Enrique Beltran hasste New York. Die riesige Steinwüste am Hudson River war viel kälter als seine mexikanische Heimat. Die New Yorker hetzten, drängelten, rasten. Die eleganten Ostküsten-Ladys warfen Beltran arrogante Blicke zu. Sie behandelten ihn wie Luft.
Dabei wollte der Mexikaner unbedingt im Mittelpunkt stehen. Darum war er Sänger geworden. Aus diesem Grund schrieb er Lieder, die es in sich hatten. Seine Texte waren schärfer und verletzender als Giftdolche. Den Menschen sollten seine Killerballaden in den Ohren dröhnen.
Hier, an der Ostküste, war man endlich auf ihn aufmerksam geworden. Und deshalb liebte Enrique Beltran New York. Hier würde er endlich ein Superstar werden, dachte Beltran.
Noch ahnte Beltran nicht, dass er nur noch eine halbe Stunde zu leben hatte. Der gebürtige Mexikaner schlenderte durch El Barrio. So wurde der Teil von Harlem genannt, in dem überwiegend Latinos lebten.
Wäre der kalte Wind vom East River nicht gewesen, Beltran hätte sich wie in Mexiko fühlen können. Überall roch es nach heißen Tacos und Burritos, aus den Bars tönte traditionelle Mariachi-Musik. Beltran grinste. Mit solchen sentimentalen Liebesliedern konnte man seiner Meinung nach keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Die moderne Zeit brauchte Sänger wie ihn, Enrique Beltran. Das war seine feste Überzeugung.
An diesem Tag hatte Beltran richtig gute Laune. Selbst das kühle New Yorker Wetter machte ihm nichts mehr aus. In seiner Fantasie sah er sich schon als gefeierten Star der Latino-Musikwelt, von Mexico City bis Lima, von Kuba bis Paraguay.
Und dann erblickte er Florentina. Mit ihren engen Hüftjeans ,und dem bauchfreien Pullover war sie ein echter Blickfang.
Die junge Schönheit aus El Salvador arbeitete nur stundenweise an diesem Getränkestand in der West 116th Street. Daher wusste der Mexikaner nie, wann er sie treffen konnte. Bisher hatte sie ihn immer abgewiesen. Aber Beltran glaubte, dass an diesem Tag seine Glückssträhne begann. Daher wollte er bei Florentina einen neuen Eroberungsversuch starten.
Die Salvadorianerin rollte bereits genervt mit den Augen, als sie Beltran auf sich zukommen sah. Dieser mexikanische Dummschwätzer war einfach nicht ihr Typ.
»Buenos Dias, meine Schöne!«
»Ich bin nicht deine Schöne, sondern die Limonadenverkäuferin von Señor Rodriguez. Und ich stehe mir hier nicht zu meinem Vergnügen die Beine in den Bauch.«
»Warum so zickig, Florentina?« Beltran holte mit großer Geste eine Dollarnote aus der Tasche. »Eine eiskalte Orangenlimo für mich. Ich kann eine Abkühlung gebrauchen.«
Florentina machte sich an der Zapfanlage zu schaffen. Giftig gelbe Flüssigkeit rann in einen Plastikbecher. Die Verkäuferin sparte nicht mit den Eiswürfeln.
»Hier, dein Softdrink.« Sie kassierte und legte das Wechselgeld hin. »Und warum bist du so erhitzt bei dem ungemütlichen Wetter?«
»Dein Anblick lässt mein Blut brodeln. - Nun schau mich nicht so vernichtend an, Florentina. Das war nur ein Scherz. In Wirklichkeit habe ich hart an meinen neuen Liedern gearbeitet, Tag und Nacht. Nun sind sie endlich fertig. Und ich habe echtes Dynamit produziert, das kannst du mir glauben.«
Die Salvadorianerin war wenig beeindruckt.
»Dynamit, soso. Hast du deshalb deinen Fanklub gleich mitgebracht?«
»Was für ein Fanklub?«
Beltran wollte sich umdrehen. Und dann ging alles ganz schnell. Einer der drei Männer, die ein Stück weit hinter dem Mexikaner standen, hielt plötzlich eine Pistole in der Hand. Die Waffe krachte zweimal hintereinander. Schon beim ersten Schussgeräusch warf sich Florentina geistesgegenwärtig zu Boden. Sie wusste, wie schnell man sich im Big Apple eine Kugel einfangen konnte.
Doch keines der beiden Geschosse traf die junge Frau. Stattdessen schlugen sie in Beltrans Schädel ein. Das erste Projektil traf seinen Hinterkopf, das zweite hackte seitlich in seine linke Schläfe. Er war schon tot, als er mit dem Gesicht nach unten zu Boden ging-Florentina schrie entsetzt auf, denn plötzlich war überall Blut. Auch einige andere Passanten suchten entsetzt Deckung und riefen um Hilfe. Doch von den drei Männern ging einstweilen keine Bedrohung mehr aus. Sie stiegen in einen Buick und fuhren Richtung Midtown Manhattan davon.
Beltran lag auf der Kante zwischen Gehweg und Fahrbahn. Sein Blut sickerte in den Rinnstein.
