Holly (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
656 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-30705-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Holly -  Stephen King
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Privatermittlerin Holly Gibney steckt in einer Lebenskrise, da erhält sie einen Anruf: »Meine Tochter Bonnie ist vor drei Wochen verschwunden, und die Polizei unternimmt nichts.« Ihre Nachforschungen führen Holly zu einer weit zurückreichenden Liste ungelöster Vermisstenfälle. Alle spielen im Umfeld eines inzwischen emeritierten Ernährungswissenschaftlers mit dem Spitznamen »Mr. Meat«. Holly hat schon gegen grausame Gegner bestanden, aber hier begegnet sie dem schlimmsten aller Ungeheuer: dem Menschen in seinem Wahn.

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.

Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.

22. Juli 2021


1

Seit der Ankunft von COVID-19 hat Zoom sich ganz schön gemausert. Als Holly es zum ersten Mal benutzt hat – im Februar 2020, was wesentlich länger her zu sein scheint als siebzehn Monate –, brach die Verbindung häufig ab, wenn man nur schief auf den Bildschirm blickte. Manchmal sah man die anderen Zoomer, manchmal nicht, und manchmal flackerten sie mit einer Kopfschmerz verursachenden Frequenz vor sich hin.

Holly ist ein begeisterter Filmfan (wobei sie seit dem vorletzten Frühjahr nicht mehr in einem richtigen Kino war), und sie liebt Hollywood-Blockbuster ebenso sehr wie Kunstfilme. Einer ihrer Lieblingsstreifen aus den Achtzigern ist Conan der Barbar, und ihr liebster Spruch aus dem Film stammt von einer Nebenfigur. »Vor zwei, drei Jahren entstand der Schlangenkult«, sagt ein Straßenhändler über die Jünger des Seth. »Er hat sich ausgebreitet wie die Pest.«

Mit Zoom verhält es sich ebenso. 2019 war es nur eine von vielen Apps, die mit anderen wie FaceTime und GoTo Meeting um die Gunst der Kunden konkurrierte. Jetzt ist es dank Corona praktisch so allgegenwärtig wie der Schlangenkult. Verbessert hat sich übrigens nicht nur die Technik, sondern auch der Produktionswert. Die Zoom-Trauerfeier, an der Holly gerade teilnimmt, könnte fast eine Szene aus einem Fernsehdrama sein. Natürlich liegt der Fokus auf den Leuten, von denen die liebe Verstorbene momentan gepriesen wird, aber gelegentlich sieht man auch verschiedene Trauergäste zu Hause schweigend vor dem Bildschirm sitzen.

Holly sieht man allerdings nicht. Die hat ihr Video blockiert. Sie ist eine bessere, stärkere Person als früher, aber weiterhin sehr zurückhaltend. Sie weiß, dass es in Ordnung ist, bei Trauerfeiern traurig zu sein und zu weinen, aber sie will nicht, dass jemand sie so sieht, vor allem nicht ihr Geschäftspartner und ihre Freunde. Sie will nicht, dass die ihre geröteten Augen sehen, ihr wirres Haar und ihre Hände, die so gezittert haben, als sie die Trauerrede vorgelesen hat. Die war zugleich kurz und so aufrichtig, wie sie es zustande bringen konnte. Vor allem will sie nicht, dass man sieht, wie sie eine Zigarette raucht – nach siebzehn Monaten Corona ist sie schließlich doch rückfällig geworden.

Nun, am Ende der Trauerfeier, läuft eine Diashow, in der die liebe Verstorbene in verschiedenen Posen an verschiedenen Orten zu sehen ist, während Frank Sinatra »Thanks for the Memory« singt. Das hält Holly nicht aus, weshalb sie auf Meeting verlassen klickt. Sie zieht noch ein letztes Mal an der Zigarette, und als sie die gerade ausdrückt, läutet das Telefon.

Eigentlich will sie mit niemand sprechen, aber es ist Barbara Robinson, und daher muss sie den Anruf entgegennehmen.

