Dieser Satz rettete ihr Leben, denn schon war ein neuer Gegner unmittelbar vor ihr aufgetaucht und seine Geschosssalven durchpflügten den schlammigen Boden unmittelbar dort, wo sie nur Bruchteile einer Sekunde zuvor gestanden hatte. Im Abrollen feuerte sie halb blind vor hochspritzendem Dreck in seine Richtung, federte gleichzeitig weiter zur Seite, wobei sie in der Drehung den dritten Gegner links von sich unter Beschuss nahm.
Gutturale Geräusche, die ihr durch Mark und Bein gingen, sagten Rena, dass sie auch die beiden anderen Gegner getroffen und wahrscheinlich aufs Widerwärtigste verletzt hatte – aber nicht außer Gefecht gesetzt …
Sunfrost lag jetzt flach am Boden hinter einem umgestürzten Baumstamm, dessen nach oben zeigende Seite bereits keine Rinde mehr besaß. Ein derart dichter Fächer von Geschossen fräste über ihn hinweg. Einer musste zumindest noch am Leben sein.
Nein, das sind wirklich keine Menschen, dachte sie aufs Äußerste angespannt. So schnell bewegt sich auf der Erde noch nicht einmal ein Gepard …
Und sie hatte keine Ahnung, wie viele von ihnen hier auf sie lauerten. Auf einmal herrschte atemlose Stille. Das Sirren der Schüsse hatte ebenso aufgehört wie das Ekel erregende, Nerven zerfetzende Geschrei.
War es vorbei?
Rena hob leicht ihr dreckverschmiertes Gesicht, um vorsichtig über den Stamm hinwegzusehen. In diesem Moment begann das Getöse von Neuem. Allerdings hatte der Gegner seine Waffe zu tief gehalten, und die winzigen Geschosse frästen direkt in das Holz oder kurz davor in den Boden. Der Baum begann durch die Einschläge zu zittern und zu vibrieren.
Der Mistkerl will meine Deckung zu Kleinholz verarbeiten!, schoss es Rena durch den Kopf.
Sie riss ihre Waffe nach oben und begann – ohne ihr Ziel anvisieren zu können – zurückzufeuern. Erneut erklangen in einer Lautstärke, die ihr in den Ohren dröhnte, das furchtbare Geschrei, das ihr zeigte, dass der Feind getroffen worden war. Wieder schwiegen die Waffen.
Sunfrost schaute sich um und nickte zufrieden. Wenn sie es schaffte, bis zu dem Mauerrest vorzurobben, würde sie eine bessere Deckung finden.
Sie versuchte, sich so flach wie möglich über den Boden zu bewegen. Das war kein Vergnügen, die Erde war feucht und heiß. Zahllose Luftwurzeln waren im Weg. Ein kleines schlammig-braunes Rinnsal färbte sich in dem Moment rot, als sie direkt hineinsah.
Erschrocken ruckte ihr Kopf zur Seite, und ihr Blick erfasste die Ursache. Der Kerl, der anfangs versucht hatte, sie von oben zu attackieren, lag vor dem kaum zwei Handspannen breiten Bächlein. Obwohl er längst tot war, pulsierte das Blut aus seinem Körper weiter auf den Boden und von dort ins Wasser.
Ein seltsames Fauchen ertönte neben ihr. Rena fuhr herum und starrte in das aufgerissene Maul einer gewaltigen Schlange. Sie hatte sich drohend aufgerichtet und aus ihrer Perspektive konnte Rena deutlich die winzigen Öffnungen in den Spitzen der Giftzähne sehen. Sie erstarrte in ihrer Bewegung und auch die Schlange ließ ihren Kopf nur wenige Millimeter hin und her pendeln. Aus den Augenwinkeln sah Rena eine weitere Bewegung.
Jetzt ist es aus …. dachte sie resigniert.
Doch der fremde Krieger, der nur wenige Schritte entfernt aufgetaucht war, hatte sie noch nicht bemerkt. Die Schlange wandte leicht den Kopf, um den weiteren Eindringling zu fixieren. Rena wurde klar, warum er weder sie noch das Tier bisher nicht wahrgenommen hatte. Er suchte die über ihm aufragenden Baumkronen ab. Dabei näherte er sich ihnen immer weiter.
Gleich stolpert er über mich!, überlegte sie hektisch. Sie musste mittlerweile durch den Schlamm die gleiche Farbe wie der Boden angenommen haben. Gute Tarnung …
Allerdings wollte sie es nicht darauf ankommen lassen und schnellte los, als sie sah, dass die Schlange unschlüssig geworden war, von wem wohl die größere Gefahr für sie ausging. Rings um sie herum schlugen die Geschosse in den Boden und zerfetzten Blätter und Zweige. Hinter dem Mauerrest sackte sie heftig atmend in sich zusammen.
Ein weiterer Schrei dröhnte in ihren Ohren, obwohl sie diesmal keinen Schuss zu ihrer Verteidigung abgefeuert hatte. Offenbar hatte die Schlange ganze Arbeit geleistet. Dennoch wünschte sie sich in diesem Augenblick kampferfahrene Helfer an ihrer Seite. Sergeant Rolfson zum Beispiel, doch der konnte sie jetzt nicht unterstützen.