***
Für Milo und mich begann dieser Arbeitstag mit einer Besprechung im Dienstzimmer von Mr McKee. Pünktlich fanden wir uns im FBI Field Office an der Federal Plaza ein. Die bezaubernde Sekretärin unseres Chefs hatte bereits für köstlichen Kaffee gesorgt. Mandy begrüßte uns mit einem strahlenden Lächeln.
Jonathan D. McKee nickte uns freundlich zu und bat uns mit einer knappen Handbewegung, Platz zu nehmen. Nachdem wir auf den Besucherstühlen saßen, schauten wir ihn erwartungsvoll an. Assistant Director McKee faltete seine schmalen Künstlerhände auf der Schreibunterlage seines penibel aufgeräumten Tisches.
»Gestern hat es eine Schießerei in El Barrio gegeben, wie Spanish Harlem ja seit einiger Zeit genannt wird. Die Tat erinnert an eine Exekution. Es wurden zwei Schüsse von hinten abgegeben, aus einer Distanz von ungefähr sechs Yards. Das Opfer hatte keine Chance.«
»Gibt es schon Erkenntnisse über den Ermordeten, Sir?«
»Negativ, Jesse. Es handelt sich um einen jungen Latino, vermutlich Mitte zwanzig. Er hatte keine Ausweispapiere bei sich. Das NYPD geht davon aus, dass es sich um einen illegalen Einwanderer handelt.«
»Das klingt für mich nach einer Abrechnung im Gangmilieu«, sagte ich. »Gibt es Tätowierungen, die auf eine Bandenzugehörigkeit hindeuten?«
»Nein, das nicht. Der Mann befand sich an einem Getränkestand, als die Schüsse fielen. Die Verkäuferin könnte etwas gesehen haben. Aber sie ist spurlos verschwunden.«
»Zeugen leben manchmal gefährlich«, grollte Milo. »Warum ist dieser feige Mord eigentlich ein FBI-Fall, Sir? Für Gang-Verbrechen hat das NYPD doch eine eigene Task Force.«
»Das stimmt, Milo. Allerdings hat sich bei einem Eiltest im Kriminallabor gezeigt, dass die Schüsse aus einer registrierten Pistole abgegeben wurden. Besagte Waffe fand bereits vor zwei Jahren bei einem Raubüberfall in New Jersey Verwendung.«
Ich nickte. Dadurch, dass die Waffe in zwei US-Bundesstaaten für Verbrechen benutzt wurde, ging der Fall automatisch an uns, das FBI.
»Gibt es weitere Zeugen?«, hakte ich nach. Der Chef schüttelte den Kopf.
»Als ein Patrolcar eintraf, war der betreffende Straßenabschnitt der West 116th Street wie leergefegt. Die Kollegen vom Police Department konnten immerhin feststellen, wem der Getränkestand gehört. Die Leiche des Ermordeten befindet sich in der Gerichtsmedizin. Sobald es Erkenntnisse von der Obduktion gibt, werden Sie informiert. Ansonsten sprechen Sie am besten mit den Beamten beim zuständigen Precinct.«
»Das werden wir tun, Sir.«
Milo und ich erhoben uns von unseren Stühlen und eilten hinaus. In meinem Sportwagen-E-Hybriden fuhren wir nach Harlem, zur 25. Revierwache in der 119th Street.
»Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist ein neuer Bandenkrieg«, sagte Milo, als wir aus dem Wagen stiegen. »Die Gangs halten gerade ausnahmsweise einmal die Füße still. Wenn neue Revierkämpfe drohen, dann wird bald das gesamte Barrio einem Hexenkessel gleichen.«
»Gerade darum ist es wichtig, jetzt sofort einzugreifen«, erwiderte ich. »Ich bin gespannt, was die Kollegen uns erzählen können.«
Wir hatten Glück. Die jungen uniformierten Cops, die als Erste am Tatort gewesen waren, traten gerade wieder ihre Schicht an.
»Es gab also wirklich keine Zeugen?«, vergewisserte ich mich. Officer Jay Kaminski schüttelte den Kopf.
»Aber an diesem Getränkestand muss jemand gearbeitet haben, G-Man. Der Inhaber heißt Paco Rodriguez. Er lässt ständig wechselnde Aushilfen Limo verkaufen, möglichst weiblich, jung und hübsch…«
Seine Dienstpartnerin Officer Laurie Webster lachte und knuffte dem Cop freundschaftlich in die Seite.
»Das stimmt, Jay kriegt immer Stielaugen, wenn wir an dem Getränkestand vorbeifahren.«
Ich schrieb mir auf, wo wir diesen Rodriguez erreichen konnten. Er musste ja wissen, welche seiner Angestellten zur Tatzeit vor Ort gewesen war.
»Ist euch sonst noch etwas aufgefallen?«, fragte Milo.
Jay Kaminski und Laurie Webster verneinten.
»Wie gesagt, es gab unmittelbar am Tatort keine Zeugen«, meinte die junge Polizistin nach kurzem Nachdenken. »Aber ein Zeitungsverkäufer hat einen Block weiter südlich kurz nach den Schüssen einen Wagen in die Lenox Avenue einbiegen sehen. Könnte ein Chevy oder Buick gewesen sein. Aber er wollte sich nicht festlegen.«
Ich nickte. Da wir als FBI den Fall übernahmen, hatten...