MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken - 7/2022 (eBook)

Nr. 878, Heft 7, Juli 2022
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11903-9 (ISBN)

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MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken - 7/2022 -
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Gleich drei Bücher unter Trump tätiger (und leidender) Diplomaten und Bürokraten liest Benjamin Nathans: Das Sittenbild, das sie zeichnen, lässt einem erneut das Blut in den Adern gefrieren, nicht zuletzt angesichts von Trumps Impeachment-würdigem Ukraine-Erpressungsversuch. Ulrich K. Preuß fragt sich, mit wie viel Recht eine Russland-Politik, die das Land in Europa einzubinden versuchte, nun als eindeutig falsch, wenn nicht ihrerseits verbrecherisch verurteilt wird. Über die Ethik der Bilder des Krieges in Zeiten sozialer Medien denkt Charlotte Klonk nach. Eva Geulen porträtiert die (Walter-Benjamin)Porträtistin Hannah Arendt. Über Zivilgesellschaft und Krieg und über Bekenntniszwang in Zeiten des Kriegs schreibt Gunnar Hindrichs in seiner Philosophie-Kolumne. Philipp Oswalt erwidert auf Lothar Machtans Versuch, die Bilder der Begegnung von Kronprinz Wilhelm und Hitler beim 'Tag von Potsdam' zu entschärfen - und zeiht zudem Martin Sabrow der Verharmlosung zugunsten des Wiederaufbaus der Potsdamer Garnisonkirche. Felix Heidenreich sichtet aktuell debattierte Optionen zu mehr Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der Demokratie - über das periodische Ankreuzen von Wahlzetteln hinaus. Um Militärdienst, Gefechtseifer und Motive zum Kämpfen dreht sich ein Essay, in dem Wolfgang Fach vor dem Horizont der Gegenwart auf die Vergangenheit blickt. Mit der politischen Figur des Parasiten und ihrer ständigen Wiederkehr befasst sich Mathias Lindenau. In Hanna Engelmeiers Schlusskolumne geht es um (den Unterschied zwischen) Feindseligkeit und Feindschaft.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

DOI 10.21706/mr-76-7-18

 Ulrich K. Preuß

Über Fehler in der Politik


Zum Unterschied zwischen einem Verbrechen und einem Fehler


»Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein Fehler« – dieser dem französischen Staatsmann Charles Maurice de Talleyrand zugeschriebene Aphorismus kommt einem in den Sinn, wenn man die Diskussion darüber verfolgt, wie Bundespräsident Steinmeier über seine Russland-Politik als Außenminister der Großen Koalition unter Angela Merkel spricht und sich dabei vor allem gegen Vorwürfe des ukrainischen Botschafters in Deutschland und deren mediales Echo verteidigt. Im Spiegel-Interview vom 8. April 2022 erklärte er zu dem Vorwurf, dass er persönlich bis zuletzt an Nord Stream 2 festgehalten habe: »Das war ein Fehler, ganz klar. Ich habe mich zu lange damit beruhigt, dass Planungen für diese Pipeline schon vor 2014 stattgefunden hatten, und ich habe auf Dialog gesetzt.« Auf den vom Spiegel zitierten ukrainischen Vorwurf, er habe jahrelang eine naive Russland-Politik betrieben, antwortete er: »Wir sollten Putin nicht den Gefallen tun, die Verantwortung für seinen Angriffskrieg auf uns zu ziehen. Unabhängig davon müssen wir jetzt natürlich genau aufarbeiten, wo wir Fehler gemacht haben«, wobei er in das »Wir« ausdrücklich sich selbst einbezieht.

In der Presse wurden diese Aussagen wie das Geständnis eines Angeklagten behandelt.1 Dass Steinmeier von seinen Fehlern sprach, davon, dass »wir […] gescheitert [sind] mit der Einrichtung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in das Russland einbezogen wird«, sowie »gescheitert mit dem Ansatz, Russland in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur einzubinden«, wurde von der medialen Öffentlichkeit als »Eingeständnis« bewertet – ein Fehler wird hier bei uns offenbar nicht als ein Anderes zu einem Verbrechen, sondern als die gesteigerte Form eines Verbrechens angesehen. Dabei enthalten diese Sätze zunächst einmal lediglich die sachliche Feststellung, dass sich gewisse Erwartungen der deutschen Außenpolitik gegenüber Russland nicht erfüllt haben.

