Berlin, Siegesallee (eBook)
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01444-2 (ISBN)
Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane Die Farm (2014), Die Mauer (2016), Finsterwalde (2018) und Morduntersuchungskommission (2019) sowie zuletzt Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bei Rowohlt erschienen außerdem Illegal (2017), Der Hochsitz (2021) und Morduntersuchungskommission: Der Fall Daniela Nitschke (2022)
Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane Die Farm (2014), Die Mauer (2016), Finsterwalde (2018) und Morduntersuchungskommission (2019) sowie zuletzt Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bei Rowohlt erschienen außerdem Illegal (2017), Der Hochsitz (2021) und Morduntersuchungskommission: Der Fall Daniela Nitschke (2022)
2.
«Nun mach doch», sagte Theodor im Ausgang des Union-Lichtspieltheaters.
Florentine vom Baum sah ihren Bruder im Gegenlicht des späten Nachmittags. Auf dem Kurfürstendamm gingen Menschen auf und ab. Sie wünschte, es wäre schon Abend, weder wollte sie sehen, was sich draußen abspielte, noch von irgendjemandem gesehen werden.
Schon gar nicht gesehen werden.
Theodor kam ihr entgegen. «Was ist?», fragte er. «Du weinst ja.»
Florentine wischte sich durch die Augen. «Ich weine nicht.» Dann richtete sie den Rock und verließ mit ihrem Bruder das Foyer.
Mit einer Handbewegung stoppte Theodor eine Pferdedroschke. «Steglitz», sagte er nur. Florentine ließ sich von ihm auf die Sitzbank helfen und blickte ihn an, als er sich neben sie schwang. «Wir hätten auch eine Motordroschke nehmen können.»
«Sicherlich», sagte er. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort. «Doch wer weiß, wie lange man sich noch für diese Art des Transports entscheiden kann. Bei all den Kraftdroschken, die es schon gibt in Berlin. Nenn es Nostalgie.»
Sie hatten den Asta-Nielsen-Film «Die Suffragette» geschaut. Einige von Florentines Freundinnen redeten schon darüber, ohne ihn überhaupt gesehen zu haben. Der Film war für Jugendliche verboten, weil er zeigte, wie Asta Nielsen eine Bombe im Haus eines Politikers versteckte. Und aus anderen Gründen auch. Emilie, die eigentlich gar nicht Emilie hieß, sondern sich nur so nannte, weil sie nicht mehr Katharina gerufen werden wollte, wusste sogar, dass der Film in München die wichtigsten Szenen gar nicht zeigte. Sie waren einfach herausgenommen worden von den Behörden.
Vater hatte von ihrem Plan erfahren und Theodor mitgeschickt. Zuerst war sie empört gewesen, hatte es aber nicht gezeigt. Dann hatte sie die Vorteile dieser Entscheidung gesehen und sich gefügt. Sie war kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag und somit gar nicht befugt, den Film zu sehen. Ihr Bruder hingegen, auch nur drei Jahre älter, aber mit einem markanten Vollbart ausgestattet, würde Florentine ohne weitere Probleme in den Kinosaal bringen.
«Wie bitte?», fragte sie zerstreut. Die Pferdedroschke war gerade auf die Konstanzer Straße abgebogen.
«Wo du nur wieder bist mit deinen Gedanken.» Theodor schüttelte den Kopf so heftig, dass sich der wilde Bart im Fahrtwind bewegte. «Und es ist doch alles gut ausgegangen, nicht wahr.»
Florentine musste den Bruder mit seltsamem Blick begegnet sein, denn er hob die Schultern und sagte: «Der Film. Der hatte doch ein schönes Ende.»
