.
Tatsächlich war das Gespür für Unheil von einer Generation zur nächsten vererbt worden. Zumindest in dieser Hinsicht war Ernest froh, dass er keine Nachkommen hatte.
Für einen Moment lehnte er sich zurück und atmete den wohltuenden Duft der vielen alten Bücher ein. Diese besondere Mischung aus vergilbtem Pergament, Druckerschwärze und einem Hauch Vanille, die es in dieser Zusammensetzung, davon war Ernest überzeugt, auf der ganzen Erde nur ein Mal gab. Hier war er zu Hause. Hier fühlte er sich geborgen. Für nichts auf der Welt hätte er diesen Ort eintauschen wollen.
Liebevoll strich er über die Rücken der Bücher, die nur eine Armeslänge von ihm entfernt in einem breiten Holzregal standen. Er besaß frühe Ausgaben von Tolkien, Hemingway und Shakespeare. Werke wie Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn oder Das Dschungelbuch, die ihn seit seiner Kindheit begleiteten. Und Kostbarkeiten, die er sich als literarischer Sammler über viele Jahrzehnte zugelegt hatte. Besonders stolz war er darauf, das Gesamtwerk von Agatha Christie sein Eigen nennen zu können. Die fast siebzig Kriminalromane nebst den Bänden mit den Kurzgeschichten, den Autobiografien, Bühnenstücken, Lyriksammlungen und den unter Christies Pseudonym Mary Westmacott verfassten Liebesromanen füllten ein eigenes großes Regal im hinteren Teil seines Ladens.
Alle diese Bücher waren seine Weggefährten und selbstverständlich unverkäuflich. Sie waren wie Tore in andere Welten. Fenster in die Seelen und Köpfe anderer Menschen. Momente voller Abenteuer und Magie.
Sein Blick fiel auf das Buch, das vor ihm auf seinem Schreibtisch lag. Sofort verdunkelten sich seine Gedanken. Das Buch des Todes, wie er es nannte, war ein in dunkelbraunes Leder gebundener schwerer Wälzer. Es handelte sich dabei um die Verbrechenschronik von Hillbrush, die von ihm und seinen Vorfahren seit über einhundertneunzig Jahren geführt wurde.
Tattlebrook spürte, wie sich sein Herzschlag abrupt beschleunigte. Für gewöhnlich hatten Bücher eine beruhigende Wirkung auf ihn, aber dieses eine Buch bescherte ihm regelmäßig schlaflose Nächte.
Ob es daran lag, dass die ersten Einträge mit Blut geschrieben waren? Zumindest hatte das sein Vater – Friede seiner Asche – immer behauptet. Ernest selbst benutzte einen Füllfederhalter und kobaltblaue Tinte aus einem Tintenfass.
Er schloss die Augen und horchte tief in sich hinein. Wen es dieses Mal wohl treffen würde?
Hoffentlich keinen seiner Freunde! Nicht auszudenken, wenn Tiberius, Gavin oder den Morellis etwas zustoßen würde!
Merkwürdigerweise machte er sich nicht die geringsten Sorgen um Jane. Sie war eine so eigensinnige und starke Frau, dass sie selbst dem Tod ein Schnippchen schlagen würde. Es war völlig ausgeschlossen, dass es jemand auch nur wagen würde, sich mit ihr anzulegen.
In Gedanken ging Tattlebrook der Reihe nach die Einwohner von Hillbrush durch. Er dachte an Jack Whitley, den Wassertaxifahrer, der kein Fettnäpfchen ausließ und immer mit der Tür ins Haus fiel. An Daniel Pyne, den sympathischen jungen Mann mit japanischen Wurzeln, der im Dorf einen Gemischtwarenladen betrieb. An den alten Vikar Lionel Crabtree, der immer in Rätseln sprach. Und an Lennard Waxflatter, den Geschäftsführer der Gin-Destillerie, der ein ausgesprochener Tunichtgut war.
Ja, dachte Tattlebrook, wenn es jemanden gab, dessen Verlust die Gemeinschaft am ehesten verschmerzen konnte, dann war das Lennard Waxflatter.
Aber leider funktioniert das Schicksal nicht so. Denn erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt.
Seufzend schlug er den dicken Wälzer auf und blätterte durch die Seiten. Das Buch war erst knapp zu einem Drittel beschrieben. Es war noch jede Menge Platz übrig. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, für wen er eigentlich diese Chronik schrieb. Sein Vater hatte diese Tradition nie infrage gestellt. Es war seine Pflicht, die grausigen Ereignisse festzuhalten. So hatten es die Vorväter bereits getan, und als Sohn hatte man diesen Brauch fortzuführen. Doch Ernest Tattlebrook hinterfragte sein Handeln. Er hatte nichts dagegen, der Nachwelt eine Chronik zu hinterlassen, aber bislang gab es außer ihm niemanden, der dieses Buch las. Und das empfand er als Frevel. Und als eine Verschwendung von Pergament und Tinte.
Mehr als je zuvor verspürte er den Wunsch, sich jemandem anvertrauen zu können. Seine Gefühle und Gedanken mit einem anderen Menschen zu teilen. Vielleicht sollte er doch Jane ins Vertrauen ziehen. Sie würde ihn sicher verstehen. Doch nein, er wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen um ihn machte. Besser wäre jemand, der ihm nicht ganz so nahestand. Jemand, der Erfahrung mit der Thematik hatte und den Verbrechen mit Scharfsinn zu begegnen vermochte.
Sehnsuchtsvoll glitt Tattlebrooks Blick zu dem Regal mit Agatha Christies Werken. Wenn es die von Christie erdachten Ermittler doch nur im realen Leben gäbe! Die liebenswerte und schlaue Miss Marple zum Beispiel hätte hervorragend zu ihnen ins Dorf gepasst. Auch der geheimnisvolle Harley Quin und sein Agent Mister Sattersway oder das Verbrecher jagende Ehepaar Tuppence und Tommy Beresford wären für Hillbrush eine Bereicherung gewesen. Ganz zu schweigen von dem meisterlich genialen Hercule Poirot! Wenn Ernest Tattlebrook sich einen Detektiv hätte aussuchen können, dann hätte er sich zweifelsfrei für den Belgier mit den kleinen grauen Zellen entschieden.
Doch die Wirklichkeit sah leider ganz anders aus. Der für die Gegend zuständige Chief Inspector Joseph Clapperton war alles andere als ein Meisterermittler. Er mied das Dorf, so gut er konnte, und wurde er doch einmal hergerufen, war er um keine Ausrede verlegen, um möglichst spät einzutreffen. Meistens waren die Probleme dann schon anderweitig gelöst und von den Dorfbewohnern behoben worden, sodass es für Clapperton nicht mehr viel zu tun gab.
Nachdenklich strich Ernest Tattlebrook über die leere Seite, die er bald mit jeder Menge kobaltblauer Buchstaben füllen würde. In ihm keimte das Verlangen, der Unausweichlichkeit des Todes etwas entgegensetzen zu...
Erscheint lt. Verlag | 23.1.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Devon • Devon Krimi • Dorfgemeinschaft • England • england krimi • Englischer Krimi • englischer krimi buch • Esel • weibliche Ermittlerin |
ISBN-10 | 3-7499-0607-6 / 3749906076 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0607-9 / 9783749906079 |
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