Engelsmädchen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Ein Fall für Nils Trojan 11. Psychothriller

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
448 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-29210-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Engelsmädchen -  Max Bentow
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Der Berliner Kommissar Nils Trojan kommt einem Rätsel auf die Spur: Warum gibt sich eine Jugendliche fälschlicherweise als ein seit vielen Jahren vermisstes Mädchen aus, kurz bevor sie in den Tod springt? Bei seinen Ermittlungen trifft er auf die Kriminalpsychologin Carlotta Weiss, die unter Lebensgefahr versucht hat, die Jugendliche von dem Sprung abzuhalten. Trojan ist auf Anhieb fasziniert von seiner unkonventionellen Kollegin und bietet ihr an, in dem Fall zusammenzuarbeiten. Während sie gemeinsam versuchen, die mysteriösen Hintergründe des Selbstmords aufzuklären, geraten sie in den Strudel einer Mordserie, der sie unter die Brücken Berlins führt - und Carlotta erneut mit dem schwärzesten Abgrund ihres Lebens konfrontiert ...

Max Bentow wurde in Berlin geboren. Nach seinem Schauspielstudium war er an verschiedenen Bühnen tätig. Für seine Arbeit als Dramatiker wurde er mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet. Seit seinem Debütroman »Der Federmann« hat sich Max Bentow als einer der erfolgreichsten deutschen Thrillerautoren etabliert, alle seine Bücher waren große SPIEGEL-Bestsellererfolge.

EINS


SONNTAG, 18. SEPTEMBER, NACHTS


Sie war auf der Tanzfläche und rührte sich nicht. Die Menge um sie herum im flimmernden Licht, ein Wogen, ein Zucken, schwitzend in stickiger Luft. Wummernde Bässe, ekstatische Loops. Doch Carlotta stand völlig still. Sie war allein, in Gedanken weit weg. Sah hinauf zu den Scheinwerfern und blinzelte.

Sie wollte dazugehören, ein Teil des Ganzen sein. Nicht mehr ausgeschlossen, fern vom Spaß der anderen. Es versuchen, innerlich loslassen, sich den Beats hingeben. Für wenigstens eine Nacht so wild und selbstvergessen sein wie die tanzende Meute. Normalerweise hielt sie Abstand, doch für heute hatte sie vor, sich mitten hineinzubegeben.

Sie begann mit einer leisen Bewegung in der Hüfte, danach erlaubte sie ihren Schultern zu kreisen. Sie hob die Arme, ihre Hände bewegten sich langsam vor ihrem Gesicht. Es war wie ein Streicheln, ein zartes Gleiten, als wollte sie den hochtönenden Gesang anlocken, der sich hymnisch über die Basslinie legte.

Allmählich gewann sie Zutrauen. Sie warf einen Blick hinauf zum DJ, der hoch oben über seinen Turntables thronte. Er peitschte die Menge an. Das rhythmisch stampfende Volk jubelte ihm zu.

Kaskaden aus farbigem Licht strömten auf Carlotta herab. Sie traute sich nun mehr zu. Sie konnte es auch. Ihr Hüftschwung noch zaghaft, aber das Spiel ihrer Hände ausufernd. Sie umarmte die Melodie, den hohen Klang einer Sirenenstimme und umfing den tiefen Bass der Drums, der sich durch ihr Rückenmark zu schlängeln schien.

Etwas löste sich in ihr, eine alte abgekaute Traurigkeit, die sie vielleicht für immer ablegen konnte. Mehr tanzen, dachte sie, mehr singen, womöglich war das ein Neustart in dieser Nacht. Sie beobachtete ihre Hände, die über ihr flatterten wie zwei kleine Vögel, endlich in die Freiheit entlassen. Verzückt, nahezu begeistert sah sie ihnen zu. Sie waren hübsch, dabei hatte Carlotta noch nie etwas an sich schön gefunden.

Die Loops endeten, und der DJ blendete zum nächsten Track über, begleitet vom Johlen der Masse. Die Lichtstimmung wechselte, noch mehr Menschen drängten auf die Tanzfläche. Carlotta wurde angerempelt und kam aus dem Rhythmus. Schon meldeten sich störende Gedanken. War sie etwa doch fehl am Platz?

Sie wollte weitertanzen, doch die Magie war dahin. Sie rettete sich an die Bar, versuchte dem Mann hinterm Tresen, ein Zeichen zu geben, jedoch vergeblich. Es war entschieden zu voll, die Luft zum Schneiden. Plötzlich stand ein Typ dicht neben ihr und grinste sie an. Carlotta wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Zurücklächeln wäre wohl angebracht, aber sie zögerte.

