Ich höre keine Sirenen mehr (eBook)

Krieg und Alltag in der Ukraine │ Vom preisgekrönten Reporter der taz

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
272 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-30197-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich höre keine Sirenen mehr - Daniel Schulz
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Beeindruckende Reportagen aus einem Land im Krieg
In der Ukraine herrscht Krieg. Nicht erst seit dem Februar 2022, sondern seit 2014. Denn schon damals fielen sogenannte grüne Männchen, verdeckt operierende russische Soldaten, in den Donbass ein und begannen einen Zermürbungskrieg zur Abspaltung der Ostukraine. Ohne diesen verlustreichen Dauerkonflikt, der in Europa jahrelang kaum wahrgenommen wurde, lässt sich der Kriegsverlauf, lassen sich die Reaktionen der Bevölkerung und die für viele Beobachter überraschend gut organisierte und schlagkräftige Gegenwehr der ukrainischen Armee gegen die russischen Invasoren nicht verstehen. Der preisgekrönte Reporter Daniel Schulz verfügt über vielfältige Kontakte in das Land, über das er seit vielen Jahren schreibt und in dem er selbst als Journalist gearbeitet hat. In seinen Texten begleitet er Menschen, die bereits seit Jahren mit dem Krieg im eigenen Land leben: Zivilist:innen, Soldat:innen, Student:innen und Künstler:innen, die sich im Widerstand organisieren und für eine freie und demokratische Ukraine kämpfen. Dabei fragt Daniel Schulz, was der militärische Konflikt, der schon Jahre währt und sich wohl noch lange hinziehen wird, mit den Menschen in der Ukraine macht - denen, die kämpfen, denen, die ausharren und denen, die flüchten.

Daniel Schulz, 1979 in Potsdam geboren, berichtet für das Ressort Reportage bei der taz. Er studierte in Leipzig und arbeitete für verschiedene Zeitungen in Ostdeutschland sowie das Berliner Magazin zitty, bevor er sich bei der taz vor allem den Themen Rechtsextremismus, Ostdeutschland und Ukraine widmete. Dort war er gemeinsam mit einem Team von Redakteur*innen maßgeblich u.a. an der Aufdeckung des Hannibal-Netzwerks beteiligt, einer Gruppe rechtsextremer Personen in- und außerhalb der Bundeswehr. 2018 arbeitete Daniel Schulz für die ukrainische Zeitung Kyiv Post und erhielt im selben Jahr den Reporterpreis sowie 2019 den Theodor-Wolff-Preis. 2022 erschien sein vielbeachteter Roman »Wir waren wie Brüder«.

Alltag und Ausnahmezustand


Lwiw, Mai 2022

Die Stimme der Polizistin mit dem blonden Pferdeschwanz geht die Tonleiter einmal rauf und wieder runter, als sie mit Oleksandr Babakov schimpft. Ob er glaube, dass es in der Ukraine keine Gesetze gäbe? Oder ob die nur für ihn nicht gelten würden? Oleksandr macht sich so klein und schmal wie möglich, er steht gebeugt und lässt die Schultern hängen, die Arme eng an den Körper gepresst, die Hände in den Hosentaschen. Er knautscht die hohe Stirn zu einem Dackelgesicht, sagt, dass er ein freiwilliger Helfer sei und dass er hier am Bahnhof etwas Wichtiges abliefern müsse, für die Front.

»Interessiert mich nicht«, sagt die Polizistin. »Das hier ist ein Behindertenparkplatz!«

Hinter ihr steht ein Kollege, drei Köpfe größer als sie und doppelt so breit. Er hat ein rundes Pfannkuchengesicht und fragt, ob Oleksandr eine Strafe bekommen soll.

»Warum muss ich das immer entscheiden?« Die Polizistin tritt zwei Schritte zurück und schaut die beiden Männer abwechselnd an, ihr spitzes Kinn kampflustig nach oben gereckt.

»Okay«, brummt ihr Kollege, »dann bekommt er eben eine.«

Und so bezahlt Oleksandr Babakov im dritten Monat dieses Krieges, der bis zu diesem Tag im Mai schon Tausende Menschen das Leben gekostet und Städte als verbrannte Mondlandschaften zurückgelassen hat, 1000 Hrywnja für das Benutzen eines Behindertenparkplatzes vor dem Hauptbahnhof in Lwiw. Das ist viel Geld für einen, der keinen bezahlten Job hat, zu dieser Zeit etwa 30 Euro. Und er hat nicht gelogen, er ist wirklich ein freiwilliger Helfer, und er hat tatsächlich etwas Wichtiges hierhergebracht: Ein schwarzes rechteckiges Paket, da drin sind Wärmebildkameras für Soldat:innen im Donbas. Sie warten darauf bereits seit einem Monat.

