Ein Hof und elf Geschwister (eBook)
192 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-79718-7 (ISBN)
Ewald Frie wurde 1962 als neuntes von elf Kindern einer katholischen Bauern- familie im Münsterland geboren. Er ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bei C.H.Beck erschien von ihm außerdem der Bestseller «Die Geschichte der Welt».<br>
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1 •
Familie, Bauerschaft und Dorf
Elf Geschwister
Zweimal haben meine Eltern einen Fotografen beauftragt, ihre Familie ins Bild zu setzen. 1947 präsentieren sie in dunkler Festtagskleidung ihre beiden Ältesten. Glücklich wirkt die junge Familie nicht, eher pflichtbewusst und auch ein wenig angestrengt. Nur der kleine Kaspar fällt aus dem Rahmen mit seinem neugierigen, erwartungsfrohen Blick. Vielleicht sieht er aber auch nur schlecht, er wird zeitlebens eine Brille tragen müssen.
1960 präsentiert sich eine Großfamilie: Hermann, der zukünftige Hoferbe, 1944 geboren, wirkt dreizehn Jahre nach seinem ersten Familienbild beinahe erwachsen. Kaspar (geboren 1946) trägt ebenfalls schon Krawatte, hat aber eine andere Rolle. Er verbrachte die zweite Hälfte der 1950er-Jahre in einem katholischen Internat, lernte Latein und Griechisch und kam nur in den Ferien nach Hause. Wilhelm (geboren 1948) in Jackett und kurzen Hosen steht mit seinen zwölf Jahren am Ende der Kindheit. Er wirkt fast finster entschlossen. Mechthild (geboren 1950) hat ihren Platz ziemlich in der Mitte des Bildes gefunden. Sie weiß um ihre besonderen Aufgaben als älteste Tochter. Diese vier werden nachher von den Jahren meines Vaters berichten, die ihre Kinderjahre waren. 1960 waren sie aber nicht mehr allein. Katharina (geboren 1954) sieht stolz ihrer Einschulung entgegen. Gregor (geboren 1956) und Paul (geboren 1958) in Kleinkindpluderhosen orientieren sich an ihrer Mutter. Diese drei vor allem werden in der Mitte des Buches von den Jahren meiner Mutter erzählen, die ihre Kindheit prägten.[1]
• Die Familie 1947
Ein drittes professionelles Familienportrait gibt es nicht. Letztmals kam 1968 ein Fotograf ins Haus, als meine Eltern Silberhochzeit feierten. Er lichtete die Festgesellschaft ab, und zusätzlich auch mich, ganz allein. Ich hatte den Fototermin verpasst und danach so lange und hemmungslos geweint, bis der Fotograf erneut erschien und ein Bild von mir vor unserem Bauernhof schoss. Leider hat es sich nicht erhalten. Als ein Jahr später meine kleine Schwester Martina geboren wurde, hatte das Fotografieren bei uns gerade den Alltag erreicht. Die meisten Bilder waren farbig, die Welt wurde bunt. Noch aber beherrschte die Technik nicht jeder. Auf dem dritten Familienbild, das erst- und letztmals unsere Eltern und elf Kinder zeigt, drängen sich alle Personen in der linken Bildhälfte vor dem Haupteingang unseres Hofes zusammen. Kaspar und Gregor haben es nur knapp und teilweise ins Bild geschafft. Dafür zeigt die rechte Seite Büsche. Zu ändern war das nicht. Fotografie war analog und kostete Geld. Es gab daher nur einen Versuch. Als das Bild Wochen später aus dem Fotoladen kam, war es zu spät für eine Wiederholung.
• Die Familie 1960
Die hintere Reihe des Fotos zeigt Männerköpfe. Wilhelm erneut rechts außen, diesmal aber erwachsen und zuversichtlich. Daneben der Hoferbe Hermann, Vater und eine Gesichtshälfte von Kaspar. In der Mitte halten drei Frauen das Bild und die Familie zusammen. Mutter präsentiert die Hauptattraktion des Tages. Katharina ist den beiden am nächsten, sie wird an diesem Tag zur Patin von Martina. Mechthild hält Matthias, den Zweitjüngsten (geboren 1966), auf dem Arm, dessen Patin sie drei Jahre zuvor geworden war. Vorn sind die jüngeren, aber schon selbständigen Geschwister. Gregor ist nicht nur gleich alt wie Wilhelm auf dem letzten Bild, sondern hat auch dessen trotzige Haltung und die etwas unentschiedene Kleiderwahl übernommen. Paul scheint seine kleine Schwester Anna (geboren 1961) zur Seite schieben zu wollen, die aber mit mir (geboren 1962) im Vordergrund bleibt. Wir zwei haben ebenso wie die beiden Jüngsten die Jahre meines Vaters nicht mehr bewusst erlebt. Die Jahre meiner Mutter und der Auszug sind die Themen, zu denen wir uns nachher äußern werden.
• Die Familie 1969
Überinterpretiere ich das Bild, wenn ich eine Mischung aus Freude und Erleichterung in den Gesichtern vor allem der Frauen entdecke? Unter den großen Geschwistern hatte es Unbehagen und auch Sorge wegen der immer neuen Schwangerschaften meiner Mutter gegeben. War das verantwortbar? Zeitgemäß? Doch nun war Martina da. Dass alle überlebenden Kinder gesund geboren und aufgewachsen sind, hat Mutter in Gesprächen immer wieder als großes Glück bezeichnet.