Im letzten Bild war Asta Nielsen von vier kleinen Kindern umgeben – und neben ihr stand der Politiker, den sie beinah mit der Bombe getötet hatte. Florentine war sich nicht ganz sicher, ob sie das Ende tatsächlich schön fand, wie Theodor es nannte. Sie war sich auch nicht sicher, ob sie vier Kinder haben wollte. Oder ob sie überhaupt welche bekommen wollte. Emilie hatte das in der vergangenen Woche einmal leise flüsternd erzählt. «Stell dir das nur einmal vor», hatte sie gesagt, als sie zum Tee zu Besuch war. Und dann hatte sie sich umgeblickt. Denn was es zu sagen gab, musste niemand mithören. «Stell dir vor, du könntest allein entscheiden.» Und bevor Florentine die Zeit gefunden hatte, nachzufragen, was sie damit meinte, hatte Emilie es schon erklärt. Und sie hatte, nicht zum ersten Mal, eine ganze Reihe von Ideen aufgezählt, über die sie schon lange nachgedacht hatte. Dass Frauen wählen durften, gehörte sowieso dazu. Jetzt redete sie zum ersten Mal auch über Kinder. «Stell dir also vor, dass du das selbst entscheidest, ob du welche haben willst oder nicht.»
«Aber dann will mich vielleicht niemand heiraten.» Florentine hatte gewusst, dass der Satz Emilie nicht gefallen würde. Sie bereute ihn auch umgehend. Dabei hatte sie doch schon tatsächlich zwei Angebote abgelehnt, hinter denen, wie sie vermutete, eher der Vater gestanden hatte als die beiden Herren, die um ihre Hand angehalten hatten.
Emilie, die von ihrer Familie nach wie vor Katharina genannt wurde, war aber auch mutig. Auf den dummen Satz antwortete sie erst gar nicht, sondern goss sich noch eine Tasse Tee ein. Sie hatte sich vor ein paar Monaten mit einem Mittel, das im Garten gegen Ungeziefer eingesetzt wurde, die Kopfhaut eingerieben, bis sie Blasen geworfen hatte. Der einzige Weg, die aufgetretene Krankheit zu kurieren, hatte darin bestanden, zunächst einmal das lange blonde Haar abzuschneiden. Und das war das Ziel der Operation gewesen. Die Kopfhaut war dann auch schnell wieder geheilt. Aber die Haare waren weg. Und seitdem wuchsen die Haare auf Emilies Kopf nicht mehr wirklich nach.
Florentine hatte den Eindruck, dass ihre Freundin es schaffte, mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Schere an ihre Frisur anzusetzen, die seit Längerem knapp unter dem Ohr endete.
«Mir hat nicht gefallen», sagte Florentine und blickte Theodor in die Augen, denn das war nun eine ernsthafte Diskussion, «dass die Suffragetten so …», sie musste überlegen, welches Wort ihr hier passend erschien, «so garstig sind. Sie wollen doch nur das Gute für die Frauen.»
Die kurz erhobene Hand, die lieblos Luft verdrängt in ihre Richtung, war etwas, das sie gut kannte von Theodor. Als er gerade lesen gelernt hatte, hatte er damit begonnen, so auf die kleine Schwester zu reagieren. Er wusste es besser. Wie hier und heute. «Das kannst du doch nicht ernst nehmen. Florentine.»
Dann atmete er tief ein und überlegte, wie er fortfahren sollte. Sie versuchte erst gar nicht, ihn davon abzuhalten. Zu deutlich war die Einleitung gewesen. Auch das war ihr wohlbekannt. Es war eine Frage der Satzzeichen. Eine der gesprochenen Satzzeichen. Weniger schwerwiegend wäre gewesen, wenn er in einem Fluss gesagt hätte: «Das kannst du doch nicht ernst nehmen, Florentine.» Mit einem im Sprachverlauf ausgesprochenen Komma. Dann hätte er ohne längere Pause schnell weitergeredet, um eine alltägliche Argumentation auf alltägliche Weise hinter sich zu bringen.
Hier hatte Theodor aber einen Punkt gesprochen.
Punkt. Florentine. Punkt.
Es war tatsächlich eine Frage der Satzzeichen. Nach dem Satzende musste ihr Name dann umso deutlicher intoniert werden. Flo-Ren-Ti-Ne. Mit dem gezogenen und ins Laute wachsenden Vokal in der dritten Silbe. Das hatte er so gemacht, seit er zehn, elf Jahre alt war. Anderen gegenüber hatte er diese Angewohnheit abgelegt, er war allgemein aufgeschlossen und höflich, in ihrer Anwesenheit allerdings benahm er sich immer noch wie der Elfjährige. Jetzt holte Theodor tief Luft.
