Eine der Fähigkeiten, die ihm auf seinem Weg nach oben stets unschätzbare Dienste geleistet hatte, war seine Umsichtigkeit. Im Grunde genommen war an Shurukai ein Philosoph verloren gegangen. Er las nicht nur die Werke der alten Meister, er lernte auch daraus und befolgte ihre Ratschläge, wenn es der jeweiligen Situation angemessen war.
Eine seiner liebsten und wichtigsten Weisheiten, die er sich zu einer seiner fünf Lebensregeln erwählt hatte, stammte von Meister Shinor aus dem 5. Jahrhundert und lautete: »Der kluge Fulirr ist sich stets bewusst, dass in jeder Sekunde seines Lebens Unvorhergesehenes geschehen kann. Er rechnet sogar damit, dass es eintritt. Denn wer so auf alles gefasst ist, kann auch von seinem eigenen Tod nicht mehr überrascht werden.«
Shurukai hatte sich immer bemüht, die von Meister Shinor empfohlene Voraussicht zu pflegen. Diese Haltung war ein Teil seines Erfolges. Deshalb stand er der sich immer mehr ausbreitenden Euphorie mit einer gesunden Skepsis gegenüber. Diese Skepsis stammte aus verschiedenen Überlegungen und Tatsachen.
Die Flotte der Fulirr hatte ebenso wie ihre Naarash-Verbündeten bei der Eroberung des Wurmlochs große Verluste hinnehmen müssen. Dass sie ausgerechnet im Augenblick des Triumphes zurückbeordert worden waren, hatte für viel Frustration und Wut in der Flotte gesorgt, die leicht in offene Meuterei hätte umschlagen können. Doch das war durch die gerade erläuterten Nachrichten abgewendet worden.
Trotzdem blieb da noch die Warnung der ehemaligen Verbündeten der Humanen Welten vor einem furchtbaren Feind, der ihren Aussagen zufolge in Trans-Alpha nur darauf lauerte, diesen Teil der Galaxis erobern zu können. Das Nalhsara hatte in direkter Abstimmung entschieden, dass es sich bei dieser Behauptung um Propaganda handelte, die die Fulirr davon abhalten sollte, nach der Kontrolle über das Wurmloch zu greifen.
Doch wenn es keine Propaganda, sondern die Wahrheit war?
Shurukai machte sich keine Illusionen darüber, dass die Restflotte der Fulirr und Naarash in diesem Fall keine Chance hatte. Deshalb teilte er die Euphorie nicht. Das brachte er auch zum Ausdruck, als sein Vorgesetzter, der Oberkommandierende Parrosh, um Meinungen bat.
Aber Parrosh wischte seinen Einwand einfach beiseite. »Sie glauben doch diese Lügen nicht im Ernst, Shurukai? Falls doch, so muss ich sagen, dass ich Sie für intelligenter gehalten habe.«
»Nein, ich glaube sie keineswegs«, erklärte Shurukai ruhig und überging den verächtlichen Ton in der Stimme seines Vorgesetzten. »Aber ich kalkuliere die Möglichkeit ein, dass es die Wahrheit sein könnte. Immerhin waren die Humanen Welten einmal unsere Verbündeten, was noch gar nicht so lange her ist. Deshalb rate ich dringend dazu, Vorkehrungen zu treffen für den Fall, dass sich das, was möglicherweise Propagandalügen sind, wider Erwarten als wahr erweisen sollte.«
»Und Sie glauben, dass die Menschen uns die Wahrheit erzählen, nachdem wir sie gerade gründlich besiegt haben?«
»Ihre Warnung erreichte uns lange vorher und steht in keinerlei Zusammenhang zu den jüngsten Ereignissen«, korrigierte Shurukai geduldig.
Doch Parrosh hatte nicht die Absicht, ihm noch länger Gehör zu schenken. »Ihre Vorsicht ehrt Sie, Shurukai. Wir haben Ihre Bedenken zur Kenntnis genommen. Doch wir haben Wichtigeres zu tun, als uns damit zu beschäftigen.«
Damit war das Gespräch beendet. Shurukai seufzte. Seiner Meinung nach war die Haltung von Parrosh mehr als kurzsichtig. Aber er war nicht in der Position, daran etwas ändern zu können. Vielleicht behielt Parrosh tatsächlich Recht und die neue Entwicklung der Dinge brachte den Fulirr den ersehnten Vorteil.
Doch Shurukai konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass möglicherweise doch alles ganz anders kommen würde …
*
Captain Rena Sunfrost, Kommandantin der STERNENKRIEGER II, saß in ihrem persönlichen Raum und genoss eine Stunde der Ruhe. Sofern man von Ruhe sprechen konnte, wenn es da etliche Berichte durchzugehen gab.
In letzter Zeit scheinen wir überhaupt nicht mehr zur Ruhe zu kommen, dachte sie mit einem Anflug von Müdigkeit. Aber das ist ja auch kein Wunder, nach allem, was in letzter Zeit passiert ist.
Und das war eine Menge. Nachdem die STERNENKRIEGER I bei einem Besuch in Trans-Alpha jenseits des Wurmlochs auf die Etnord gestoßen war und erkannt hatte, welche Gefahr von ihnen ausging, wurde alles getan, um dieser Gefahr zu begegnen. Was nicht gerade leicht war.
