Freundliche junge Damen (eBook)

rororo Entdeckungen
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2023 | 1. Auflage
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01767-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Freundliche junge Damen -  Mary Renault
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Ein Hausboot auf der Themse in den schillernden Dreißigerjahren. Dort geht es um Freundinnen, Schwestern, die Liebe und das turbulente Leben. Unwiderstehlich unterhaltsam erzählt uns Mary Renault über Lebensentwürfe jenseits der Schubladen und Konventionen. «Freundliche junge Damen» ist ein charmanter und intelligenter Roman über Männer, Frauen und Freiheit - eine Wiederentdeckung der besonderen Art. Elsie ist behütet und naiv - und sie ist unglücklich. Die Eltern und das düstere Dorf im Cornwall erdrücken die Siebzehnjährige regelrecht, sodass es nicht verwundert, dass sie sich in den ersten präsentablen Mann verliebt: Peter. Der Arzt aus London rät ihr, von zu Hause abzuhauen und nach London zu ihrer Schwester Leonora zu gehen. Dort staunt Elsie nicht schlecht: Leo lebt auf einem Hausboot auf der Themse und schreibt Western, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und sie teilt Boot und Bett  mit einer Frau. Als Peter auf das Boot zu Besuch kommt und seine Aufmerksamkeit von einer freundlichen jungen Dame zur nächsten schweifen lässt, hat das für alle überraschende Folgen ...  Endlich auf Deutsch: Mary Renaults Roman ist ein moderner Klassiker und ein frühes Beispiel für Literatur mit LGBTQ-Themen. 

Mary Renault, geboren 1905 in London, besuchte die Oxford University, bevor sie eine Ausbildung zur Krankenschwester an der Radcliffe Infirmary in Oxford machte. Dort lernte sie ihre Lebenspartnerin Julie Mullard kennen. 1939 erschien Mary Renaults erster Roman. Nachdem sie den mit 25.000 Dollar dotierten MGM Prize für ihren Roman «Return to Night» gewonnen hatte, emigrierten sie und ihre Partnerin 1948 nach Südafrika, wo Renault 1983 starb. Bekannt war die Autorin vor allem für ihre historischen Romane aus der Antike, u.a. für die fiktiven Porträts von Sokrates, Plato oder Alexander dem Großen. 

Mary Renault, geboren 1905 in London, besuchte die Oxford University, bevor sie eine Ausbildung zur Krankenschwester an der Radcliffe Infirmary in Oxford machte. Dort lernte sie ihre Lebenspartnerin Julie Mullard kennen. 1939 erschien Mary Renaults erster Roman. Nachdem sie den mit 25.000 Dollar dotierten MGM Prize für ihren Roman «Return to Night» gewonnen hatte, emigrierten sie und ihre Partnerin 1948 nach Südafrika, wo Renault 1983 starb. Bekannt war die Autorin vor allem für ihre historischen Romane aus der Antike, u.a. für die fiktiven Porträts von Sokrates, Plato oder Alexander dem Großen.  Gertrud Wittich hat auf dem Sprachen- und Dolmetscherinstitut in München Englisch mit Zweitsprache Spanisch studiert. Sie liebt Bücher, die Oper, die Musik der Seventies und ausgedehnte Spaziergänge im Englischen Garten - wenn sie nicht in ihrer Schwabinger Dachwohnung, mit Blick ins Grüne, an Übersetzungen feilt. Magda Birkmann liebt es, ihre Begeisterung für Literatur zu teilen, erst als Buchhändlerin in der Berliner Buchhandlung Ocelot, nun als Zuständige für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Berliner Literaturhauses Lettrétage und als freiberufliche Literaturvermittlerin. Magda Birkmann war Mitglied der Jury für den Deutschen Buchpreis 2024. Nicole Seifert ist gelernte Verlagsbuchhändlerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie lebt in Hamburg und arbeitet frei als Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin. 2021 erschien bei Kiepenheuer & Witsch ihr Buch FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt, 2024 folgte "Einige Herren sagten etwas dazu". Die Autorinnen der Gruppe 47. Nicole Seifert ist gelernte Verlagsbuchhändlerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie lebt in Hamburg und arbeitet frei als Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin. 2021 erschien bei Kiepenheuer & Witsch ihr Buch FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt, 2024 folgte "Einige Herren sagten etwas dazu". Die Autorinnen der Gruppe 47.