Ist das nicht wichtiger als eine Ordnungswidrigkeit? Vor sechs Wochen erst ist der russländische Plan für einen schnellen Sieg gescheitert, sind die Soldaten von Putins Armee aus den kleinen Städten Butscha und Irpin in der Nähe der Hauptstadt abgezogen. Seitdem findet die Polizei dort immer wieder Leichen und identifiziert Tote. Dass sie sich in Lwiw darum kümmert, wer wo sein Auto abstellt, fühlt sich falsch an, als läge die Stadt in einem anderen Land, als gäbe es hier gar keinen Krieg, als hätten nicht mehrere Raketen auch hier eingeschlagen, zuletzt Mitte April. Sieben Tote, elf Verletzte. Wieso halten sich die Menschen in so einer Lage überhaupt an Parkregeln?

»Kurz nachdem Russland uns angegriffen hat, war das noch anders«, sagt Sofia Doroschenko, die mit Oleksandr hierhergekommen ist. »Zwei Wochen lang haben die Leute gemacht, was sie wollten.« Sie sitzt auf der Rückbank hinter Oleksandr, als der den silbernen eiförmigen Peugeot ausparkt. »Aber dann kam der Verstand zurück«, sagt Sofia und tippt sich mit dem Finger einmal gegen die Stirn. »Jedenfalls bei manchen.«

Sie ist sauer, weil Oleksandr nicht auf sie gehört hat, sie hat ihn gebeten, die zwanzig Hrywnja für den normalen Parkplatz zu bezahlen, und er hat geantwortet, das wäre seine Sache und nicht ihre. Oleksandr verdreht die Augen, reibt sich mit der linken Hand am Kinn und gibt mehr Gas.

Krieg und Normalität, Alltag und Ausnahmezustand, sie sind nicht so trennscharf geschieden, wie es in westeuropäischen Filmen vom Sturm auf die Normandie oder den Kämpfen um Berlin oft erscheint, diese Zustände fließen ineinander. Die russischen Raketen, die Sirenen des Luftalarms, das Sterben der ukrainischen Soldat:innen und Zivilist:innen, sie reißen Lücken ins Gewebe der Gewohnheiten, aber da, wo nicht unmittelbar gekämpft wird, versuchen die Menschen sich zurückzuholen, was sie kennen und was Ordnung verspricht: Es fahren Taxis in Lwiw, Cafés haben bis neun Uhr abends geöffnet, und es gelten Parkregeln.

Oleksandr fährt durch die abendliche Stadt, verwunschene Erker, griechisch anmutende Säulen, geschwungen geschmiedete Balkongitter, Lwiw ist alt und schön, es gibt noch Kirchen aus der Zeit der Rus, wenig Gotik wegen des Brandes Anfang des 16. Jahrhunderts, aber umso mehr Barock, Klassizismus, Jugendstil, und viele Häuser, deren Fassaden die Architekten eklektisch aus verschiedenen Baustilen zusammengemischt haben. Viele Reiche schmückten sich mit dieser Pracht, nannten sie Lemberg, Lwów und Lwiw, bis die Ukraine im August 1991 wieder unabhängig wurde.

Das Haus, in dem Sofia wohnt, hat weder Zierrat noch Zinnober, fünf Stockwerke aus weißen Steinen, manche verwittern ins Grau, manche ins Gelb, ein Block neben anderen Blöcken, dazwischen Bäume und Wäscheleinen. Sofia lebt hier, weil sie ihr eigenes Apartment einer Familie vermietet hat, die aus Cherson geflohen ist, aus dem von Russland kurz nach dem Einmarsch besetzten Süden des Landes.

Alles in diesen Räumen wirkt hell und aufgeräumt, die Wände und Türen sind weiß gestrichen, das Parkett schimmert in leichtem Grau, die wenigen Möbel scheinen alle aus Birke gezimmert. Der Traum eines minimalistischen Ikea-Designers. Wenn zwischen Betten und Kommoden nur nicht so viele Kartons stehen würden. In denen liegen Funkgeräte, Wärmebildkameras und Medikits. Sofia und Oleksandr sorgen dafür, dass diese Sachen zu Sanitäter:innen gelangen, zu Evakuierungshelfer:innen und zu Soldat:innen.

Ihre Aufgaben sind klar verteilt: Sie ist die Organisatorin, sie lagert die Kartons, die andere Helfer:innen meistens aus Deutschland und Frankreich bringen, packt, was darin ist, wenn nötig in andere Kartons und telefoniert und chattet so lange, bis klar ist, welche Kamera und welche Medizintasche auf welchem Weg wohin geht. Oleksandr ist der Fahrer, er holt Kisten ab und bringt sie weg, zu von Helfer:innen betriebenen Speditionen, zum Bahnhof und seltener zu Nova Poschta, einem privaten Lieferdienst, der auch im Krieg vielen als zuverlässiger gilt als die staatliche Post.