Konzentrier dich!, schimpfte sie in Gedanken mit sich selbst. Durch das hier musst du alleine durch...
Hinter der Mauer stand eine altmodisch wirkende Truhe. An den Ecken und Kanten war sie mit verzierten Metallbändern beschlagen. Das dunkel gebeizte Holz war auf dem Deckel und an der Vorderseite mit Schnitzereien versehen, die – als Rena die Kiste näher betrachtete – ein merkwürdiges Eigenleben entwickelten. Die Schnörkel und Ornamente begannen, sich in seltsam ruckenden Bewegungen miteinander zu verknoten.
Neugierig tippte Rena mit dem Finger auf die Figuren, die sich aus den abstrakten Verzierungen bildeten. Sie lachte hell auf, als eine der winzigen Gestalten auf einmal wie empört die sich gerade eben erst formenden Arme in die Hüften stieß und das winzige Köpfchen emporreckte, um den Störenfried zu betrachten. Neben diesem reliefartigen Wesen sammelten sich noch weitere, nicht minder unkontrolliert ruckende und zuckende Geschöpfe.
Eines von ihnen schleppte etwas mit sich, das es mühsam unter dem hölzernen Gewand zu verbergen versuchte. Mit dem kleinen Finger lüpfte Rena in einer fast obszönen Geste den Mantel hoch und entdeckte darunter einen silbern schimmernden Gegenstand. Schnell hielt sie ihn mit Daumen und Zeigefinger fest – ein Schloss!
Eine andere Gestalt versuchte sich derweil hinter die übrigen Figuren zu schieben, was nicht ganz einfach war, schließlich waren sie samt und sonders noch mit ihrem hölzernen Hintergrund verbunden. Auch dieses Wesen verbarg etwas, das sich Rena, die nun ihre Waffe achtlos hatte fallen lassen, mit den Fingern der anderen Hand ergriff – einen Schlüssel.
Mühelos ließ er sich in dem Schloss drehen. Mit einem übertrieben klingenden Schnalzen sprang der Deckel auf. Eine golden glänzende Strahlenflut schoss flirrend und blitzend aus der geöffneten Truhe in den Himmel. Gleichzeitig ertönte mit einem sich fast überschlagenden Rhythmus und jaulenden, verzerrten Klängen eine zwar schräge, aber trotzdem mitreißende Musik. Rena wurde durch die plötzliche Lautstärke, die über sie hereinbrach, fast von den Füßen gerissen.
»Herzlichen Glückwunsch!«, die freundlich-sterile Frauenstimme wurde durch den Lärm der Musik beinahe übertönt. »Die statistische Wahrscheinlichkeit für den Spieler, die Angriffe zu überleben sowie das Versteck des Schatzes zu finden und die Truhe zu öffnen, beträgt exakt 0,00213 Prozent. Ihre Gewinnpunkte belaufen sich derzeit auf 81. Auf dem nächsten Level erwartet Sie die Rache der Kali. Wenn Sie weitermachen und auch diese Ebene für sich gewinnen, verhundertfacht sich Ihr Einsatz mal der Anzahl Ihrer Punkte. Das ergibt in Ihrem Fall 40.500 DDs. Es ist unsere Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, dass Ihr Einsatz und Ihr derzeitiger Punktestand gelöscht werden, wenn Sie Kali zum Opfer fallen …«
Rena rechnete fieberhaft. Über 40.000 DDs, wie die Druillet-Dollar abgekürzt wurden, entsprachen rund 60.000 Credits – deutlich mehr als ein Jahresgehalt. Aber wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, auch Kalis Rache siegreich zu überstehen? Mit Sicherheit noch um ein Vielfaches geringer, als Apokalypse Wow!, das sie gerade gemeistert hatte.
»Wie entscheiden Sie sich?«, fragte die Frauenstimme.
»Ich steige aus«, knurrte Rena.
»Wie Sie wünschen. Wir danken für Ihre erfolgreiche Teilnahme und würden uns freuen, wenn Sie bald wieder eines unserer Angebote nutzen würden. Ihr Gewinn wird Ihnen gleich ausgezahlt.«
Sunfrost nahm die VE-Brille ab …
*
»Bravo!«
Breit grinsend verfolgten Valentina Duchamp und Ralf Rolfson, wie sich Rena aus dem dünnen Ganzkörperanzug schälte, der sie von Kopf bis Fuß umhüllte. Die attraktive Frau blickte Rena direkt ins Gesicht, so dass sie gezwungen war, auch ihre neue »Chefin« genauer anzuschauen.
Valentina Duchamp war gut zehn Zentimeter kleiner als Rena Sunfrost und hätte deshalb neben dem Ex-Sergeant ziemlich winzig gewirkt. Sie kompensierte ihre Größe durch extrem hohe Absätze. Ihre schlanke, ausgeprägt kurvenreiche Figur sorgten ohnehin dafür, dass sie normalerweise alle Blicke auf sich zog, auch neben einem Riesen wie Rolfson. Ihr mittellanges, leicht gewelltes dunkelbraunes Haar umrahmte ein freundliches, ebenmäßiges Gesicht, das...