Morgen ist ein neuer Tag (eBook)
480 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-29022-1 (ISBN)
Inmitten der 68er-Bewegung machen sich die Schwestern Lilly und Franzi Vordemfelde auf in eine abenteuerliche Zukunft. Beide könnten unterschiedlicher nicht sein: Lilly arbeitet beim Unterhaltungsfernsehen, wo sie Glanz und Glamour liebt. »Einer wird gewinnen«, »Spiel ohne Grenzen«, »Der goldene Schuss«, überall ist sie dabei. Franzi ist politisch engagiert: Das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Studierendenproteste, der Mord an Benno Ohnesorg, all das erschüttert sie zutiefst und motiviert sie, mit dem modernen Medium Fernsehen die Welt zu verändern. Doch wie schon ihrer älteren Schwester Eva stehen ihnen die Fesseln ihrer Zeit im Weg - und nicht zuletzt ihr Vater, der solche Umtriebe gar nicht gerne sieht. Wieder müssen die Frauen der Familie Vordemfelde kämpfen. Für die Freiheit, für ihr Glück - und die Menschen, die sie lieben.
Beate Sauer wurde 1966 in Aschaffenburg geboren. Sie studierte Philosophie und katholische Theologie in Würzburg und Frankfurt am Main. Sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Bonn.
Kapitel 1
Ende April 1967
Im Flur des kalifornischen Filmstudios Paramount atmete Eva ein paarmal tief durch, um ihr heftig pochendes Herz zu beruhigen. Mittlerweile hatte sie schon oft ihre Entwürfe für Filme oder Theaterstücke präsentiert. Dennoch war sie immer wieder aufgeregt, als sei sie ein Neuling und keine gefragte Kostümbildnerin, deren Name regelmäßig im Abspann von großen Hollywoodfilmen erschien. Ein letztes Durchatmen, dann betrat sie den Besprechungsraum.
Dort hatte sich inzwischen schon das Filmteam versammelt – der Regisseur Derek Linklater, die Kameraleute, der Szenenbildner, die Beleuchter und die Maskenbildnerin.
»Hi, Eva.«
»Hi, Derek!«
Sie tauschte angedeutete Wangenküsse mit der Filmcrew aus, schüttelte Hände. Nach einigen Minuten gut gelaunten Small Talks klopfte der Regisseur vernehmlich auf den Tisch. »Dann wollen wir mal. Eva, wenn du bitte …?«
»Natürlich.« Sie nickte. Erwartungsvolle Stille legte sich über den Raum, während sie den Vorhang an der Längswand beiseite zog. Ihre großformatigen Zeichnungen wurden sichtbar, Stoffproben waren daran angeheftet. Am Morgen hatte Eva sie zusammen mit ihrer Assistentin auf Staffeleien aufgestellt. Es waren Kostümentwürfe für ein Melodram, das Anfang des Jahrhunderts in der glitzernden High Society von New York spielte, wo sich eine Hochstaplerin ihren Platz in der feinen Gesellschaft erkämpfte, beinahe ihre große Liebe verlor und schließlich, nach einer inneren Läuterung, doch ihr Glück fand.
Eva deutete auf eine Zeichnung, und bemüht, sich ihre Anspannung nicht anmerken zu lassen, lächelte sie in die Runde. »Dieses Kleid trägt Fanny, unsere junge Heldin, in ihrer ersten Szene. Angeblich ist sie eine reiche, verwitwete englische Adelige. Sie steht vor dem Spiegel in ihrem Haus an der vornehmen Upper East Side, überprüft, ob an ihrem Aussehen auch alles korrekt ist. Ihr Kleid im Stil der Jahrhundertwende mit der eng geschnürten Taille, der kurzen Schleppe und dem betonten Gesäß habe ich in eleganten Grautönen gehalten. Das Grau steht für die Armut, der unsere Heldin unbedingt entfliehen will, aber auch für ihr zu Beginn des Films kühl taktierendes Wesen. In vielen Szenen wird Fanny deshalb kühle Töne tragen.« Eva deutete auf einige andere Zeichnungen, ehe sie neben eine weitere Staffelei trat. »Dies hier ist das Kostüm, in dem sich Fanny in den männlichen Helden verliebt. Ich habe grauen Samt dafür gewählt, es mit duftiger Spitze am Ausschnitt und an den Ärmeln versehen und eine Schärpe in einem warmen Rotton hinzugefügt. Als Sinnbild für die tief in ihr verborgene, weiche Seite.«
»Das Kostüm für den ersten Auftritt der Heldin ist aus Seide?«, vergewisserte sich Derek Linklater und zündete sich eine Zigarette an.