Sofia arbeitet wie Oleksandr in keinem normalen Job mehr, seit die russische Invasion begonnen hat. Sie sortiert, verpackt und verteilt den ganzen Tag Ausrüstung: »Ich kenne nur noch zwei Arten von Gegenständen. Welche, die Ukrainer heilen, und welche, die Russen töten.«

Fragt man sie, was ihr lieber ist, zuckt sie mit den Achseln. »Das eine bedingt das andere.«

Sofia und Oleksandr hätten sich sehr gut niemals begegnen können. Sie wuchs in der Westukraine auf, in Luzk, von dort bis hierher nach Lwiw sind es nur 150 Kilometer. Zu Hause sprachen sie Ukrainisch mit Einsprengseln aus polnischen und belarussischen Wörtern. Er ist in Mykolajiwka, groß geworden, einer kleinen Stadt im Osten des Landes, 1 200 Kilometer weit weg von hier. Ukrainisch hatte er natürlich in der Schule, aber mit seiner Mutter und Schwester hat er immer Russisch gesprochen, mit seinen Freund:innen auch. Sie ist in den chaotischen Neunzigern aufgewachsen, nach der Schule traf sie ihre Lehrer:innen auf einem der Luzker Basare als Verkäufer:innen für Tapeten oder T-Shirts wieder. Sie verdienten nicht genug Geld in ihrem Job. Oleksandr hat in Mykolajiwka den Krieg erlebt, drei Tage kämpfte die ukrainische Armee mit Russen und Donezker Milizen im Sommer 2014 um seine Stadt. Seine Schule bekam einen Treffer ab, und ein Wohnblock am Eingang der Stadt wurde wie von einer riesigen Hand entzweigerissen. Sie arbeitet eigentlich als Kostümbildnerin, er hat Ende Dezember 2021 sein Chemiestudium abgeschlossen.

Sie trägt Extravagantes, so wie heute das khakifarbene Oberteil mit den breit ausgeschnittenen Schultern, die David Bowie ebenso gut stehen würden wie Ming, dem Grausamen aus den Flash-Gordon-Filmen. Er läuft in T-Shirts und engen Jeans herum. Sie albert ständig, verzieht das schmale ovale Gesicht zu Grimassen, tänzelt über Straßen und durch Räume. Er benutzt vor allem zwei Gesichtsausdrücke: das traurige Dackelgesicht, mit dem er vorhin die Polizist:innen nicht davon abhalten konnte, ihm eine Geldbuße zu verpassen, und ein Gangstergrinsen im rechten Mundwinkel, das er schon in der zehnten Klasse hatte.

Oleksandr sitzt in der Küche auf einem der hellen Stühle, er hibbelt mit den Beinen, auf und ab, auf und ab. Er war den ganzen Tag in Sofias Auto unterwegs und kann nicht aufhören, sich zu bewegen, auch in diesem Moment der Ruhe nicht. Eigentlich gehört das Auto gar nicht Sofia, sondern einer belarussischen Frau, die in Lwiw gewohnt hat und mit ihren beiden Töchtern jetzt in Polen ist. Du kannst das benutzen, hat die Frau gesagt, bis ich wieder zurückkomme. Aber Sofia hat keine Fahrerlaubnis, also fährt Oleksandr. Okay, er hat eigentlich auch keine, aber er fährt trotzdem.

Sofia öffnet das Küchenfenster, der sanfte Luftzug trägt noch etwas von den 20 Grad Mittagswärme in sich, sie schaltet den Gasherd ein, blau züngeln die Flammen, sie reißt eine Packung Spaghetti auf und schüttet die Nudeln in einen Topf, macht nebenher Tee. »Wann fährt der nächste Zug?«, fragt Oleksandr, und Sofia sagt, sie müssen in zwei Stunden wieder los.

Sie werden dieses Paket, wegen dem sie Strafe bezahlt haben, das schwarze, rechteckige, das mit den Wärmebildkameras, noch einmal zum Bahnhof bringen, denn die Schaffner wollten es nicht mitnehmen in ihrem Zug. Sofia ist eine halbe Stunde lang von Waggon zu Waggon gerannt, vorbei an alten Frauen mit riesigen Koffern in der einen und kleinen Kindern an der anderen Hand. Sie wollen nicht raus aus der Ukraine, sondern zurück nach Hause. Sofia lief vorbei an Soldat:innen in Uniformen und mit Kalaschnikows über der Schulter, von einem grauhaarigen Mann im weißen Hemd zum nächsten, sie haben alle mit dem Kopf geschüttelt, bis sie schließlich vor einem in blauer Uniformjacke stand, dem Zugchef, der das Paket dann auch nicht mitnehmen...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Schlagworte 2023 • Biografie • Biographien • Donbass • Donezk • eBooks • Hoffnung • Kampf • Kiew • Kreml • Krieg • kriegsreportage • Kriegsreporter • Luhansk • Militär • Neuerscheinung • Opposition • Protest • Putin • Reise • Reportage • Russland • Sanktionen • Selenskyj • Ukraine • Ukrainekrieg • Widerstand • Zivilisten
ISBN-10 3-641-30197-1 / 3641301971
ISBN-13 978-3-641-30197-2 / 9783641301972
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