Konsultiere ich meinen Brockhaus aus dem Jahr 1898, so lese ich: »Fehler, Abweichung von dem Normalen und Zulässigen«. Mehr als ein Jahrhundert später heißt es auf Wikipedia: »Ein Fehler ist die Abweichung eines Zustands, Vorgangs oder Ergebnisses von einem Standard, den Regeln oder einem Ziel« – also nicht bloß eine Abweichung vom festgefügten »Normalen und Zulässigen«, sondern auch von einem Ziel, das heißt einem zukünftigen Zustand, auf dessen Herbeiführung man Einfluss nehmen kann. Diese – lexikalische – Erweiterung des Fehlerbegriffs ist bemerkenswert, weil sie so etwas wie eine Verantwortung für die Zukunft durch menschliches Handeln bestimmt.

In dieser nur scheinbar kleinen Erweiterung des Fehlerbegriffs spiegelt sich der Unterschied zwischen dem obrigkeitsstaatlichen Weltbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts und dem Skeptizismus des Demokratiekonzepts zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das den Bereich der menschlichen Verantwortung weit in die Zukunft hinein erweitert. Denn ein Fehler besteht ja nicht in der bloßen Abweichung eines Zustands von bestimmten Normen und Zielen; der Kern des Fehlerbegriffs besteht in der Zurechnung dieser Abweichung, das heißt in der Identifizierung eines verantwortungsfähigen Akteurs für diese Abweichung. Ein Erdbeben, dessen Folgen bekanntlich erheblich von allen Standards des Normalen abweichen, ist kein Fehler. Es ist weder ein Verbrechen noch eine Sünde. Es ist das Wirken einer »höheren Gewalt«, für die es definitionsgemäß keinen menschlichen Verantwortlichen gibt.

Es ist klar, dass mit der Erweiterung des Fehlerbegriffs und der darin implizierten Ausdehnung der Reichweite menschlicher Verantwortlichkeit grundlegende Veränderungen der Struktur des Sozialen verbunden sind. Begriffe wie »Fehlerkultur«, »kreative Fehler« oder die vor allem in der Diskussion über die Risiken moderner Technik erhobene Forderung nach »fehlerfreundlichen Technikkonzepten« ebenso wie die psychologische Teildisziplin der Fehlerforschung sind Anzeichen dafür, dass Fehler als Teil der Normalität unseres gesellschaftlichen Lebens anerkannt werden, vergleichbar etwa mit Delinquenz oder dem Tod.

Was mag Talleyrand wohl gemeint haben, als er meinte, ein Fehler könne schlimmer sein als ein Verbrechen? Während ich über diese Frage nachdenke, ertappe ich mich bei dem Tagtraum eines im »selbstkritischen Kampf« verstrickten Robert Habeck zwei Jahre nach der Beendigung des Ukraine-Krieges, wie er erklärt, dass er tiefen Schmerz und aufrichtiges Bedauern für die Leiden des ukrainischen Volkes empfinde – und auch Reue, denn schließlich habe ihm sein grüner Kabinettskollege Cem Özdemir zu Ostern 2022 geradezu einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben, als dieser vorhersagte, bei einer weiteren Fortsetzung des Krieges in der Ukraine werde Afrika in einer Hungersnot versinken. Er habe daher kurz darüber nachgedacht, Annalena zu bitten, umgehend eine Europa-Afrika-Gipfelkonferenz zu organisieren, um mit der geballten Macht einer euroafrikanischen »Allianz gegen den Hunger« Putin unter Druck zu setzen, sich an den Verhandlungstisch zu begeben; Druck auch auf die USA, die das eigentlich auch nicht so recht wollten – aber dann habe er gedacht, erst einmal müsse Putin militärisch besiegt werden, auch mit schleunigst bereitzustellenden deutschen Waffen –, »das war ein Fehler«, erklärt er, und, auf der Höhe seines selbstreflexiven Kampfes, fügt er hinzu, »ich irrte mich, wie damals fast einhellig die deutsche und europäische Presse, aber ich will mich nicht dahinter verstecken, es war mein Fehler«.