Eva nickte. »Ja, natürlich. Seide ist ja, anders als Samt, ein kühles Material und unterstreicht so ebenfalls ihren Charakter.«
»Gut. Wie denkst du, wirken die Kostüme mit ihrer schmalen Silhouette in den prächtigen Räumen der Upper East Side?«, wandte sich Linklater an den Szenenbildner.
Dieser gab seine Einschätzung ab, er sah keine Probleme. Doch Linklater wünschte sich Änderungen an den Ballkleidern, sie sollten üppiger ausfallen. Eva widersprach, in ihren Augen war Fanny eine Frau, die genau wusste, was sie wollte, und die keinen Sinn für verspielten Zierrat hatte. In den folgenden Minuten entspann sich darüber eine lebhafte Diskussion mit Linklater und der Filmcrew. Eva machte sich Notizen zu den Kostümen, akzeptierte Argumente, beharrte bei anderen auf ihrem Standpunkt.
Nach etwa zwei Stunden intensiven Austauschs klatschte Linklater in die Hände und verkündete, dass es Zeit für eine Pause sei.
Eva vermerkte neben einer Zeichnung, dass die Farbe des Nachmittagskleids türkisblau sein sollte, statt wie bisher stahlblau, passend zu den Farben eines vornehmen Salons, in dem eine wichtige Szene spielte. Sie liebte diesen Austausch mit dem Team, liebte es, wenn aus unterschiedlichen Meinungen etwas Neues, Besseres entstand. Bald darauf folgte sie der Crew in die Kantine.
Der lichtdurchflutete Raum war modern, wie das ganze Gebäude. Vor der Fensterfront streckte der Goldmohn seine gelben und orangefarbenen Blüten der Sonne entgegen. Auch die üppigen Mariposa-Lilien blühten schon. Ihr Duft und das salzige Aroma des nahen Pazifiks wehten durch ein geöffnetes Fenster und mischten sich mit dem Geruch von Kaffee, getoasteten Bagels und Sandwiches. Weiter unten am Hang wuchsen Palmen und Zypressen. Pinien breiteten ihre Äste über weißen Villen aus. Da und dort leuchtete das Blau von Swimmingpools inmitten der grünen Vegetation.
Eine Gruppe von Menschen näherte sich jetzt der Kantine, darunter ein breitschultriger Mann Mitte dreißig, dessen braun gebrannte Haut mit seinen blonden Haaren kontrastierte. Ihn zu sehen, zauberte Eva ein Lächeln aufs Gesicht. Seit ein paar Monaten waren sie und der Kameramann Jeremy Rodgers, der gerade für das Filmstudio eine Gesellschaftskomödie drehte, ein Paar. Als hätte Jeremy ihren Blick gespürt, schaute er in ihre Richtung und winkte ihr zu. Wie schön, dass sie für den Abend verabredet waren! Über eine Woche hatten sie sich, jeder eingespannt in seine Arbeit, nicht mehr getroffen.
In Gedanken bei Jeremy, dem geplanten Essen in einem Restaurant am Meer und dem anschließenden Spaziergang am Strand, ging Eva zur Theke und wählte einen Kaffee und ein Käsesandwich.
In dem großen Fernseher an der Stirnwand der Kantine ertönte die Fanfare einer bekannten Nachrichtensendung. Eva bezahlte und wollte sich zu Linklater und ihren Kollegen gesellen, als sie den Sprecher ein Wort sagen hörte, das ihr trotz des amerikanischen Akzents bekannt vorkam. Unwillkürlich wandte sie sich dem Fernseher zu. Jetzt wiederholte der Sprecher es, er sagte »Adenauer«. Was war mit dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler? Eva ging, ihr Tablett in den Händen, näher an den Fernseher heran.
»Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde der am 19. April verstorbene frühere Kanzler der Bundesrepublik Deutschland im Kölner Dom aufgebahrt«, sagte der Nachrichtensprecher gerade.
Gebannt starrte Eva auf den Bildschirm. Sie war so in ihre Arbeit versunken gewesen, dass sie von Adenauers Tod überhaupt nichts mitbekommen hatte, obwohl seither schon fast eine Woche vergangen war. Der Kanzler, der die Geschicke der jungen Bundesrepublik und auch ihre eigene Jugend geprägt hatte, war nicht mehr am Leben!