Der Kerl rief ihr etwas zu, doch es war extrem laut in diesem Club.

Er beugte sich zu ihr, kam ihr zu nah, sie konnte sein Rasierwasser riechen, holzig, mit einer Spur Zitrusfrucht. Er war recht attraktiv, feine Gesichtszüge, blitzende Augen.

Sie spürte seinen Atem im Ohr. »Darf ich dich zu einem Drink einladen?«

»Okay.« Sie antwortete, ohne nachzudenken.

»Und was möchtest du?«

Sie überlegte noch, da drückte er ihr schon ein Glas in die Hand.

»Cheers«, sagte er.

»Cheers.« Sie tranken beide.

Carlotta ahnte, dass er nun ein lockeres Gespräch anfangen würde, gezielter Auftakt zu einem Flirt, und sie beschloss mitzuspielen.

»Ich bin übrigens Victor.« Sein Haar war dunkel, sein Lächeln charmant, aber ein Tick zu selbstverliebt.

»Carlotta.«

»Schöner Name.«

Nur eine Schmeichelei, doch sie ließ es sich gefallen. Sie tranken aus, und er bestellte erneut. Der Barkeeper reagierte schnell. Carlotta hatte schon lange keinen Alkohol mehr getrunken. Eigentlich machte sie sich nicht viel daraus. Der Wodka Lemon, oder was immer das war, brannte in ihrer Kehle.

Victor berührte sie am Oberarm, und nun hatte sie seinen Atem im Gesicht. »Warum ziehst du deine Jacke nicht aus, ist dir nicht heiß?«

Es war unmöglich. Sie brauchte die Jacke zum Schutz, feines Nappaleder, mehr eine dünne Haut als ein Kleidungsstück, aber sie erfüllte ihren Zweck. Carlotta wollte kein Aufsehen erregen mit dem, was sie darunter trug, und der Türsteher hätte sie erst gar nicht reingelassen.

Victor schien ihr Stirnrunzeln bemerkt zu haben. Er nahm die Hand wieder weg.

Carlottas Gesichtszüge entspannten sich. Das Gürtelholster, darin die Waffe, Marke Sig Sauer, kalt und schwer, blieb unter dem Leder verborgen. Kleiner Verstoß gegen die Dienstvorschrift. Immerhin war sie aus privatem Anlass hier. Doch mit der Pistole fühlte sie sich sicherer.

Ihr Gegenüber gab nicht auf, er feuerte eine Reihe von Komplimenten ab, die sie mit einem Lächeln quittierte. Er prahlte mit seinem Job, irgendetwas mit Immobilien, und zeigte ihr seine makellosen Zähne. Sie antwortete das Nötigste, wenn er ihr Fragen stellte, und ließ sich zu einem dritten Getränk überreden.

Ihr war ein wenig schummrig, als er sie fragte, ob sie tanzen wolle.

Sie willigte ein. Schon war sie mit ihm unter den wabernden Lichtern, und der DJ versorgte sie mit vibrierenden Tracks, die in ihrem Bauch kitzelten. Sie versuchte, die Bewegungen ihrer Hände zu wiederholen, den Freiheitsflug der kleinen Vögel, sich geheimnisvoll, unnahbar und dennoch gegen ein Abenteuer nicht abgeneigt zu geben. Warum auch nicht? Sie war hier, um sich zu amüsieren, ihr Plan war es, den einfachen Freuden der Allgemeinheit zu folgen, eine durchtanzte Nacht, Alkohol, vielleicht auch Sex.

Victor tänzelte um sie herum, sein Auftreten männlich, unterkühlt, mit einer Prise Ironie. Sie schätzte ihn auf ungefähr ihr Alter, Mitte dreißig, noch nicht verloren, auch wenn einige Träume längst geplatzt waren.

Plötzlich schob er sich an sie heran. Seine Hände wanderten unter das Nappaleder, strichen an ihren Rippenbögen entlang. Dann hinunter zu ihren Hüften, als wollte er sie abtasten. Hatte er ihre Waffe bemerkt?

Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, doch in dem Gedränge war es kaum möglich.

Schlagartig wollte sie allein sein. Zu Hause. Isoliert, aber in Sicherheit.

Er zog die Hände wieder weg, doch gleich darauf waren sie in ihrem Nacken.

