Cory Doctorow, 1971 in Toronto geboren, ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit dem Blog boingboing.net und seinem Kampf für ein faires Copyright hat er weltweite Bekanntheit erlangt. Seine »Little Brother«-Romane wurden internationale Bestseller. Cory Doctorow ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Los Angeles.
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Eines Abends bekam ich auf einmal irre Lust, den ganzen Weg von San Diego bis hinauf nach Menlo Park zu fahren. Warum gerade Menlo Park? Weil es dort ein Lokal mit drei Michelin-Sternen und eine liebe alte Freundin ganz in der Nähe des Walmart-Parkplatzes gab, wo ich den Unsalted Hash abstellen und so viel trinken konnte, wie ich wollte, um danach zu Fuß zurückzukehren und ins Bett zu fallen.
Ich hatte vor Kurzem einen Job erledigt, der besser gelaufen war als erwartet – so gut, dass ich für den Rest des Jahres ausgesorgt hatte, wenn ich vorsichtig war. Allerdings wollte ich gar nicht vorsichtig sein. Aus diesem Alter war ich längst heraus. Ich wollte das Leben genießen. Ich würde auch wieder einen neuen Job finden. Aber jetzt wollte ich erst einmal feiern.
Um ehrlich zu sein, ich mochte überhaupt nicht über die Möglichkeit nachdenken, dass ich mit meinen siebenundsechzig Jahren vielleicht doch nicht so schnell eine neue Arbeit finden würde. Das Silicon Valley hasst alte Menschen, aber das ging schon in Ordnung, weil ich umgekehrt auch das Silicon Valley hasste. Jedenfalls in beruflicher Hinsicht.
Kurz vor Bakersfield lenkte ich den Unsalted Hash auf den Parkplatz einer Raststätte, um mir die Beine zu vertreten und einen Blick aufs Handy zu werfen. Nach einer Runde um die Picknicktische und den Verkaufsautomaten ging ich um meinen dummen, klobigen und luxuriösen Tourbus herum, überprüfte den Reifendruck und vergewisserte mich, dass die Gepäckfächer unversehrt und verriegelt waren. Anschließend stieg ich wieder ein, kontrollierte den Abwasserpegel und fand, dass er niedrig genug war, um meine Bordtoilette zu benutzen. Dann endlich, das Warten hatte mich viel Kraft gekostet, setzte ich mich auf einen pflaumenweichen Ledersessel und rief die neuen Nachrichten auf.
So erfuhr ich, dass Danny Lazer mich suchte. Er hatte es über die üblichen Kanäle probiert – ich sah einige Direktnachrichten von Leuten, bei denen ich mich manchmal meldete, wenn ich Arbeit brauchte –, und das verlieh diesem Abend einen gewissen Glanz, denn siebenundsechzig hin oder her, für jemanden mit meinen Fähigkeiten gab es immer irgendwas zu tun. Danny Lazer hatte offenbar ein Problem mit seinen Trustlesscoin-Schlüsseln, die angeblich auf den bestgehüteten kryptografischen Geheimnissen der Welt beruhten.
Also schickte ich ihm eine Nachricht. Eine Rast später, gleich hinter Gilroy, traf seine Antwort ein. Er wollte mich unbedingt sehen. Ob ich ihn zu Hause in Palo Alto anrufen könne?
Mein aufgeblasenes kleines Ego schwoll noch weiter an, weil er mich anscheinend dringend brauchte. Ich antwortete ihm, ich hätte mich am nächsten Abend schon zum Abendessen verabredet, würde mich aber am Morgen danach bei ihm melden. Ehrlich gesagt fühlte ich mich noch viel wichtiger, als ich einen so bedeutenden Mann wie Danny Lazer warten ließ, auch wenn es nur um einen Tag ging. Seine Antwort verriet mir, dass ihn die Verzögerung ärgerte. Ich kam mir selbst etwas zickig vor, aber das Gefühl war dann doch nicht so stark, dass ich die Verabredung zum Abendessen abgesagt hätte. Meine alte Freundin war eine unternehmungslustige Frau, und es war gut möglich, dass wir nach dem Abendessen noch ein bis drei Stunden bei ihr verbringen würden, ehe ich zum Walmart-Parkplatz zurückkehrte.