Denn die Etnord, jene faustgroßen Parasiten, die einen Wirtskörper übernahmen und ihn irreversibel seiner Persönlichkeit beraubten, waren den Völkern in diesem Teil der Galaxis technisch weit überlegen. Und sie rüsteten bereits eine Armada aus, um die Welten hier zu erobern.
Als ob das nicht schon ausreichte, jedem Menschen Albträume zu bescheren, hielten verschieden Völker das auf dem Gebiet der Humanen Welten befindliche Wurmloch Alpha für einen fetten Bissen, den sie sich unbedingt einverleiben wollten. Die Naarash glaubten offenbar, dahinter läge das Land der Verheißung aus ihren Legenden. Die Fulirr wollten es einfach nur haben, um seine 50.000 Lichtjahre entfernten Schätze auszubeuten, die sie dort vermuteten. Und die Ontiden, die K'aradan und die Genetics hatten sich mit den Humanen Welten verbündet, um auf diese Weise Zugang zum Wurmloch zu erlangen.
Bislang war man davon ausgegangen, dass es sich bei dem Wurmloch um ein natürliches Phänomen handelte, das in gewissen zeitlichen Abständen auftauchte und verschwand. Doch in letzter Zeit verdichteten sich die Anzeichen dafür, dass es ein künstlich erzeugtes Phänomen war.
Die STERNENKRIEGER hatte vor über einem Jahr zum ersten Mal im Tardelli-System eine Anordnung von sieben Monden entdeckt, die ein Überbleibsel jener technisch überaus fortgeschrittenen, wenn auch gänzlich verschwundenen Wesen waren, die die dort lebenden Fash’rar die »Alten Götter« nannten. Vor wenigen Wochen war die STERNENKRIEGER II auf eine weitere Station von sieben Dunkelmonden gestoßen, die sich als Hohlkörper entpuppten und als eine Art Relaisstation dienten, mit denen man offensichtlich ein Wurmloch künstlich erzeugen konnte, was beinahe auch geschehen war. Die STERNENKRIEGER hatte eine dieser Stationen vernichtet, um eben das zu verhindern.
Daraufhin sofort eingeleitete Untersuchungen des Picus-Nebels, in dem das Wurmloch Alpha entstanden war, hatten ergeben, dass auch dieser Nebel ursprünglich aus den Trümmern eines Sieben-Monde-Systems entstanden war. Die STERNENKRIEGER hatte danach noch ein weiteres solcher Systeme gefunden, das ebenso wie das zweite entdecke System von Wesen bewohnt wurde, die sich Rodanag nannten. Offensichtlich waren sie von den Alten Göttern als Stationswächter eingesetzt worden. Diese Siebener-Systeme empfingen 5-D-Impulse, die auf den Aufbau von Wurmlöchern hindeuteten.
Schließlich hatten die Fulirr und Naarash Wurmloch Alpha angegriffen und die Flotten der Humanen Welten und ihrer Verbündeten beinahe vernichtend geschlagen. Doch in dem Moment, als sie nur noch ihre Krallen danach hätten ausstrecken müssen, zogen sie sich zurück. Gleichzeitig war ein unglaublich starker 5-D-Impuls gemessen worden, der tief ins Gebiet der Fulirr hineinführte.
Nicht nur Rena war überzeugt, dass es zwischen beiden Ereignissen einen Zusammenhang gab. Aus diesem Grund hatte das Oberkommando die STERNENKRIEGER in das Gebiet der Fulirr geschickt, um dort nach dem Rechten zu sehen und herauszufinden, wohin der 5-D-Impuls ging.
Natürlich war es eine riskante Sache, denn sie mussten dazu tief in das Gebiet der Fulirr vordringen, in Bereiche, die ihnen unbekannt waren. Außerdem zogen die Fulirr genau dort ihre gesamten noch verbliebenen Kampf verbände zusammen. Und die STERNENKRIEGER war da ganz allein auf sich gestellt.
Die Aussicht gefiel Rena Sunfrost überhaupt nicht. Doch die STERNENKRIEGER II war nun einmal ein SEK, ein Sondereinsatzkreuzer, und genau für solche Missionen konzipiert. Allerdings hatte Rena noch keinen genauen Plan, wie sie vorgehen konnte. Es gab zu viele Variablen und Unbekannten bei dieser Aufgabe zu bewältigen.
Was soll’s? Wir sind schon mit ganz anderen Situationen fertig geworden, dachte Rena.
Aber oft genug nur mit einer gehörigen Portion Glück, erinnerte eine andere Stimme sie. Und wir werden nicht immer Glück haben. Irgendwann erwischt es uns auch. Bedenke, dass du sterblich bist.
Der Türsummer meldete einen Besucher, und Rena ließ ihn eintreten. Es war Lieutenant Commander Steven Van Doren, ihr Erster Offizier.
»Sie sehen besorgt aus, Captain«, stellte er fest, nachdem er ihr gegenüber Platz genommen hatte.
»Besorgt ist wohl nicht der richtige Ausdruck«, korrigierte sie ihn. »Ich habe mir Gedanken über unsere Vorgehensweise bei dieser Mission gemacht. Und ich bin für jeden Vorschlag offen. Haben Sie eine Idee?«
Van Doren war ein erprobter Offizier mit einer um 16 Jahre längeren Erfahrung im Flottendienst als Rena. Obwohl es sie manchmal gewaltig nervte, dass er vieles aufgrund dessen einfach besser wusste, schätzte sie doch seinen Rat. Meistens jedenfalls …
»Ich empfehle Taktik R.U.R.«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Reinschleichen –...