»Du hast dich ausgeklinkt«, sagt Barbara. »Da war nicht mal mehr ein schwarzes Kästchen mit deinem Namen drauf.«

»Das Lied hat mir noch nie besonders gefallen. Außerdem war die Feier sowieso vorbei.«

»Aber es geht dir doch einigermaßen, oder?«

»Ja.« Was nicht ganz stimmt; Holly weiß nicht, ob es ihr einigermaßen geht. »Aber jetzt im Moment muss ich …« Welchen Ausdruck würde Barbara akzeptieren? Und es Holly erlauben, den Anruf zu beenden, bevor sie in Tränen ausbricht? »Ich muss das alles erst mal verarbeiten.«

»Das versteh ich«, sagt Barbara. »Wenn du willst, komme ich sofort zu dir, egal ob wir jetzt einen Lockdown haben oder nicht.«

Es ist ein De-facto-Lockdown, kein richtiger, was sie beide wissen; der Gouverneur ihres Bundesstaats ist entschlossen, die individuellen Freiheiten zu beschützen, egal wie viele Tausende für diese Idee erkranken oder sterben müssen. Die meisten Leute verhalten sich allerdings ohnehin vorsichtig, Gott sei Dank.

»Das ist nicht nötig.«

»Okay. Ich weiß, wie schlimm es ist, Holly. Es ist eine schlimme Zeit, aber halt bitte durch. Wir haben schon Schlimmeres durchgemacht.« Wobei sie vielleicht, ja fast sicher, an Chet Ondowsky denkt, der vor nicht langer Zeit eine kurze und tödliche Reise durch einen Aufzugschacht unternommen hat. »Außerdem gibt es bald eine Boosterimpfung. Zuerst für Leute mit einem schlechten Immunsystem und solche über fünfundsechzig, aber ich hab in der Schule gehört, dass im Herbst alle dran sein werden.«

»Klingt gut«, sagt Holly.

»Und das ist noch nicht alles! Trump ist weg!«

Aber er hat ein Land hinterlassen, das im Krieg mit sich selbst ist, denkt Holly. Und wer sagt, dass er 2024 nicht noch mal aus der Versenkung auftaucht? Sie denkt daran, was Arnie in Terminator ankündigt: »Ich komme wieder.«

»Holly? Bist du noch da?«

»Bin ich. Hab bloß nachgedacht.« Tatsächlich hat sie an eine weitere Zigarette gedacht. Da sie jetzt wieder angefangen hat, kann sie irgendwie nicht genug von dem Zeug kriegen.

»Okay. Ich hab dich lieb, und mir ist schon klar, dass du deine Ruhe brauchst, aber wenn du dich heute Abend oder morgen nicht meldest, rufe ich wieder an. Nur damit du vorgewarnt bist.«

»Hab verstanden«, sagt Holly und legt auf.

Sie greift nach den Zigaretten, schiebt sie dann jedoch weg, legt den Kopf auf die gekreuzten Arme und fängt an zu weinen. In letzter Zeit hat sie sehr viel geweint. Tränen der Erleichterung, als Biden die Wahl gewonnen hat. Tränen des Schreckens als verzögerte Reaktion darauf, dass Chet Ondowsky, ein als Mensch getarntes Monster, in den Aufzugschacht gestürzt ist. Geweint hat sie auch bei und nach dem Sturm auf das Kapitol; das waren Tränen des Zorns. Heute gelten ihre Tränen Trauer und Verlust, nur sind es zudem Tränen der Erleichterung. Das ist zwar furchtbar, aber es ist wohl auch einfach menschlich.

Im März 2020 hat Corona sich in beinahe allen Pflegeheimen in dem Staat breitgemacht, wo Holly aufgewachsen ist und aus dem sie anscheinend nicht wegkommt. Für ihren Onkel Henry war das kein Problem. Der lebte zu dem Zeitpunkt noch bei ihrer Mutter in den Meadowbrook Estates. Schon da hat Onkel Henry langsam den Verstand verloren, was Holly zu ihrem Glück nicht bewusst war. Bei ihren gelegentlichen Besuchen kam er ihr einigermaßen munter vor, und Charlotte Gibney hat ihre Sorgen über den Zustand ihres Bruders strikt für sich behalten. Dabei hat sie eine der großen stillschweigenden Regeln ihres Lebens befolgt: Wenn man über etwas nicht spricht und es sich nicht eingesteht, dann ist es gar nicht da. Holly nimmt an, dass ihre Mutter sich deshalb nie mit ihr zusammengesetzt und sie aufgeklärt hat, als sie dreizehn war und allmählich Brüste bekam.