Das Essen war keine Enttäuschung, so wenig wie das Vergnügen und die Spiele danach. Es war ein schöner Ausklang nach einem sehr erfolgreich abgeschlossenen Auftrag und ein wundervolles Vorspiel für den nächsten Job, den mir einer der freundlichsten reichen Männer (oder einer der reichsten freundlichen Männer) im Silicon Valley in Aussicht gestellt hatte.
Danny war ein Einwohner des Silicon Valley vom alten Schlag. Ein Mann, der einen eigenen UUCP-Server aufgesetzt hatte, um die Verbreitung der alt-Hierarchie zu unterstützen. Einmal hatte er sogar Tim May geholfen, eine Ladung nicht lizenzierter Feuerwaffen von einer Waffenbörse in Nevada aus über die Staatsgrenze zu schmuggeln. Jahrzehntelang hatte er wie ein Mönch gelebt, Kryptografiecode geschrieben und sich deshalb mit der NSA herumgeschlagen. Außerdem hatte er auf das Haus seiner Eltern im Osten eine Hypothek aufgenommen, damit er selbst und zwei Programmierer in einem winzigen Büro ein Jahrzehnt lang im Geschäft bleiben konnten, während er und Galit in einem zehn Meter langen Campingbus lebten, dessen Motor einmal im Monat gewartet werden musste, damit sie von einem Parkplatz zum nächsten zockeln konnten.
Damals wettete man bereits darauf, dass das Internet eines Tages seine Unschuld verlieren würde und die Leute darauf bestehen könnten, voreinander und gegen die Regierung abgeschirmt zu sein. Bei jedem Boom und jeder Pleite setzte er weiter auf diese Wette, lebte von Ramen und abgelaufenen Müslipackungen von der Resterampe und weigerte sich, irgendwelche Firmenanteile abzugeben. Eine Ausnahme bildeten lediglich die vielversprechenden Hacker, die zu ihm stießen. Eines Tages zahlte sich das Risiko aus, und er wurde zu Daniel Moses Lazer, der einen fünfundsiebzigprozentigen Anteil von Keypairs LLC hielt. Deren Kryptobibliotheken und Workflow-Hilfsmittel boten die langersehnten neuen Investitionschancen für die nächste Internetrevolution. Keypairs war nicht das erste Einhorn im Silicon Valley, aber es war das erste, das niemals auch nur einen Cent Wagniskapital aufnahm. Die einzigen Geldgeber waren Dannys Eltern in Jersey, denen er mindestens hundert Millionen Dollar zurückschickte, bis sie ihn baten, damit aufzuhören, weil es in dieser Welt nichts mehr gab, was sie sich kaufen wollten.
Galit fand ein großes Haus auf den Twin Peaks, von dem aus man an klaren Tagen Alcatraz sehen konnte, und ließ es bis auf das Fundament, die Ankerbolzen und die Dachträger abreißen und neu bauen. Dabei achtete sie darauf, nach Dannys Wünschen überall Netzwerkanschlüsse vorzusehen, ohne ihr eigenes erschöpfendes Wissen über Kunst und Kunsthandwerk außer Acht zu lassen. Als sie eines Tages einen Mendocino Grig und eine Käseplatte brachte, die sie zu zweit auf ihrer halb fertiggestellten Veranda genießen wollten, keuchte sie, klagte über Schmerzen in beiden Armen und dann in der Brust. Schließlich brach sie zusammen und war tot, ehe der Rettungswagen eintraf.
