Schattennächte (eBook)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
480 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3112-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schattennächte - Tami Hoag
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Die Vergangheit ruht nicht.

Vier Jahre nach dem ungeklärten Verschwinden ihrer älteren Tochter zieht Lauren Lawton mit ihrer jüngeren Tochter ins entlegene und idyllische Oak Knoll. Doch auch dort verfolgen sie die Geister ihrer Vergangenheit. Je näher der 16. Geburtstag von Leah rückt - deren Schwester in genau diesem Alter einst spurlos verschwand -, umso mehr hat Lauren den Verdacht, dass der Täter von einst, dem nie etwas nachgewiesen werden konnte, sie aufgespürt und nun Leah ins Visier genommen hat ...



Tami Hoag (* 20. Januar 1959 in Cresco, Iowa) ist eine US-amerikanische Schriftstellerin.1988 machte sie ihre Leidenschaft zum Beruf und verfasste ihr erstes Buch. Zunächste verfasste sie Liebesromane und widmetee sich später dem Schreiben von Thrillern. Lange Zeit lebte sie mit ihrem Mann auf einer Pferderanch in Virginia, bevor sie nach Los Angeles, Kalifornien umzog.

Kapitel 1


Es war einmal, da waren wir eine glückliche Familie. Ich hatte den perfekten Ehemann: gut aussehend, liebevoll, erfolgreich. Ich hatte die perfekten Kinder: Leslie und Leah – zwei hübsche, kluge, entzückende Mädchen. Ich hatte das perfekte Leben in einem perfekten Haus an einem perfekten Ort. Wir waren eine dieser schrecklich perfekten Familien mit identischen Initialen. Die Lawtons: Lance, Lauren, Leslie und Leah. Die Lawtons aus Santa Barbara in Kalifornien.

Bis, wie in allen Märchen, das Böse in unser Leben trat und es zerstörte.

Ich erinnere mich, dass Leslie als kleines Mädchen immerzu vorgelesen bekommen wollte. Meist fiel ihre Wahl auf ein Märchen. Schon unsere Eltern hatten uns als Kinder Märchen vorgelesen. Ich erinnerte mich an die hübschen Bilder in den Büchern und daran, dass die Märchen immer ein gutes Ende hatten. Aber was sie erzählten, war nie gut. Nur aus der Ferne betrachtet sind Märchen schön. Von Nahem sind es finstere Geschichten über Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt und Mord.

Aschenbrödel wird in ihrem eigenen Zuhause gefangen gehalten und wie eine Leibeigene behandelt, nach dem Tod ihres Vaters der körperlichen und seelischen Gewalt ihrer Stiefmutter und ihrer Stiefschwestern ausgeliefert.

Hänsel und Gretel fallen in die Hände einer Sadistin, die sie im Wald gefangen hält und füttert, um sie bei lebendigem Leib zu braten und zu verspeisen.

Rotkäppchen geht in den Wald, um ihre Großmutter zu besuchen, und entdeckt, dass die alte Frau von einem wilden Tier angefallen und bei lebendigem Leib verschlungen worden ist.

So sehen Märchen aus.

Und so sieht meine Geschichte aus.

Leslie war  – ist  – unsere Erstgeborene. Eigensinnig und liebenswert, gelegentlich etwas aufsässig. Sie tanzte gerne, hörte gerne Musik.

Hört gerne Musik.

Wer würde glauben, dass die Zeitform eines Verbs eine solche Tortur sein kann? Vergangenheit? Gegenwart? Für die meisten Leute hat das wenig Bedeutung, mir treibt diese Entscheidung die Tränen in die Augen, sie bringt mich an den Rand des Wahnsinns, des Selbstmords.

Leslie war. Leslie ist. Für mich ist der Unterschied buchstäblich der zwischen Leben und Tod.

Leslie ist am Leben.

Leslie war meine Tochter.

Meine Tochter wird seit dem 28. Mai 1986 vermisst. Seither sind vier Jahre vergangen. Seither hat niemand etwas von ihr gesehen oder gehört. Ich weiß nicht, ob sie lebt oder tot ist, ob sie ist oder war.

Wenn ich mich für die Vergangenheitsform entscheide, dann gestehe ich damit ein, dass ich mein Kind für immer verloren habe. Wenn ich mich für die Gegenwartsform entscheide, dann unterwerfe ich mich den endlosen Qualen der Hoffnung.