1


Elsie blickte sich vorsichtig um, ohne ihren dünnen jungen Hals oder die rundlichen Schultern zu bewegen. Ihr Blick huschte zunächst zur Terrassentür, die in den Garten führte, dann maß sie die Distanz bis zur Wohnzimmertür. Sie tat es instinktiv wie eine Maus, hatte sich das angewöhnt, seit sie krabbeln konnte. Obwohl es ihr jetzt wenig nützte, denn die Wohnzimmertür befände sich direkt im Gesichtsfeld des Vaters, falls sie diesen Fluchtweg wählen wollte. Soeben sagte er: «Es sollte doch eigentlich dem Dümmsten klar sein – zumindest außerhalb dieses Haushalts –, dass …»

Die Eltern hatten ihre Sessel an den Kamin gerückt, denn es war erst März, und die Familie Lane verfügte über ein gemütliches Heim. Elsie hatte einmal im Schulunterricht gesagt, sie «finde Heizkörper schön», was ihren Ruf, ein wenig verschroben zu sein, nur weiter zementierte. An solche Heizkörper musste sie jetzt denken, während sie mit dem Polsterhocker, auf dem sie saß, diskret ein wenig abrückte, um, falls nötig, hinter dem Sessel der Mutter zur Terrassentür flitzen zu können.

Dabei fiel ihr ein, wie ihre große Schwester Leonora früher, als sie noch zu Hause gewohnt hatte, bei solchen Gelegenheiten immer mit drei raschen Sprüngen an der Tür gewesen war und sie hinter sich zugeschlagen hatte, ja halbwegs den Strand erreicht hatte, ehe jemand auch nur ein Wort hervorbrachte. Elsie war und blieb unfähig, ihrem Beispiel zu folgen. Genauso gut hätte sie sich Flügel wachsen lassen können. Immer war sie es gewesen, die zurückblieb und sich die giftigen Kommentare und Repliken anhören musste, während Leo längst zu Ted und Albert hinuntergelaufen war, die am Hafen in den kleinen Cottages der Küstenwächter wohnten und mit denen sie den ganzen Tag lang in den Höhlen unterhalb der Klippen nach Treibgut fahndete. Elsie hatte ihr Ted und Albert nicht geneidet, im Gegenteil, sie musste der Mutter zustimmen, die beiden waren ungehobelt und unpassend. Sowieso war das inzwischen so lange her, dass Elsie nur noch selten daran dachte, die große Schwester zu beneiden. Nein, jetzt, wo bloß noch sie übrig war, stand es ihr frei, eigene Methoden zu ersinnen. Leo, die früher sogar imstande gewesen war, den Streit der Eltern auch noch anzuheizen, wurde in diesem Hause nicht mehr erwähnt. Elsie dachte nur noch ganz selten an sie.

Die Mutter sagte gerade: «… so mit mir zu reden! In meinem eigenen Haus.» Jetzt oder nie, dachte Elsie, bevor die Mutter «und das vor meinem eigenen Kind» hinzufügen konnte, denn dann wäre es zu spät. Behutsam, als wollte sie den Schlaf eines geliebten Menschen nicht stören, klappte sie ihr Buch zu, klemmte es sich unter den Arm und erhob sich auf langen dünnen Fohlenbeinen, an denen warme Winterstrümpfe Falten warfen. Ihre Schuhe waren fleckig von den Salzspritzern des Meeres. Elsie war ein unauffälliges Mädchen, eine graue Maus, schreckhaft und nicht sonderlich intelligent. Fast konnte man meinen, dass sie Angst hatte, erwachsen zu werden, weil das unweigerlich Aufmerksamkeit auf sie lenken würde. Sie hatte sich eine Tarnung zugelegt, die sie unsichtbar machte. Nicht ganz, aber beinahe.

«Da siehst du, was du angerichtet hast», verkündete die Mutter triumphierend, «mit deiner ständigen üblen Laune und deinem Gepolter, Arthur. Jetzt hast du die arme Elsie vertrieben. Dabei hat sie kaum diese schlimme Erkältung überstanden.»