Als Martina getauft und das Foto geschossen wurde, waren wir laut amtlicher Statistik keine Familie. Ihren Kriterien folgend sind wir nie eine Familie mit elf Kindern gewesen, denn die Statistik zählt nur ortsanwesende Kinder eines Elternpaares. Nie aber haben alle elf Kinder gleichzeitig an einem Ort gewohnt. Kaspar und Wilhelm teilten sich 1969 bereits eine Studentenwohnung in Münster. Immerhin aber haben wir von 1969 bis 1971 den Heiligen Abend gemeinsam am Herdfeuer und im Besten Zimmer unseres Bauernhofes gefeiert. Dreimal waren elf Kinder und ihre Eltern in Gesang und Gebet vereint. Dann heirateten Hermann und Mechthild. Sie feierten nun für sich. Die anderen Kinder würden das nach ihrer Heirat ebenfalls tun. Allmählich nahm die Kinderzahl am Heiligen Abend wieder ab.
Meine Mutter rettete die Familie mit dem Heiligenkalender. Am ersten Sonntag nach Weihnachten wird seit der Liturgiereform 1969 in der Katholischen Kirche das Fest der Heiligen Familie gefeiert. An ihr orientierten wir uns, trotz unserer ungleich höheren Kinderzahl. Am Fest der Heiligen Familie kamen alle Kinder mit ihren Kindern bei meinen Eltern zusammen. Es gab Kuchen, anschließend einen Spaziergang. Dann wurden die Kerzen am Weihnachtsbaum entzündet und so viele Weihnachtslieder aus dem katholischen Gebetbuch gesungen wie eben möglich. Enkelkinder trugen Gedichte und Lieder vor. Das Abendessen war ebenso wie der Kuchen am Nachmittag eine Gemeinschaftsproduktion der Gäste. Anschließend bildeten sich Gesprächs- und Doppelkopfgruppen. Um Mitternacht löste sich das Fest auf. Wer noch zu Hause wohnte, spülte nun eine Weile Geschirr. Eine Spülmaschine gab es nicht. Irgendwann am Spätnachmittag wurde meist ein Foto der Weihnachtsgemeinschaft geschossen, mit immer mehr Enkelkindern darauf. Ein Bild der Geschwister allein, wie noch 1969, kam erst nach dem Tod meiner Eltern wieder zustande. Bis dahin verstanden wir uns als immer weiter wachsende Großfamilie, nicht als Geschwistergruppe.
Meine Eltern hatten ihre Geschwister nie in vergleichbaren Konstellationen getroffen. Die Eltern meines Vaters und der Vater meiner Mutter waren früh gestorben. Die Geschwister besuchten sich gegenseitig. Sie machten anlässlich von Namenstagen, die im katholischen Münsterland wichtiger waren als Geburtstage, «Visiten». Seit das Auto in den 1950er-Jahren das Pferd ersetzt hatte, begannen Visiten mit dem Nachmittagskaffee. Tagelang waren zuvor Torten gebacken worden. Das Regiment in unserer Küche übernahm Tante Irene aus dem Dorf, in den 1950er-Jahren assistiert von ein oder zwei «Stützen», jungen Frauen, die bei uns wohnten und meiner Mutter im Haushalt halfen. «Da wurde sozusagen Hof gehalten», erinnert sich Katharina an den Aufwand, den sie als Kind noch miterlebt hat. Nach dem Kaffee gingen die Männer in den Stall oder auf die Wiese. Kühe wurden begutachtet, ihr Aussehen, ihre Milchleistung und ihre Vorfahren verglichen. Die Perspektiven von Rindern und Kälbern wurden diskutiert und mit ihnen die Zukunft des Hofes. Tagelang waren meine älteren Geschwister vor der Visite damit beschäftigt gewesen, Ställe auszumisten, Stallfenster zu putzen und Gänge zu schrubben. Am Mittag waren die Kühe ein letztes Mal gereinigt und gebürstet worden. Der äußere Eindruck zählte bei Bauern und Rinderzüchtern, auch wenn sie Brüder und Schwäger waren. Einzige Ausnahme war die Familie der ältesten Schwester meines Vaters. Als Einzige im Geschwisterkreis meiner Eltern hatte sie mehr als die Volksschule besucht und eine Zeitlang jenseits der Landwirtschaft gegen Geld gearbeitet. Sie hatte einen Lehrer und späteren Schuldirektor geheiratet. Der wohnte in der Stadt, ging in den Zoo und interessierte sich für Tiere aus Afrika, wenn sie von Professor Grzimek und anderen in Radio und Fernsehen vorgestellt wurden. Er wusste nichts über Rinder und wollte möglicherweise auch nicht allzu viel darüber wissen. Meine Tante erschien irgendwann ohne ihn zur Visite, was alle Männer vernünftig gefunden haben dürften.
Meine Mutter ging derweil mit Schwestern und Schwägerinnen durch den Garten. Von seinen Erträgen lebten wir bis in die 1960er-Jahre. Fleisch kam von...
Erscheint lt. Verlag | 16.2.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
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Schlagworte | 20. Jahrhundert • Ausbildung • Bauern • Bauernhof • Deutschland • Eltern • Erbe • Familie • Fünfzigerjahre • Geschichte • Hofübergabe • Kinder • Kirche • Knochenarbeit • Landwirtschaft • Nachkriegszeit • Religion • Sechzigerjahre • Selbstversorgung • Siebzigerjahre • Viehmärkten |
ISBN-10 | 3-406-79718-0 / 3406797180 |
ISBN-13 | 978-3-406-79718-7 / 9783406797187 |
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