«Schau mal», sagte er. Auch das kannte sie. «Schau mal. Das ist Kintopp. Das kannst du doch beim besten Willen nicht als seriöse Kunst wahrnehmen. Nichts, aber auch gar nichts daran hat Bestand. Hast du gesehen, wer da so alles im Publikum saß? Na also. Für die einfachen Leute wird das gemacht. Und das ist nicht ganz ungefährlich, wenn ich das sagen darf.»
Die Pferdedroschke hielt vor der vom-Baum’schen Villa. Theodor bemerkte es kaum. «Vater ist übrigens auch der Meinung. Deshalb hat er mich ja gebeten, dich zu begleiten. Erstens kann man nie wissen, was passiert, wenn die Leute, die nicht über so viel Bildung verfügen wie wir, diesen aufwieglerischen Ideen ausgesetzt sind.»
«Aber …» Weiter kam sie nicht. Aufwieglerisch war doch gar nichts an dem Film, hatte Florentine sagen wollen. Schließlich waren die Suffragetten im Film als geradezu lachhaft verbissene Gestalten dargestellt worden, was sie als ungerecht empfand. Warum taten die Leute das, die so einen Film herstellten?
«Jetzt rede ich, liebe Schwester», sagte Theodor recht barsch. Man war angekommen, und der Droschkenkutscher drehte sich schon herum in Erwartung seiner Bezahlung. «Was wir da gesehen haben, ist ja nichts Natürliches in dem Sinne, dass dort nachvollziehbares menschliches Verhalten gezeigt wird. Diese Suffragetten, das wirst du nicht bestreiten, haben sich der Weibernatur ja geradezu krampfhaft entfremdet. Man findet immer wieder einmal eine, über deren Verhalten man sich nur wundern kann. Du kennst ja die Frau von dem Fabrikanten von Tötingen, man sieht sie nicht oft, aus guten Gründen, und bei ihr sagt man auch, dass sie immer wieder Phasen hat, in denen sie wirklich umnachtet erscheint. Aber was wir eben vorgeführt bekommen haben, geht ja weit darüber hinaus. Das war doch eine ganze …»
Theodor suchte nach dem passenden Begriff, worüber sich Florentine freute. Das kam immer häufiger vor, wenn er sie belehrte. Sie nahm es als ein gutes Zeichen, dass er sich dabei mehr und mehr anstrengen musste.
«… eine ganze Schar, nein, ich verbessere mich: eine Bande von Weibern, die sich so aufspielt. Und da frage ich dich: Warum sollten Frauen so handeln? Schon gar welche, deren Leben in einem gut situierten Milieu stattfindet. Siehst du, das entspricht nicht dem, was man erwarten kann. Und.»
Auch dies wieder eine Frage der Satzzeichen. Das und beinah gebellt, darauf Pause.
«Und!!!», wiederholte Theodor. «Und das ist das Wichtigste. Es liegt einfach nicht in der Natur der Frauen, sich so aufzulehnen. Du musst aus der Geschichte lernen. Wann wäre so etwas je geschehen? Siehst du. Wenn es natürlich wäre, dann hätte es längst und oft stattgefunden.»
Der Kutscher räusperte sich kaum hörbar, aber so, dass Theodor nicht umhinkam, es zu bemerken. Er zog eine Münze aus dem Jackett, reichte sie nach vorne, kletterte vom Wagen und bot Florentine die Hand. Sie stützte sich allerdings auf die Seitenwand der Droschke und sprang so hinab, dass sie mit beiden Füßen zugleich auf dem Boden ankam. Ohne den Bruder anzuschauen, dessen Augen sie freilich...
Erscheint lt. Verlag | 30.1.2024 |
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Zusatzinfo | Mit 1 s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alternative Geschichte • Berlin • Berliner Stadtschloss • Deutscher Krimi • Deutscher Krimipreis • Deutsches Kaiserreich • Erster Weltkrieg • Gerechtigkeit • Historischer Kriminalroman • Kaiserreich • Kolonialismus • Kolonialverbrechen • Krimi • Krimibestenliste • Kriminalroman • Krimi neuerscheinung 2023 • literarischer Kriminalroman • Neuerscheinung 2023 • Rassismus • Romane 2023 • Romane Neuerscheinung • spannender Roman • Thriller |
ISBN-10 | 3-644-01444-2 / 3644014442 |
ISBN-13 | 978-3-644-01444-2 / 9783644014442 |
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