Die Insel der Unschuldigen (eBook)

Roman

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
416 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8289-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Insel der Unschuldigen -  Jess Kidd
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1629 begibt sich die neunjährige Mayken mit ihrem Kindermädchen auf eine abenteuerliche Reise. Auf dem berühmtesten Schiff der holländisch-indischen Kompanie, der Batavia, will sie nach Java zu ihrem Vater, an den sie sich kaum noch erinnern kann. Fasziniert von dem Leben an Bord, erobert sie mit ihrer Neugier das riesige Schiff und gewinnt Freunde, wahre und falsche, auf Deck und unter Deck. Freunde, die ihr helfen zu überleben, als das Schiff auf ein Riff aufläuft und Chaos und Terror ausbrechen. 1989 ist der neunjährige Gil fasziniert von dem Schiffswrack der Batavia, das Wissenschaftler an der Küste vor einer kleinen Insel zu bergen versuchen. Seit dem Tod seiner Mutter lebt der Junge bei seinem Großvater, einem wortkargen Fischer, mit dem auf der Insel keiner etwas zu tun haben will. Das Leben mit dem alten Mann verstärkt in dem schüchternen Jungen das Gefühl der Einsamkeit. Doch vor allem bedrückt ihn, dass er nicht über die Geschehnisse nach dem Tod seiner Mutter reden kann.

JESS KIDD, 1973 in London geboren, hat Literatur an der St. Mary's University in Twickenham studiert. Bei DuMont erschienen 2017 ihr Debütroman >Der Freund der Toten<, der auf der Krimibestenliste stand, sowie 2018 und 2019 die Romane >Heilige und andere Tote< und >Die Ewigkeit in einem Glas<. Die Autorin lebt mit ihrer Tochter in West London.

Prolog

Sie ist blasser als eine Made und ein wundersamer Anblick.

Sie schaut erschreckt aus dem Bett zu ihm hoch. Ihre hellen Augen, milchig und trüb, huschen wie bei einem Fisch hin und her: Eindringling – Laterne – Tür – Eindringling. Als versuchte sie zu begreifen, wie das alles zusammenhängt.

Ist sie blind?

Nein. Sie sieht ihn sehr wohl; er weiß, dass sie ihn sieht. Jetzt folgen ihm ihre Augen, während er näher heranschleicht.

Sie ist hübsch, trotz allem.

Sie ist mehr als hübsch. Sie ist ein Friedhofsengel, eine Marmorstatue, mit ihren Elfenbeinlocken und den ach so bleichen steinernen Augen. Nein, nicht Stein – schimmerndes Perlmutt, so sanft getönt!

Er könnte sie berühren: ihr die Wange streicheln, die winzige Kinnspitze halten, ihre weißen Locken um seinen Finger wickeln.

Dann bewegen sich ihre Lippen, spitzen und verziehen sich, als würde sie Kraft sammeln, die Kraft, einen Ton hervorzubringen.

Ohne nachzudenken, drückt er ihr eine Hand auf den Mund, seine Haut dunkel auf ihrer im Licht der Laterne. Sie guckt böse, ihre Füße schlagen einen wütenden Trommelwirbel trotz der Fesseln, und die Bettdecke rutscht herunter. Sie hat zwei Beine, wie ein Mädchen. Zwei dünne weiße Beine und zwei dünne weiße Arme und sonst nicht viel dazwischen.

Dann hört sie auf und liegt still da, keuchend.

Wie sie sich anfühlt: irgendwie nicht natürlich. Die Haut wächsern und klamm, der Atem kalt: eine unnatürliche Kälte, wie ein lebender Leichnam.

Und wieder dieser Geruch, jetzt stärker, die beißende Salzluft des offenen Ozeans, ein tintiger Hauch Seetang.

Sie fixiert ihn mit ihren Perlmuttaugen. Er spürt ihre glitschigen Zähnchen und die nasse Zunge, die flink seine Hand erkundet.

Der Mann hat das Gefühl, dass sein Kopf sich öffnet wie ein weiches Schneckengehäuse, dass die Kleine klopft und bohrt, ihre Finger in sein Gehirn drückt. Die bebende Masse berührt, kitzelt. Sie greift und grapscht wie in ein Glas voller Fischchen, sie planscht und sucht wie in einem Gezeitentümpel. Mit dem kleinen Finger erwischt sie eine Erinnerung und angelt sie heraus, und dann noch eine und noch eine. Sie findet seine Erinnerungen, eine nach der anderen. Sie sammelt sie in der hohlen Hand, jede eine vollkommene, schimmernde Träne.

Ein Junge, er selbst, rennt mit einer Kartoffel in der Hand einem Karren hinterher und rutscht auf nassem Kopfsteinpflaster aus.