Ich lebe in einem Zwischenreich. Das ist kein schöner Ort. Ich würde alles dafür geben, wenn ich ihn verlassen und das Leichentuch von meiner Seele ziehen könnte.

Ich sehne mich nach irgendeiner Form der Reinigung, einer Form der Katharsis, einer Neutralisierung des Giftes, das nach einer leidvollen Erfahrung zurückbleibt. Die Hoffnung auf Katharsis brachte mich auf die Idee, dieses Buch zu schreiben. Diese Idee  – ein Gegenmittel für das Gift meiner Erinnerungen zu finden, wenn ich meine Erfahrungen der Welt mitteile – glich einer Rettungsleine, die man jemandem zuwirft, den ein stürmisches Meer wegzureißen droht.

Ich weiß allerdings, dass diese Rettungsleine niemals stark genug sein kann, um mich aus dem Strudel zu ziehen. Ich bin die Mutter eines vermissten Kindes.

Erschöpft schob Lauren die Tastatur zur Seite. Für die drei Seiten hatte sie sechs Stunden gebraucht, so als hätte sie jedes Wort einzeln aus dem schwarzen Teer ihrer Gefühle herausziehen müssen. Sie fühlte sich wie nach einem Marathonlauf, so als müsste sie den Schweiß und den Staub der Straße abduschen. Sie speicherte den Text auf einer Diskette und schaltete den Computer aus.

Vor etwas mehr als einem Monat war sie mit ihrer jüngeren Tochter Leah nach Oak Knoll gezogen. So lange hatte es gedauert, bis sie sich endlich an den Computer gesetzt hatte. Und immer noch war ein Teil von ihr in Panik geraten und hatte geschrien, es sei zu früh, sie sei noch nicht bereit. Jeder Tag ihres Lebens war ein ständiger innerer Kampf zwischen dem Bedürfnis, wieder zu leben, und der Angst davor, zwischen Selbstmitleid und Abscheu, dieses Mitleid zu brauchen.

Sie waren hierhergezogen, weil sie den Ort des Verbrechens verlassen und so eine innere und äußere Distanz dazu gewinnen wollte. Mit der Distanz würde vielleicht eine Perspektive auf die Zukunft verbunden sein. Dasselbe galt für ihr Schreiben über das Geschehen: Dass ihr das Erzählen ihrer Geschichte zu einer Perspektive verhelfen würde, und wenn schon nicht zu Frieden, dann wenigstens zu einer Art von – was? Ruhe? Gelassenheit? Ergebenheit? Keines dieser Worte passte so recht. Sie schienen alle zu viel zu versprechen.

Bump und Sissy Bristol  – alte Freunde aus Santa Barbara – waren begeistert gewesen von ihren Plänen, sowohl was das Buch betraf als auch über den Ortswechsel, und hatten ihr ihren Zweitwohnsitz in Oak Knoll als Bleibe angeboten.

Die Bristols waren die Pateneltern ihrer Töchter und für Lance und Lauren so etwas wie ältere Geschwister. Bump spielte Jahr für Jahr den Weihnachtsmann für die Mädchen und war der Kotrainer ihrer Sportmannschaften. Sissy war die Modefee der Mädchen und ging mit dem größten Vergnügen mit ihnen zum Shoppen oder spendierte ihnen Besuche im Nagelstudio.

Bump hieß eigentlich Bob. Seinen Spitznamen hatte er seiner aggressiven Spielweise auf dem Polofeld zu verdanken  – dort hatte er sich auch vor Jahrzehnten mit Lance angefreundet, trotz der zwölf Jahre Altersunterschied. Später, als Lauren und Lance beide verheiratet waren, hatten sich ihre Kreise auch beruflich überschnitten. Bump war im Finanzgeschäft tätig, Lance war Architekt. Sie hatten oft dieselben Klienten gehabt. Sissy betrieb ein Antiquitätengeschäft in der Lillie Avenue in Summerland, südlich von Montecito. Lauren arbeitete freiberuflich als Inneneinrichterin.