Im Dezember des vergangenen Jahres war Charlotte nicht mehr in der Lage, das Offensichtliche zu leugnen, nämlich dass ihr älterer Bruder dement war. Ungefähr zu der Zeit, wo Holly langsam den Verdacht hegte, Chet Ondowsky könnte etwas anderes sein als ein harmloser Fernsehreporter, hat Charlotte Onkel Henry mit Unterstützung von ihrer Tochter und deren gutem Freund Jerome in ein Pflegeheim namens Rolling Hills geschafft. Zugleich wurden in den Vereinigten Staaten die ersten Fälle mit der sogenannten Delta-Variante gemeldet.

Ein Pfleger des Heims wurde positiv auf diese neue und leichter übertragbare Coronaversion getestet. Eine Impfung hatte er zuvor verweigert, weil er behauptete, der Impfstoff enthalte Zellen von abgetriebenen Babys – das habe er im Internet gelesen. Man schickte ihn nach Hause, aber der Schaden war bereits angerichtet. Delta wanderte durch das Heim, und bald litten mehr als vierzig der alten Herrschaften in unterschiedlichem Grad an der Erkrankung. Etwa ein Dutzend starb. Hollys Onkel Henry gehörte nicht dazu, der erkrankte nicht einmal. Er war doppelt geimpft – gegen den Widerstand von Charlotte, aber Holly hatte darauf bestanden – und wurde zwar positiv getestet, bekam aber nicht einmal einen Schnupfen.

Dafür starb Charlotte.

Als fanatische Trump-Anhängerin – was sie ihrer Tochter bei jeder Gelegenheit unter die Nase rieb – hatte sie sich geweigert, sich impfen zu lassen oder auch nur eine Maske zu tragen. Außer im Supermarkt und in der Bankfiliale, wo das vorgeschrieben war. Für diese Gelegenheiten hielt sie eine Maske parat, die hellrot gefärbt und mit MAGA bedruckt war.

Am vierten Juli 2021 nahm Charlotte an einer Anti-Masken-Demonstration in der Hauptstadt des Bundesstaats teil, wobei sie ein Plakat mit der Aufschrift MEIN KÖRPER MEINE ENTSCHEIDUNG schwenkte (eine Meinung, die sie nicht davon abhielt, eine entschiedene Abtreibungsgegnerin zu sein). Am siebten Juli verlor sie den Geruchssinn und begann zu husten. Am zehnten wurde sie ins Mercy-Hospital eingewiesen, gerade einmal neun Straßen von dem Pflegeheim entfernt, wo es ihrem Bruder bestens ging … jedenfalls körperlich. Am fünfzehnten schloss man sie an ein Beatmungsgerät an.

Während Charlottes letzter, brutal kurzer Krankheit besuchte Holly sie per Zoom. Bis zum bitteren Ende behauptete Charlotte, das Coronavirus sei ein Schwindel und sie leide nur an einer schlimmen Grippe. Sie starb am zwanzigsten, und nur die guten Beziehungen von Pete Huntley, Hollys Geschäftspartner, verhinderten, dass ihr Leichnam vorerst in dem neben der Leichenhalle aufgestellten Kühllastwagen eingelagert wurde. Stattdessen brachte man ihn zum Bestattungsinstitut, dessen Besitzer umgehend die Zoom-Trauerfeier arrangiert hatte. Nach beinahe eineinhalb Jahren Pandemie hatte er mehr als genug Erfahrung mit solchen...

Erscheint lt. Verlag 20.9.2023
Übersetzer Bernhard Kleinschmidt
Sprache deutsch
Original-Titel Holly
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2023 • Alter • Blutige Nachrichten • eBooks • Entführungen • Kannibalismus • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mr Mercedes • Neuerscheinung • New York Times Bestseller #1 • Outsider • Pandemie • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Spiegel Bestseller Nr. 1 • Spiegel Bestseller Platz 1 • Thriller • Transhumanismus
ISBN-10 3-641-30705-8 / 3641307058
ISBN-13 978-3-641-30705-9 / 9783641307059
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