Essais (eBook)
912 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-30053-1 (ISBN)
Montaignes «Essais» sind von einem zutiefst humanen Gedanken durchdrungen: «Niemand ist davon frei, Dummheiten zu sagen. Das Unglück ist, sie gar feierlich vorzubringen.» Es ist ein erstaunliches Vermächtnis, das uns der Renaissance-Schriftsteller und -Philosoph hinterlassen hat, erstaunlich vor allem wegen seines hohen Gehalts an wahrem Leben. Nie zuvor hatte ein Autor in solch unmittelbarer Frische schreibend über sich nachgedacht, ohne Rücksicht auf konventionelle Formen und ohne Zugeständnisse an Leseerwartungen. «Ich habe mein Buch nicht mehr gemacht, als es mich gemacht hat, ein Buch vom Fleisch und Blut seines Verfassers», heißt es an einer Stelle. Mit den «Essais» schuf Montaigne eine neue, offene Form: den literarischen «Versuch». Getragen von der Freude am Zufälligen, verschränken sich hier auf originelle Weise fundierte Bildung und präzise Beobachtungen zu den Skurrilitäten des Alltags.
«Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen», urteilte Friedrich Nietzsche über das Buch.
Michel de Montaigne wurde 1533 im Périgord in eine reiche Kaufmannsfamilie geboren und genoss eine humanistische Erziehung. Nach seinem Studium der Rechte war er als Parlamentsrat und Bürgermeister in Bordeaux tätig und unternahm ausgedehnte Reisen in Frankreich, Deutschland und Italien. Dazwischen zog er sich immer wieder in die Einsamkeit zurück und widmete sich seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Sein Hauptwerk sind die «Essais», an denen er von 1571 bis 1585 arbeitete und die eine neue literarische Form begründeten. Das zentrale Thema seiner Reflexionen und Beobachtungen ist die Analyse des Menschen als komplexes, widersprüchliches Wesen. Michel de Montaigne starb 1592.
Durch verschiedene Mittel gelangt man zum gleichen Ziel
Die gewöhnlichste Weise, das Herz derer zu erweichen, die man beleidigt hat, wenn sie uns in ihrer Gewalt und die Rache in Händen haben, ist, sie durch Unterwürfigkeit zum Mitleid und zum Erbarmen zu bewegen. Indessen haben Trotz und Unerschütterlichkeit, gänzlich entgegengesetzte Mittel, zuweilen zum selben Erfolge gedient.
Eduard, Prinz von Wales1, derselbe, der so lange über unsere Guyenne herrschte, ein Mann, dessen Laufbahn und Schicksal viele denkwürdige Züge der Größe aufweist, war von den Leuten von Limoges gar sehr beleidigt worden und ließ sich, als er ihre Stadt mit Gewalt genommen hatte, durch das Jammern des Volkes, der Frauen und Kinder nicht aufhalten, die sich, dem Gemetzel preisgegeben, um Gnade flehend ihm zu Füßen warfen, bis er, immer weiter in die Stadt eindringend, drei französische Edelleute gewahrte, die sich mit unglaublicher Kühnheit allein der Gewalt seines siegreichen Heeres entgegenstellten. Die Achtung und Bewunderung einer so rühmlichen Tapferkeit brach erst seinem Unmut die Spitze ab; und er begann von diesen dreien an mit allen übrigen Einwohnern der Stadt Erbarmen zu üben.
Skanderbeg2, Fürst von Albanien, verfolgte einen seiner Soldaten, um ihn zu töten; und dieser Soldat, nachdem er ihn mit allen Arten von Demut und flehentlichen Bitten zu besänftigen versucht hatte, entschloss sich in der äußersten Not, ihn mit gezücktem Schwert zu erwarten. Diese Standhaftigkeit hemmte jäh die Wut seines Herrn, der ihn, weil er einen so ehrenvollen Entschluss gewählt hatte, in Gnaden aufnahm. Dieses Beispiel kann von denen anders ausgelegt werden, die nicht von der staunenswerten Stärke und Tapferkeit dieses Fürsten gelesen haben.
Als Kaiser Konrad III. den Herzog Welf von Bayern belagert hielt3, wollte er sich zu keinen milderen Bedingungen herbeilassen, so niedrige und feige Genugtuung man ihm auch bot, als einzig den Edelfrauen, die mit dem Herzog eingeschlossen waren, zu erlauben, in ihrer Ehre unangetastet zu Fuß aus der Stadt zu ziehen, mit dem, was sie auf sich hinaustragen könnten. Sie aber verfielen hochgesinnten Herzens darauf, ihre Männer, ihre Kinder und den Herzog selbst auf ihre Schultern zu laden. Der Kaiser nahm so großes Wohlgefallen an der Hochherzigkeit ihres Mutes, dass er Tränen der Freude vergoss; und von Stund an erstarb die Bitterkeit tödlicher Feindschaft, die er dem Herzog geweiht hatte, und er begegnete fortan ihm und den Seinen mit Menschlichkeit.