Auf dem Bildschirm erschien die schwarz-weiße Aufnahme der mächtigen Kathedrale vor einem wolkenverhangenen Himmel, dann weitere Bilder vom Kölner Dom, nun bei Nacht. Ein Sarg wurde, begleitet von einem Fackelzug, durch das Portal getragen. Innenaufnahmen folgten. Eine lange Menschenschlange zog an dem vor dem Altar aufgestellten Sarg vorbei, die Mienen ernst und betroffen, viele tupften sich mit Taschentüchern über die Augen. Ein Schnitt. Soldaten mit Stahlhelmen auf den Köpfen hielten die Totenwache.
Die Kantine der Paramount, das Filmteam an den Tischen, die üppige Vegetation vor den Fenstern – all das nahm Eva nicht mehr wahr. Stattdessen blitzten Bilder in ihrem Gedächtnis auf: das Kanzleramt, ein klassizistisches, weißes Gebäude in Bonn, oberhalb des Rheins. Die Pressebaracken am Rand des Regierungsviertels, dort arbeitete der Vater als leitender Redakteur des Bonner Studios. Ihr Heim im Bonner Süden mit den grünen Fensterläden, inmitten eines Gartens – ein knappes Jahr hatte Eva dort mit ihrer Familie gelebt. Der moderne Bau des WDR am Wallrafplatz in Köln, hier war sie als Sekretärin tätig gewesen, ehe sie sich endlich ihren großen Traum, Kostümbildnerin zu werden, erfüllen konnte. Und auch das Bild von einem jungen, attraktiven Redakteur mit einem selbstironischen Lächeln erschien vor ihrem inneren Auge, Paul, ihre große Liebe und seit vier Jahren ihr geschiedener Mann.
Der heiße Kaffee, der über ihre Hand schwappte, brachte Eva wieder in die Gegenwart zurück. Sie hatte das Tablett schief gehalten.
»Mist«, murmelte sie, und doch wanderten ihre Augen wieder zu dem Fernseher. Die Kamera richtete sich jetzt auf die Staatsgäste, unter ihnen der amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson und das französische Staatsoberhaupt Charles de Gaulle. Dann war ein Schiffskonvoi auf dem nebligen Rhein zu sehen, dahinter die düsteren Hänge des Siebengebirges, die Bergkuppen von tief hängenden Wolken verhüllt. Eine Fliegerstaffel donnerte über den Himmel.
»An der Spitze von sechzehn Begleitbooten der deutschen Armee wurde der Sarg des früheren Kanzlers gestern den Rhein hinab zu seiner letzten Ruhestätte auf dem Friedhof von Rhöndorf in der Nähe von Bonn geleitet«, erläuterte der Nachrichtensprecher. Es war seltsam, die deutschen Orte mit einem amerikanischen Akzent ausgesprochen zu hören, es verstärkte in Eva das Gefühl der Unwirklichkeit. »In seinem Heim in Rhöndorf verstarb der große Staatsmann friedlich im Beisein von Familienangehörigen. Bis zu seinen letzten Lebenstagen war er politisch aktiv. Staatsgäste aus aller Welt würdigten ihn voller Respekt und Wertschätzung.«
»Eva, ist alles in Ordnung mit dir?« Linklater war zu ihr getreten und berührte sie am Arm.
»Ja.« Sie bemühte sich um ein Lächeln. »Ich bin nur ganz überrascht vom Tod Konrad Adenauers.«
»Hast du die letzten Tage auf dem Mond gelebt? Die Nachrichten waren voll davon.« Linklater grinste gutmütig, blickte dann zu dem Fernseher. »Dieser Schiffskonvoi auf dem nebligen Rhein, das hat was von Wagner, findest du nicht auch? Fehlt nur noch, dass sie die Ouvertüre der...
Erscheint lt. Verlag | 11.1.2024 |
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Reihe/Serie | Die Fernsehschwestern | Die Fernsehschwestern |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2024 • Anne Gesthuysen • Aufbruch • Carmen Korn • Deutsche Geschichte • eBooks • Emanzipation • Familiensaga • Fernsehfrauen • Frauenromane • Gisa Pauly • Große Gefühle • Historische Romane • Liebesromane • neue Bücher 2023 • neue Bücher 2024 • Neuerscheinung • Romane für Frauen • Sechzigerjahre • Starke Frauen • Stephanie Schuster • Wirtschaftswunder |
ISBN-10 | 3-641-29022-8 / 3641290228 |
ISBN-13 | 978-3-641-29022-1 / 9783641290221 |
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