Eine Frau dreht sich in einem Hauseingang um, Sonne auf ihrem Haar, ah, die Frau seines Bruders!

Ein vier Tage altes Fohlen steht auf einer grünen Weide, ein reiner weißer Fleck auf der hübschen Nase.

Das Kind neigt die hohle Hand und sieht die Tränen davonrollen.

Panik durchströmt den Mann. Etwas steigt in ihm auf – eine reine und unbezwingbare Abscheu, der starke, jähe Drang, dieser Kreatur den Garaus zu machen. Sie zu erdrosseln, ihr Gesicht zu zertrümmern, ihr den Hals umzudrehen wie einem jungen Kaninchen.

Eine Stimme in ihm, die Lispelstimme eines Kindes, verhöhnt ihn. Ist er nicht ein unbarmherziger Schweinehund, würde er nicht bedenkenlos seine eigene Mutter ersticken? Hat er nicht schon alles Mögliche getan, schreckliche Dinge, unsägliche Dinge, ohne mit der Wimper zu zucken? Und jetzt auf einmal scheut er sich, die barmherzigste aller Gnaden zu gewähren.

Der Mann schaut die Kleine entsetzt an, und die Kleine erwidert seinen Blick.

Er lässt sie los und zieht sein Messer.

Eine zweite Laterne taucht flackernd im Türrahmen auf, und die Kinderfrau kommt herein. Eine nicht mehr ganz junge ehemalige Strafgefangene mit einem steifen Bein, mit sauberer Kleidung, aber schmutzigem Mundwerk, an üble Geschäfte gewöhnt. Zwei Männer, die sich Halstücher vors Gesicht gebunden haben, folgen ihr wie Leibwächter. Seltsame Vögel; Ellbogen angelegt, Köpfe hin- und herschwenkend, leisetretend, lauschend, blinzelnd. Bei jedem Schritt rechnen sie mit einem Hinterhalt.

»Rühr sie nicht an«, sagt die Kinderfrau zu ihm. »Geh von ihr weg.«

Der Mann blickt auf, zögert, und die Kleine beißt ihn, mit verblüffend spitzen Zähnchen. Er reißt überrascht die Hand weg und sieht eine Reihe Einstichlöcher, klein, aber tief.

Die Kinderfrau schiebt sich an ihm vorbei an die Seite des Betts, blickt auf seine Hand. »Das wirst du bereuen, meine Tulpe.«

Die Kinderfrau streift sich umständlich ein Paar feinmaschige Kettenhandschuhe über und löst die Stricke, mit denen die Kleine ans Bett gefesselt ist, legt ihr ein Geschirr aus festem Material an, Gliedmaße für Gliedmaße, schnallt ihr die Arme vor der Brust fest, bindet ihr die Beine zusammen. Die Kleine sträubt sich, mit aufgerissenem Maul.

Der Mann steht wie benommen da, öffnet und schließt die Hand. Rote Linien ziehen sich vom Handteller übers Handgelenk zum Ellbogen, die Bissspuren werden dunkelviolett, dann schwarz. Er dreht den Unterarm und drückt auf seine Haut. Schweiß perlt ihm auf der Stirn, der Oberlippe. Was für ein Kind beißt so, wie eine Ratte? Er stellt sich vor – spürt –, wie ihr Gift durch ihn hindurchströmt, vom Arm zum Herzen, von der Lunge zu den Gedärmen, von den Füßen in die Fingerspitzen. Ein glühendes Gift breitet sich aus, ein plötzliches Feuer verglüht, während es seinen Weg sucht. Dann verblassen die Linien, und die Bissspuren nehmen sich nur noch wie matte Nadelstiche aus.

Die ganze Zeit beobachtet die Kreatur ihn, und ihre Augen werden dunkel – gewiss eine optische Täuschung durch das Lampenlicht! Zwei Augen wie polierter Gagat, die Oberflächen flach, so seltsam flach.

Die Kinderfrau tritt zurück und befiehlt mit leiser Stimme: »Packt sie ein, beeilt euch, nehmt euch vor ihrem Mund in Acht.«

Sie wickeln das Kind in Segeltuch ein, ein Stagsegel, aus dem sie eine Art Hängematte machen.

Dem Mann, der noch immer seinen Arm befingert und die Nadelstiche untersucht, verschlägt es plötzlich die Sprache. Er gibt einen Laut von sich, einen Vokallaut, gefolgt von einer Reihe gurgelnder Konsonanten. Er sinkt auf die Knie wie zum Gebet und fällt dann rücklings auf den Kaminvorleger. Er würde schreien, wenn er könnte, doch er kann nur eine Hand ausstrecken. Er liegt da und schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Vom Fußboden aus sieht er zu, wie die zwei Männer das Bündel zwischen ihnen hochheben. Sie bewegen sich bedächtig, als wären sie unter Wasser.