Das eine wie das andere Verhalten würde mich leicht umstimmen. Denn ich habe eine wunderliche Neigung zur Barmherzigkeit und zur Sanftmut – so sehr, dass ich mich nach meinem Empfinden williger vom Mitgefühl überwältigen ließe als von der Hochschätzung; und doch gilt den Stoikern das Mitleiden als eine schimpfliche Leidenschaft: sie wollen, dass man den Bedrängten Hilfe bringe, nicht aber, dass man in Rührung falle und mit ihnen leide.
Doch mir scheinen diese Beispiele besonders treffend: zumal man diese Seelen, von beiden Einwirkungen angefochten und erprobt, der einen ohne Wanken widerstehen und unter der andern erliegen sieht. Es lässt sich sagen, dass es eine Wirkung der Leutseligkeit, Gutmütigkeit und Empfindsamkeit sei, sein Herz dem Mitleiden hinzugeben; daher kommt es, dass die schwächlichsten Gemüter, wie die der Frauen, der Kinder und des gemeinen Volkes, ihm am meisten unterworfen sind; hingegen bei Tränen und Bitten ungerührt zu bleiben und sich erst und einzig der Ehrfurcht vor dem erhabenen Bilde der Tapferkeit zu beugen, das sei ein Zeichen eines starken und trotzigen Sinnes, dem eine mannhafte und beharrliche Entschlossenheit Liebe und Achtung abnötigt. Gleichwohl können in weniger hochgesinnten Seelen Staunen und Bewunderung eine ähnliche Wirkung erregen. Zeuge dessen das thebanische Volk, das seine Feldherren unter Anklage auf Leib und Leben gestellt hatte, weil sie ihr Amt über die vorgeschriebene und festgesetzte Frist hinaus weitergeführt hatten, und mit knapper Not den Pelopidas freisprach, der sich unter der Last solcher Beschuldigungen krümmte und zu seiner Rettung nichts anderes als Flehen und Bitten vorbrachte: über den Epaminondas indessen, der hochfahrend über seine Großtaten berichtete und sie dem Volke auf stolze und anmaßende Weise vorhielt, hatte es nicht einmal das Herz, die Stimmkugeln zur Hand zu nehmen; und die Versammlung ging unter lauten Lobpreisungen über den hohen Mut dieses Mannes auseinander.
Als Dionysius der Ältere nach langwieriger Belagerung und unendlichen Schwierigkeiten die Stadt Rhegio genommen hatte und darin der Feldherr Phyton, ein vortrefflicher Mann, der sie so hartnäckig verteidigt hatte, in seine Hand gefallen war, wollte er an diesem ein erschütterndes Beispiel der Rache aufstellen. Zuerst sagte er ihm, wie er tags zuvor seinen Sohn und alle seine Angehörigen hatte ersäufen lassen. Worauf Phyton nichts weiter erwiderte als: sie seien um einen Tag glücklicher als er. Darauf ließ er ihn der Kleider berauben, von Henkersknechten ergreifen und unter schändlichsten und grausamsten Geißelungen durch die Gassen der Stadt schleifen, und überhäufte ihn dazu mit schnöden und schimpflichen Schmähworten. Er aber behielt immer standhaften Mut, ohne zu erliegen, und bekräftigte unbewegten Gesichts wieder und wieder mit lauter Stimme die ehrenvolle und rühmliche Ursache seines Todes, da er sein Vaterland nicht in die Hände eines Tyrannen habe übergeben wollen, und drohte ihm mit der nahen Strafe der Götter. Da nun Dionysius in den Augen der Gemeinen seines Heeres las, dass sie, statt sich über die Herausforderungen dieses besiegten Feindes und seine Missachtung für ihren Feldherrn und dessen Triumph zu empören, von der Betroffenheit über einen so seltenen Mut weich gestimmt zu werden begannen und, dem Meutern nahe, im Begriffe waren, Phyton den Händen seiner Schergen zu entreißen, befahl er, dieser Marter ein Ende zu machen, und ließ ihn insgeheim im Meer ertränken.