Es war eine gute Ehe gewesen. Zweiundzwanzig Jahre, aber keine Kinder, weil es in ihrem alten Campingbus keinen Platz für Kinder gab, sofern sie den Nachwuchs nicht an den Dachsparren aufhängen wollten. Sie war sein Fels in der Brandung gewesen, als er Keypairs aufgebaut hatte, aber er war nicht da gewesen, um ihr die Füße zu massieren und ihr zu helfen, wenn sie unter den endlosen Demütigungen litt, mit denen eine Frau rechnen musste, die im Silicon Valley in der Verwaltung arbeitete. Er sah das allerdings anders. Als er die Urne mit ihrer Asche bekam, sprach er ausschließlich darüber, dass sie ein Vierteljahrhundert damit verplempert hätten, ein Vermögen zusammenzuraffen, das ihnen letzten Endes überhaupt nichts genützt hatte. Es hatte sie sogar die Lebenszeit gekostet, die sie gemeinsam in einer Hütte am Strand in Baja California hätten verbringen können, wo er zwei Stunden im Monat Auftragsarbeiten erledigte, die genug abwarfen, um einmal im Monat die Machete schärfen zu lassen und einmal im Jahr neue Hängematten zu kaufen.
Eine Prozession der mächtigsten Leute und wichtigsten Technologieexperten des Silicon Valley wanderte durch das Abbruchhaus in Palo Alto, in dem sie sich niedergelassen hatten, solange das Projekt auf den Twin Peaks noch nicht abgeschlossen war. Die Besucher waren nicht nur reich, sondern auch berühmt, nämlich für ihre Visionen, ihr Einfühlungsvermögen und ihre Klugheit. Sie redeten ihm wegen seiner niederschmetternden Reuegefühle ins Gewissen und wollten ihm erklären, wie viel Gutes er doch für Galit und die ganze Welt getan hätte. Er ließ sich aber nicht umstimmen. Unter Dannys Freunden wuchs die Einsicht, dass er es nicht mehr lange machen würde. Nicht, dass er sich umbrächte oder so, aber man nahm an, das Leben musste ihm einfach gleichgültig werden, und dann würde die Natur ihren Tribut verlangen.
Sie hatten völlig recht damit, und wenn man alle verfügbaren Informationen bedachte, lag diese Schlussfolgerung auch sehr nahe. Allerdings gab es noch eine versteckte Variable: Sethuramani Balakrishnan. Sie war fünfundzwanzig, brillant und hatte bei Keypairs mehrere Positionen bekleidet, ohne wirklich befördert zu werden: Kundensupport, danach Compliance, und schließlich war sie Dannys persönliche Assistentin geworden. Ein Job, für den sie völlig überqualifiziert war.
Sie half ihm, das Haus abzustoßen und Keypairs an ein Managergremium zu übergeben, das ein sorgfältig austariertes Gleichgewicht zwischen den Hackern, die seit der PDP-8 bei Danny gewesen waren, und anderen Leuten herstellte, die über echte Erfahrung als Manager verfügten und sich bewährt und beim Aufbau von Firmen und der Leitung großer Teams Erfahrungen gewonnen hatten. Er stieß alle Anteile ab, die er im Laufe der Zeit erworben hatte, um Plätze in den Beiräten der betreffenden Firmen zu ergattern, und steckte alles in Vanguard-Fonds – und zwar in diejenigen, die nicht viele technische Aktien hielten.
Soweit die anderen berichten konnten, versuchte Sethu gar nicht erst, ihm irgendetwas auszureden. Sie bot ihm nur ihre effiziente, intelligente und manchmal außerordentlich gut organisierte Hilfe an, um sein Lebenswerk aus einem Zustand, in dem es von jemandem mit seinem unglaublichen Antrieb aktiv gesteuert werden musste, in einen anderen zu verlagern, wo sich Investoren mit überwucherten Tabellenkalkulationen...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2024 |
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Übersetzer | Jürgen Langowski |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Red Team Blues |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2023 • 2024 • Bitcoin • cybercrime • eBooks • IT Security • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Little Brother • marty hench • Neuerscheinung • New-York-Times-Bestsellerautor • Silicon Valley • Start-up Szene • Thriller • Zukunftsvision |
ISBN-10 | 3-641-31326-0 / 3641313260 |
ISBN-13 | 978-3-641-31326-5 / 9783641313265 |
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