Die Kinderfrau humpelt mit der Laterne in der Hand zu dem Mann und blickt auf ihn hinab. Ihre Diagnose: Es steht schlecht um ihn, das Gesicht so grau wie sein kurz geschorenes Haar. Nicht alt, aber bereits vom Leben verbraucht – und jetzt das.

Er beginnt zu schluchzen.

Der Kinderfrau ist ebenfalls zum Heulen zumute, weil sie einen guten Dieb verliert, einen, der dir die Zähne ziehen könnte, ohne dafür deinen Mund zu öffnen.

Sie kniet sich mühsam hin. »Schließ die Augen, Junge«, flüstert sie. »Das macht es mir sehr viel leichter.«

Eingepackt in eine Segeltuchhängematte wiegt sie fast nichts. Aber die zwei Männer würden eine weit schwerere Last mit größerer Leichtigkeit tragen. Natürlich hatten sie die Kinderfrau erzählen lassen, hatten sich im Wirtshaus mit schon ein paar Gläsern intus ihre Geschichten angehört. Aber jetzt sehen sie es selbst in dem Kind, genau wie sie prophezeit hat: alles erdenkliche Übel.

Was ist mit dem Gefallenen? Sie scheuten sich, ihn danach anzufassen. Ihn wegzutragen, wäre schlimmer gewesen, als ihn liegen zu lassen, und es bedrückt sie sehr, dass sie ihn zurückgelassen haben. Die eingewickelte Kleine schwingt zwischen ihnen, großäugig im Licht der abgedunkelten Laterne. Ja, jetzt sehen sie es in ihr. Als sie den Flur erreichen, schwitzen die Männer schon vor Anstrengung, weil sie sich mühsam beherrschen müssen, ihr nicht den Kopf an der Wand zu zerschmettern. Der eine würde ihr ohne Zögern ins Auge schießen, der andere würde ihr auf der Stelle die Gurgel durchschneiden. Oben an der Treppe angekommen, würden sie die Kreatur am liebsten hinunterschleudern.

Die Kinderfrau hält sie in Zaum. Sie erteilt flüsternd Befehle, beruhigt sie mit starken Fingern an Armen oder Rücken.

Erinnert sie an den Auftrag, den es zu erledigen gilt, gegen Geld.

»Denkt nicht drüber nach!«, sagt die Kinderfrau eindringlich und beschwörend. »Denkt an gar nichts. Schleppt sie hier raus, und weg sind wir.«

Das große Haus ist heute Nacht still, bis auf unsere Eindringlinge, die mit angehaltenem Atem und ihrer gefesselten Last über Flure schleichen. Auf lose Dielen und knarrende Türen und leichte Schläfer achten.

Aber die Dienstboten schlummern weiter. Die Haushälterin, ordentlich gebettet, hübsch mit Schlafmütze und Rüschen (wie ein Löffel, der »für gut« aufbewahrt wird) inspiziert in ihren Träumen die Wäscheschränke. Sie lächelt beim Anblick von makellosen Stapeln, himmlisch frisch, sauber wie Wolken. Der Butler, selbst im nachtbehemdeten Schlaf noch korrekt, kontrolliert einen endlosen Keller. Die Flaschen kichern in dunklen Ecken. Sie schieben ihre Korken raus und rufen mit honigsüßen Stimmen nach ihm. Sie singen Lieder von schwer behangenen Reben und sonnigen Berghängen und vergessenen Pflichten – weinselige Betörung! Er umklammert seine Laterne und hört nicht auf sie. Die Hausmädchen in ihren Mansarden-Nestern träumen von Omnibussen und Theaterstücken. Die Köchin schnarcht klangvoll, ungeschält und gut eingeweicht unter warmen Decken, so fest und nach Brandy duftend wie Plumpudding. Sie träumt von unvergleichlichen Soufflés; sie jagt ihnen nach, während sie in einer Pfanne über ein Bratensoßen-Meer...

Erscheint lt. Verlag 18.4.2023
Übersetzer Werner Löcher-Lawrence
Sprache deutsch
Original-Titel The Nightship
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Batavia • Der Freund der Toten • Dutch East India Company • Inselroman • Junge Protagonisten • Kolonialismus • Postkolonialismus • Schiffskatastrophe • Wallabi
ISBN-10 3-8321-8289-6 / 3832182896
ISBN-13 978-3-8321-8289-2 / 9783832182892
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