Lance hatte den Umbau des Refugiums der Bristols in Oak Knoll geplant. Lauren hatte sie wegen ihres Zweitwohnsitzes aufgezogen, als sie Sissy bei der Inneneinrichtung half. »Ihr lebt im Paradies. Braucht man einen Rückzugsort vom Paradies?«

Santa Barbara war eine wunderschöne Stadt, ein Postkartenidyll, auf der einen Seite der Pazifische Ozean, auf der anderen eine Bergkette. Auf der Straße oder in den schicken Restaurants begegneten einem auf Schritt und Tritt Stars, die im benachbarten Montecito Villen besaßen. Im Sommer kamen Horden von Touristen. Dazu war Santa Barbara eine Stadt der Künste, der Festivals und Konzerte, sodass einem nie langweilig wurde.

Lauren hatte sich in Santa Barbara sehr wohlgefühlt. Sie und Lance hatten fast zwanzig Jahre dort gewohnt – ihr gesamtes Eheleben. Lance war dort aufgewachsen. Ihre beiden Töchter waren dort auf die Welt gekommen. Die Lawsons hatten dort als feste Größen im gesellschaftlichen Leben Ehrenämter in den Schulen übernommen.

Dort war Leslie entführt worden.

Zwei Jahre später war Lance auf einer Passstraße nördlich von Santa Barbara ums Leben gekommen.

Lauren konnte nicht mal im Supermarkt einkaufen, ohne angestarrt zu werden, ohne dass getuschelt wurde. Sie hatte sich immer wieder in den Lokalnachrichten und in den Zeitungen zu Wort gemeldet, damit der Fall ihrer vermissten Tochter nicht in Vergessenheit geriet. Jeder Ladenbesitzer in der Stadt kannte sie, weil sie ständig mit einem neuen Anschlagzettel ankam.

VERMISST.

ENTFÜHRT.

WER HAT DIESES MÄDCHEN GESEHEN?

Die Leute waren ihr aus dem Weg gegangen, zuerst weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten, dann weil sie nicht wussten, wie sie sie wieder loswurden. Im Laufe der Jahre waren sie ihrer überdrüssig geworden, wollten nichts mehr von dem Fall hören. Sie ertrugen das damit verbundene Mitleid oder die Schuldgefühle nicht mehr. Die Ratschläge, um die sie nie gebeten hatte, hatten sich von »lass dich nicht unterkriegen« zu »Zeit, wieder nach vorn zu schauen« gewandelt.

Selbst ihre besten Freunde hatten ihr dazu geraten. »Es ist schon so lange her, Lauren. Leslie kommt nicht zurück. Du musst loslassen.«

Die hatten gut reden, denn Leslie war nicht ihre Tochter.

Sissy und Bump hatten mehr Mitgefühl bewiesen. Sie hatten ihr das Haus in Oak Knoll angeboten und sie ermutigt, Santa Barbara für eine Weile zu verlassen. Aber vielleicht hatten auch die beiden sie nur loswerden wollen. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Welches Motiv sie auch gehabt haben mochten, Lauren war ihnen dankbar.

Das Haus stand am Ende einer Sackgasse, die wie ein Finger aus der Stadt ragte und zu den roten Hügeln im Westen wies. Eine ruhige, bunt gemischte Gegend. Die meisten Häuser in der Nachbarschaft waren schon älter und standen versteckt hinter wuchernden Bougainvilleen und Oleanderbüschen. Die Bewohner kümmerten sich um ihren eigenen Kram. Einer der Gründe, warum die Leute hier wohnten, war, dass keiner seine Nase in fremde Angelegenheiten steckte.

In dem Bungalow zwei Häuser links von ihnen lebte ein Bildhauer. Gegenüber züchtete ein älteres Hippie-Paar Gemüse im Garten, in dem auf einer Leine gebatikte T-Shirts hingen....

Erscheint lt. Verlag 1.4.2023
Reihe/Serie Tami Hoag Bestseller Thriller
Tami Hoag Bestseller Thriller
Übersetzer Andrea Stumpf, Gabriele Werbeck
Sprache deutsch
Original-Titel Down The Darkest Road
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte A.J. Finn • Cara Hunter • Caroline Link • Girl on a Train • Gone Girl • Jo Nesbo • Karen Rose • Kind • Paula Hawkins • Psychothriller • Rachel caine • The woman in the window • Tochter • Tod • Vermisst • verschwunden
ISBN-10 3-8412-3112-8 / 3841231128
ISBN-13 978-3-8412-3112-3 / 9783841231123
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