Der Vater, der sich hinter der Times verbarrikadiert hatte und seine Bemerkungen wie Handgranaten darüber hinwegwarf, riss die Zeitung herunter, was passenderweise ein dramatisches Rascheln hervorrief. Elsie, deren Haltung ohnehin schlecht war, sank über dem Türknauf noch mehr in sich zusammen, und der Ausdruck auf ihren noch ungeformten Gesichtszügen wirkte dümmlich-leer, fast blöde. Schon ging es wieder los, sie spürte es, schon krampfte sich ihr der Magen zusammen, Elsie wehrte sich nicht gegen Schuld und Scham, genauso wenig wie ein junger Afrikaner das Tabu infrage stellt, das er im Dunkeln angeblich übertreten hat. Bemüht fragte sie sich: Was hätte ich tun können, um es richtig zu machen? Aber sie war zu schwach und verfolgte den Gedanken daher nicht weiter. Was sich gerade abspielte, hatte sich so schon tausendmal abgespielt. Also starrte Elsie nur mit eingezogenem Kopf auf den rot gemusterten türkischen Teppich.

«Also, das übersteigt wirklich alles», brüllte der Vater. Er hob den Blick zum sepiafarbenen Burne-Jones an der Wand gegenüber, eine dürre Dame, die eine Lilie in der Hand hielt und deren verzweifelter Gesichtsausdruck Elsie ein Abbild ihres eigenen Zustands zu sein schien. «Reicht es denn nicht, dass ich hier tagein, tagaus euer Gemecker ertragen muss, ohne dass mir diese Zurschaustellung eines Martyriums auch noch angelastet wird?» Er pfefferte die Times auf den Boden. Elsies Blick fiel zufällig auf die Schlagzeile, jemand hatte offenbar die Liga verlassen. Abwesend fragte sie sich, welche Liga wohl gemeint sein mochte, Genf oder Fußball.

«Elsie», sagte der Vater, «komm her.»

Elsie, die sich an den Türknauf geklammert hatte wie an einen Rettungsanker, ließ diesen wohl oder übel los und schlurfte näher heran.

«Überlege bitte das nächste Mal, wenn deine Mutter dich wieder auf mich hetzt. Nur mal kurz nachdenken, das ist alles, worum dich dein Vater bittet. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder? Frag dich einfach, was wäre, wenn dein Vater, obwohl er im eigenen Haus wie ein Aussätziger behandelt wird, jawohl, wie ein Aussätziger», wiederholte er, «wenn dein Vater nicht trotz allem willens wäre, dich zu ernähren und dafür zu sorgen, dass du ein Dach über dem Kopf hast? Und Taschengeld? Überleg dir das bitte mal und versuch, deiner Mutter begreiflich zu machen, dass sie dasselbe tun sollte.»

Elsie war im Vorjahr ohne Abschluss von der Schule abgegangen. Ihre Hausarbeiten seien einfallslos und sie sei ständig unkonzentriert, war ihr von einer Lehrerin nach der anderen mitgeteilt worden, und sie sei sicherlich eine Enttäuschung für ihre Eltern; eine Prognose, die von den Zeugnissen leider immer wieder bestätigt wurde. Die sich daraus speisenden Schuldgefühle kamen noch zu jenen hinzu, die sie im Alltag ohnehin ständig empfand. Ja, es stimmte, wo wäre sie ohne ihn? Wie hypnotisiert sah sie sich mit schleppenden Schritten auf ein Fabriktor zugehen, eine Schiffermütze auf dem Kopf oder in ein Schultertuch gehüllt. Was das Aussehen der Fabrik betraf, musste sie wohl oder übel ihre Fantasie zu Hilfe nehmen, denn sie war noch nicht weit herumgekommen.

«Und, Elsie?», fragte der Vater herausfordernd.