»Lust, von hier zu verschwinden?«, schrie er ihr ins Ohr.

Ihre Beine waren auf einmal weich wie heißes Wachs. Die Musik schien sich zu verändern, verlangsamte sich. Ihr war, als habe sie Wasser in den Ohren. Ein dumpfer Hall, Misstöne, Disharmonien. Alles um sie herum entfernte sich. Victors Hände glitten wieder unter ihre Jacke, während er sich an sie presste.

Sie bekam keine Luft mehr.

Sie stieß ihn weg, bahnte sich einen Weg durch die Menge.

Erst als sie es zu den Waschräumen geschafft und die Tür hinter sich zugeworfen hatte, kam sie wieder zu Atem. Sie stützte sich an einem der Becken ab, erschrak vor ihrem Spiegelbild. Wie bleich sie war. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und trocknete sich mit einem Papiertuch ab.

Nach einer Weile traute sie sich wieder hinaus. Sie versuchte, sich zu orientieren. Wo war der Ausgang? Unsicher ging sie an der Tanzfläche vorbei. Das Set des DJs wirkte noch immer merkwürdig gedämpft, die Leute schienen sich wie in Zeitlupe zu bewegen, die Lichtstrahlen trafen mit einer eigenartigen Verzögerung auf ihre Netzhaut, dafür umso greller, schmerzlich wie Messerspitzen.

Endlich entdeckte sie ein rettendes Schild: Notausgang. Sie wankte darauf zu. Doch nur wenig später griffen erneut Hände nach ihr.

»Carlotta.«

Der Mann namens Victor sah sie an, als sei nichts weiter vorgefallen.

»Ich muss gehen«, murmelte sie.

»Ich rufe uns ein Taxi.«

»Nein.«

Er schob einen Arm unter ihre Achsel und führte sie hinaus. Die Nachtluft schlug ihr entgegen, kalt und brutal, sie öffnete den Mund, einen metallischen Geschmack auf der Zunge.

Schon hatte Victor mit seinem Handy den Wagen bestellt. »Müsste gleich hier sein.«

»Lass mich los.«

Er lächelte nur.

Abermals wollte sie sich von ihm losreißen, doch es gelang ihr nicht. Ihre Glieder waren noch immer weich, fühlten sich beinahe flüssig an. Sie sackte leicht zusammen, und er zerrte sie hoch.

»Hoppla«, sagte er mit einem Grinsen.

Das Taxi hielt vor ihnen. Er stützte sie, führte sie hin.

Auf einmal hörte sie sich schreien. »Loslassen!«

Unter größter Mühe entwand sie sich seinem Griff. Sie wollte in die andere Richtung laufen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht.

Er griff nach ihr. Sie fuhr herum.

»Komm schon«, sagte er, »du bist zu schwach, um allein nach Hause zu gehen.«

»Hau ab.«

Sein Lächeln war selbstüberzeugt, fies, dominant. Er zog sie an sich heran wie eine willenlose Beute. »Gib mir wenigstens deine Nummer.«

»Nein.«

»Dann gebe ich dir meine.«

Auf einmal hatte er einen Stift in der Hand und schrieb etwas auf ihr Handgelenk.

»Was soll das?«, brachte sie hervor.

Sein Grinsen wurde breiter. »Damit du mich nicht vergisst, Kleine. Niemals.«

Sie spürte das Gewicht der Sig Sauer an ihrer Hüfte, den harten Lauf der Waffe. Sie sah die geöffneten Lippen des Mannes und seine blitzenden Augen.

Der Taxifahrer hupte.

Sie tastete nach dem Holster, spürte den Pistolengriff in ihrer Hand.

Ihr war schwindlig, Lichtblasen explodierten in ihrem Kopf.

Plötzlich war Victor weg. Sie kniete vorm Rinnstein. Sie hatte die Orientierung verloren, auch jegliches...

Erscheint lt. Verlag 20.9.2023
Reihe/Serie Ein Fall für Nils Trojan
Ein Fall für Nils Trojan
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Berlin • Berlin-Krimi • Bizarre Morde • Deutsche Ermittler • eBooks • elfter band • erstmals als taschenbuch 2024 • harte Spannung • kriminalpsychologin • krimi und thriller • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Nils Trojan • Paperback • Profilerin • Psychothriller • Reihe • Spannung • Thriller • Trojan
ISBN-10 3-641-29210-7 / 3641292107
ISBN-13 978-3-641-29210-2 / 9783641292102
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