Wahrlich, ein wundersam eitles, wandelbares und schillerndes Ding ist der Mensch. Es ist schwer, ein festes und eindeutiges Urteil auf ihn zu gründen. Hier sehen wir Pompejus der ganzen Stadt der Mamertiner, gegen die er sehr ergrimmt war, in Ansehung der Tugend und Hochherzigkeit ihres Bürgers Zenon verzeihen, der allein die allgemeine Schuld auf sich lud und keine andere Gnade erbat, als allein die Strafe dafür zu tragen. Und der Gastfreund des Sulla, der in der Stadt Perusa eine ähnliche hohe Gesinnung an den Tag legte, gewann dadurch nichts, weder für sich noch für die andern. Und geradewegs meinen ersten Beispielen zuwider handelte der kühnste unter den Menschen, und der so huldreich gegen die Überwundenen war, Alexander, als er nach vielen und großen Schwierigkeiten die Stadt Gaza erstürmte und auf den Batis stieß, der sie befehligt hatte und von dessen Vortrefflichkeit er während der Belagerung bestaunenswerte Proben erfahren hatte, wie er nunmehr allein, von den Seinen im Stiche gelassen, mit zertrümmerter Rüstung und ganz bedeckt von Blut und Wunden, immer noch fechtend mitten unter zahlreichen Makedoniern standhielt, die ihm von allen Seiten zusetzten; und sprach zu ihm, voll Unmut über einen so teuer erkauften Sieg, denn unter anderem Schaden hatte er zwei frische Wunden an seinem Leib davongetragen: Du wirst nicht sterben, wie du gewollt hast, Batis; mache dich bereit, alle Arten von Foltern zu erdulden, die gegen einen Gefangenen ersonnen werden können. Der andere hielt mit nicht nur gefasstem, sondern herausforderndem und hochfahrendem Blick, ohne ein Wort zu sagen, seinen Drohungen stand. Darauf Alexander, als er dies stolze und starrsinnige Schweigen wahrnahm: Hat er ein Knie gebeugt? Ist ihm ein Laut des Flehens entschlüpft? Wahrlich, ich werde deine Schweigsamkeit brechen; und kann ich dir nicht Worte entreißen, ein Ächzen wenigstens entreiße ich dir. Und seinen Zorn zur Raserei steigernd, befahl er, dass man ihm die Fersen durchbohre, und ließ ihn also lebendigen Leibes, hinten an einem Karren nachgeschleift, zu Tode schinden und zerfetzen. Wäre ihm die Kühnheit so selbstverständlich gewesen, dass er sie, weil er sie nicht bestaunte, auch weniger ehrte? Oder hielt er sie für so ganz ihm allein eigentümlich, dass er es in dieser Überhebung nicht ohne neidische Missgunst ertragen konnte, sie bei einem andern zu finden? oder war das natürliche Ungestüm seines Zorns unfähig, Widerstand zu ertragen? Fürwahr, wenn er je zu zügeln war, so sollte man glauben, bei der Einnahme und Verwüstung von Theben hätte sein Zorn gebändigt werden müssen, beim Anblick des grausamen Hinschlachtens so vieler dem Untergang geweihter wackerer Männer, denen kein Mittel zur Verteidigung ihrer Vaterstadt mehr blieb. Denn es wurden wohl sechstausend niedergemetzelt, von denen man nicht einen fliehen noch um Gnade bitten sah; sondern die vielmehr, jeder an seiner Stelle, in den Straßen der Stadt sich den siegreichen Feinden entgegenzuwerfen und sie herauszufordern suchten, ihnen einen ehrenvollen Tod zu geben. Keiner ward gesehen, so zerschlagen von Wunden er auch war, der nicht noch in seinem letzten Röcheln sich zu rächen und mit den Waffen der Verzweiflung seinen Tod im Tod eines Feindes zu erquicken gesucht hätte. Gleichwohl fand die Bedrängnis ihrer Tapferkeit kein Erbarmen, und die Länge eines Tages reichte nicht zu, seine Rache zu stillen. Das Gemetzel währte, solange noch ein Tropfen Blutes zu vergießen war; und hielt erst inne vor den Wehrlosen, Greisen, Frauen und Kindern, um ihrer dreißigtausend als Sklaven wegzuführen.
Von der Traurigkeit
Ich bin gegen diese Gemütsbewegung überaus gefeit...
Erscheint lt. Verlag | 24.5.2023 |
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Reihe/Serie | Manesse Bibliothek | Manesse Bibliothek |
Übersetzer | Herbert Lüthy |
Vorwort | Herbert Lüthy |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | 2023 • eBooks • Frankreich • Französische Literatur • Freundschaft • Gutes Leben • Kindererziehung • Klassiker der Weltliteratur • Lebensweisheit • Leidenschaft • Moralphilosophie • Müßiggang • Neuerscheinung • Neuheiten 2023 • Philosophie • Renaissance • Stoizismus • Vernunft • Welterfahrung |
ISBN-10 | 3-641-30053-3 / 3641300533 |
ISBN-13 | 978-3-641-30053-1 / 9783641300531 |
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