Wenn so etwas geschah oder Elsie es vorausahnte, dann betete sie stets innerlich: «Bitte, lieber Gott, mach, dass ich wenigstens nichts sagen muss.» Die Zunge schien in ihrem Mund anzuschwellen. Vielleicht, wenn sie noch einen winzigen Moment abwartete …

«Arthur, wie kannst du das arme Kind nur so abkanzeln?», rief die Mutter mit schriller Stimme. «Ist es meine Schuld, dass sie deine Anwesenheit offenbar kaum noch ertragen kann? Mach dir nichts draus, Schätzchen, morgen, wenn dein Vater weg ist, machen wir es uns richtig schön, dann unternehmen wir was, nur wir beide.» Die Stimme der Mutter bebte.

Elsie rückte erneut in Richtung Türknauf vor und hielt sich daran fest. Wenn sie doch nur rechtzeitig etwas gesagt hätte. Sie wusste zwar nicht, was, aber irgendwas musste es doch geben. Jetzt hatte sie den Vater zornig gemacht und die Mutter zum Weinen gebracht.

«Eine solche Einstellung habe ich erwartet. Das ist die Art Gemeinheit, der ich hier täglich ausgesetzt bin. Irgendwann ertrag ich das nicht länger, und dann werdet ihr ja sehen. Eine Tochter ist bereits auf die schiefe Bahn geraten. Würde mich nicht wundern, wenn auch noch die zweite ihren Weg in die demi-monde findet.»

«Arthur.» Es war ein entsetztes Flüstern. «Wie gemein von dir. Wie kannst du nur so etwas sagen, noch dazu in Anwesenheit eines unschuldigen jungen Mädchens.» Die Mutter erhob sich, das Strickzeug an den Bauch gepresst. Elsie konnte sehen, wie ihr dabei ein paar Maschen von der Nadel rutschten, was alles noch schlimmer machte. Die Mutter schluchzte auf. «Hätte ich doch nur einen Sohn bekommen – nie würde er zulassen, dass man mich in meinem eigenen Hause derart beleidigt.»

«Hätte ich einen Sohn», brüllte der Vater, «dann könnten sich die Weiber in diesem Haushalt wenigstens nicht mehr gegen mich verschwören!»

Elsies Hand um den Türknauf wurde feucht. Eine Erinnerung war in ihr aufgestiegen, an das Schlimmste, was sie je in diesem Haus erlebt hatte. Zwar war es fast neun Jahre her, aber es kam ihr vor wie gestern. Elsie war damals noch so klein gewesen, dass sie sich unter Möbelstücken versteckt hatte, und sie war bei einer ähnlichen Gelegenheit gerade noch rechtzeitig unter den Tisch gekrochen. Leo jedoch hatte an der Tür gestanden, so wie sie jetzt. Sie war etwa im selben Alter gewesen wie Elsie. Elsie hatte von unter dem Tisch aus sehen können, wie sich das schmale, sonnenverbrannte Gesicht der Schwester unter dem zerzausten dunklen Haarschopf plötzlich verfinsterte. Man hatte den Eindruck gehabt, es befände sich ein dritter Erwachsener im Raum, noch viel beängstigender als die beiden anderen. Breitbeinig hatte Leo dagestanden, die Fäuste in die Taschen ihres schäbigen Tweedkostüms geschoben, und laut und deutlich gesagt: «Wenn ich ein Mann wäre, dann wäre ich längst nicht mehr hier. Und ich wünschte verdammt noch mal, ich wäre einer.» Die Stille, die daraufhin eingetreten war, ließ den vorherigen Sturm wie ein laues Lüftchen erscheinen. Und...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2023
Reihe/Serie rororo Entdeckungen
rororo Entdeckungen
Nachwort Nicole Seifert
Übersetzer Gertrud Wittich
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bisexualität • Coming of Age • Die Maske des Apoll • Dreißiger Jahre • Ein Weltreich zu erobern • Emanzipation • Englische Literatur • Englischer Roman • Feuer vom Olymp • Hausboot • Historische Romane • Klassiker • Lesbische Liebe • lesbische Romane • LGBTQ • LGBTQAI+ • Literatur von Frauen • London • Moderner Klassiker • Quell der Einsamkeit • Radclyffe Hall • Stella Gibbons • Unterhaltungsroman • Well of Lonelines • Wohlfühlroman
ISBN-10 3-644-01767-0 / 3644017670
ISBN-13 978-3-644-01767-2 / 9783644017672
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