Was du nicht siehst (eBook)
272 Seiten
Edition Michael Fischer (Verlag)
978-3-7459-1043-8 (ISBN)
'Ich sterbe und keiner sieht es.' Solange sie sich zurückerinnern kann, lebt Franzi mit Angststörungen, später kam die Diagnose Borderline dazu. Wovor sie sich nicht fürchtet, ist, sich verletzlich zu zeigen. In ihrem Buch erzählt sie nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern bricht auch mit dem Stigma psychischer Krankheiten und legt schockierende Missstände in unserem psychiatrischen System offen.
Wer den Instagram-Account von Franziska Elea besucht, sieht Bilder einer schönen jungen Frau: Sie trägt hübsche Kleider, führt eine glückliche Beziehung, zeigt sich verträumt in Blumenfeldern oder lachend am Urlaubsstrand - und über 200.000 Leute schauen ihr dabei zu. Doch kaum jemand weiß, was sich hinter der nur scheinbar perfekten Fassade verbirgt:
Eine Kindheit und Jugend, die von emotionaler Vernachlässigung geprägt war, mehrere stationäre Therapie-Aufenthalte, der Wunsch, einem perspektivlosen Umfeld zu entfliehen, in dem Franzi immer die Aussätzige war. In ihrem Buch gibt sie Einblicke in die Ursachen ihrer Krankheitsgeschichte, schildert ihre Erfahrungen in der Psychiatrie, die lange Suche nach wirklicher Hilfe und schließlich ihren Weg zur erfolgreichen Influencerin. Aufklärung im Bezug auf die komplexe Persönlichkeitsstörung Borderline liegt ihr ebenso am Herzen wie ein Appell an alle Leser*innen: Über psychische Erkrankungen zu sprechen darf kein Tabu mehr sein und sich therapeutische Unterstützung zu suchen ist keine Schande.
Ein Buch für alle, die ihren Platz in der Welt suchen, durchs System gefallen sind, nie aufgegeben haben oder gerne davon lesen.
<p>Franziska Dully wurde 1993 in einer der strukturschwächsten Gegenden Deutschlands geboren, ihre Kindheit und Jugend waren geprägt von schwierigen Familienverhältnissen und mündeten in der Psychiatrie. Als Franziska Elea bloggt sie für mehr als 200.000 Menschen über Fashion, Lifestyle - und ihre Borderline-Diagnose. Es liegt ihr am Herzen, mit dem Stigma psychischer Erkrankungen zu brechen, und Betroffene zu ermutigen, sich Hilfe zu holen.</p>
amp;lt;p>Franziska Dully wurde 1993 in einer der strukturschwächsten Gegenden Deutschlands geboren, ihre Kindheit und Jugend waren geprägt von schwierigen Familienverhältnissen und mündeten in der Psychiatrie. Als Franziska Elea bloggt sie für mehr als 200.000 Menschen über Fashion, Lifestyle – und ihre Borderline-Diagnose. Es liegt ihr am Herzen, mit dem Stigma psychischer Erkrankungen zu brechen, und Betroffene zu ermutigen, sich Hilfe zu holen.</p>
Das hochsensible Kind – fünf Jahre später
Mittwoch, 7:30 Uhr bei Familie Dully in Rodalben – ein Tag wie jeder andere, nur schlimmer: Mama war zu dem Zeitpunkt hochschwanger mit meiner Schwester Ella und ich ging mittlerweile in den Kindergarten am Ende der Straße. Wenn ich in der Früh aufstand, war Papa schon lange auf der Arbeit, also verbrachten wir den Morgen immer alleine. Unsere Dreizimmerwohnung wurde mit dem anstehenden Geschwisterchen allmählich ein wenig eng. Ich erinnere mich noch genau an den grauen Teppichboden im Kinderzimmer und die typischen, unschönen, braunen Retrofliesen, die in den 90ern in nahezu jeder unrenovierten Wohnung zu finden waren. Inzwischen hatte ich aufgehört, pausenlos zu schreien, war aber keineswegs ein „einfaches“ Kind. Ich langweilte mich immerzu, brauchte dauerhaft neuen Input, und war so sensibel, dass mir alles zu heiß, zu kalt, zu kratzig oder zu scharf war.
„Franzi, jetzt komm her, du musst deine Zähne putzen!“, rief Mama aus dem Badezimmer. Schon bei dem Begriff Zähneputzen zog sich alles in mir zusammen. Nur widerwillig, und weil ich wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte, schlurfte ich zu ihr und stellte mich ans Waschbecken. Mama nahm die rosa Kinderzahnpasta mit dem breit lächelnden Krokodil auf der Tube in die Hand und presste ein paar Millimeter davon auf meine Zahnbürste.
„Bitte nicht so viel!“, jammerte ich wie immer, wissend, was mir in den nächsten Minuten bevorstand.
„Franzi, das ist nicht viel“, entgegnete meine Mutter genervt.
Ich spürte, wie sehr sie die tägliche Diskussion leid war.