Ich erwache aus meinem Tagtraum und denke, dass es das ist, was Talleyrand gemeint haben könnte, als Zyniker der Macht aber sicherlich nicht gemeint hat: Schlimmer als ein Verbrechen ist das Versäumnis einer Gelegenheit, das unendliche Leid vieler Menschen zu verkleinern.

Scheitern als Fehler?


Was aber haben jene gemeint, die die Kritik des ukrainischen Botschafters aufgenommen haben und Steinmeier nun den Fehler vorwerfen, seine Russland-Politik sei naiv, nachsichtig, ja geradezu freundschaftlich gegenüber Putin und seinem russischen Amtskollegen Lawrow gewesen? Und was meinte Steinmeier selbst, als er unter massivem öffentlichem Druck schließlich seine eigene Politik als Fehler bezeichnete? Die obigen Zitate legen nahe, dass er damit das Scheitern seiner Bemühungen eingestand, Russland in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubeziehen. Das klingt plausibel, ist aber nicht überzeugend: Die bloße Tatsache, dass ein Versuch scheitert, macht ihn ja noch nicht fehlerhaft. Andernfalls dürften Politiker nur solche Projekte verfolgen, deren Erfolg von vornherein feststeht, sich also nur im Rahmen des »Normalen und Zulässigen« bewegen. Das wäre gleichbedeutend mit der Abschaffung von Politik, denn diese besteht zu großen Teilen in der Verfolgung von Zielen, deren Erreichen äußerst ungewiss ist, sie muss, zumindest wenn sie auf kreative Lösungen setzt, den Rahmen des »Normalen« zwangsläufig überschreiten.

Niemand hat bislang behauptet, Steinmeier habe mit seiner Russland-Politik den Rahmen des »Zulässigen« überschritten. Wenn also seine Russland-Politik einschließlich seiner Verteidigung der Pipeline Nord Stream 2 ein Fehler gewesen sein soll, dann könnte dieser nur darin bestanden haben, dass ihn die Warnungen vor den Folgen dieser Politik aus dem In- und Ausland seinerzeit nicht zu einer Kursänderung veranlassten. War das ein Fehler?

In funktionierenden Demokratien wie in der Bundesrepublik und den übrigen EU-Mitgliedstaaten (möglicherweise mit der Ausnahme von Ungarn) ist es üblich, dass die Politiken der jeweiligen Regierungsmehrheit der öffentlichen Kritik im In- und Ausland ausgesetzt sind. Es kann keine Maxime geben, nach der die Regierungspolitiker jedem Druck der öffentlichen Kritik und der dort ausgesprochenen Warnungen nachgeben müssten oder sollten – im Gegenteil, sie würden damit ihre verfassungsrechtlich verankerte Verantwortlichkeit verletzen, nach ihrem persönlichen besten Wissen und Gewissen die von ihnen für richtig gehaltene Politik zum »Wohle des deutschen Volkes« zu verfolgen, wie es in ihrem Amtseid heißt. Steinmeiers damaliges Festhalten an der von ihm für richtig gehaltenen Russland-Politik begründete daher keinen Fehler.

Damit ist nicht gesagt, dass das Scheitern einer Politik keinerlei Konsequenzen hat. Das von Steinmeier selbst erklärte Scheitern seiner Politik der »Annäherung durch ...

Erscheint lt. Verlag 1.7.2022
Reihe/Serie MERKUR
MERKUR
MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Debatte • Essay • Essayistik • Essays • Geschichte • Gesellschaft • Impeachment • Kultur • Kunst • Literatur • Philosophie • Politik
ISBN-10 3-608-11903-5 / 3608119035
ISBN-13 978-3-608-11903-9 / 9783608119039
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