„Warum kaufst du denn nicht die Zahnpasta mit dem Ernie? Die hier ist so scharf!“
„Die gab es im Supermarkt nicht mehr und wir schmeißen die hier jetzt nicht weg. Das kostet doch alles Geld, Franzi!“
Nachdem ich diese Diskussion verloren hatte, öffnete ich mit verzerrtem Gesicht und geschlossenen Augen meinen Mund und Mama fing an, mir die Zähne zu putzen. Nach fünf Sekunden begann ich zu jammern und zu schreien: „Aua, scharf! Das brennt!“
„Franzi, das kann gar nicht wehtun. Das ist eine Kinderzahnpasta! Die ist nicht scharf!“, entgegnete Mama, aber ich heulte weiter. In meiner Erinnerung breitete sich ein stechender Schmerz in meinem Mund aus, der über mein Zahnfleisch wanderte und tief bis in den Rachen hinein zu spüren war. Ich konnte wie so oft nicht verstehen, wie andere Kinder das aushielten.
Noch bevor die drei Minuten um waren, zog Mama die Zahnbürste gestresst aus meinem Mund. Mit einem angewiderten „Bäh!“ spuckte ich die Reste ins Waschbecken. Ich spuckte und spuckte und gurgelte mit Wasser, bis das Brennen in meinem Mund nachließ. Warum glaubte sie mir denn bloß nicht, dass das Ganze wirklich schmerzhaft für mich war?
Normalerweise ließ sie mich nicht vorschnell vom Haken, aber heute hatte sie weder Lust noch Zeit, mit mir zu diskutieren.
„Na gut, dann zieh dich jetzt an, wir haben gleich einen Arzttermin“, sagte sie und bugsierte mich bereits in mein Kinderzimmer. Entsetzen machte sich in mir breit. Oh nein! Das würde ja schon wieder wehtun!
„Ich geh nicht zum Arzt!“, protestierte ich.
„Doch du gehst, wir müssen da hin, keine Widerrede!“
Ein paar Minuten lang bettelte ich noch erfolglos, dann gab ich auf und schlüpfte schmollend in meine Klamotten. Ich konnte an nichts anderes als an den bevorstehenden Termin denken. Was würde heute wieder passieren? Wie viele Schmerzen musste ich aushalten und was würden sie mit mir anstellen?
Meine letzte Erinnerung an einen Besuch beim städtischen Kinderarzt Dr. Nase zog an meinem geistigen Auge vorbei. Wegen einer Spritze hatte es viel Geschrei gegeben, viele Tränen, eine gestresste, hilflose Mutter und Arzthelferinnen, die mich festgehalten hatten. Und Schmerzen. Schmerzen, die ich zuvor weder hatte absehen noch einschätzen können. In meiner Fantasie schnitten sie mich bei vollem Bewusstsein auf, um einen Tumor aus meinem Bauch zu entfernen. Dem war natürlich nicht so, aber Kinder haben oft irrationale Ängste und Zweifel, die für sie selbst sehr real sind. Ich hatte mangels Erfahrung noch nicht das umfassende Weltverständnis eines Erwachsenen, das einen Menschen in der Gewissheit wiegt, ohne Zustimmung normalerweise nicht einfach operiert zu werden. Außerdem wusste ich nicht, dass Fünfjährige sehr selten Tumore haben. All meine Erinnerungen an Arztpraxen waren leidvoll und schrecklich und ich hatte keine Idee, warum es an diesem Tag anders werden sollte.
Schon im Auto, auf dem Weg in die Stadt begann ich demnach wieder zu weinen.
„Mama ich will nicht zum Dr. Nase, ich habe Angst!“
„Da passiert doch nichts! Wovor hast du denn Angst?“, fragte sie.
„Der tut mir weh! Können wir nicht bitte an einem anderen Tag hingehen?“
„Franzi, der tut dir überhaupt nicht weh, bitte, ich habe heute keine Energie dafür. Wenn du brav bist, gehen wir danach ein Eis essen, okay?“
Mein Schluchzen wurde ein wenig leiser. „Wie viele Kugeln kriege ich dann?“, wimmerte ich.
„So viele du willst!“, antwortete sie.
„Krieg ich fünf?“
„Ja, du kriegst fünf, aber nur wenn du mich heute nicht blamierst …“
In der Gewissheit, erfolgreich verhandelt zu haben, versuchte ich, meine Angst irgendwie zu unterdrücken. Ich musste mich jetzt einmal kurz zusammenreißen und danach würde ich Zitrone, Schokolade, Erdbeere, Vanille und Stracciatella nehmen! Eis konnte ich ohne Ende essen, aber die Ration wurde von meinen Eltern leider immer auf drei Portionen beschränkt. Mama erzählte mir oft, wie viel Eis sie gegessen hatte, als sie mit mir schwanger gewesen war. Damals musste mein Vater täglich zu Wilhelms ins Dorf fahren, um ihr eine große Eis-Meringue zu holen. Womöglich gibt es da einen Zusammenhang mit meiner Vorliebe.
Als wir die Kinderarztpraxis erreichten, wurde mir schnell übel. Obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte, konnte ich meine Angst einfach nicht kontrollieren. Schon im Eingangsbereich des tristen, grauen Reihenhauses in Pirmasens roch es nach Desinfektionsmittel. Dr. Nase hatte den Ruf, der beste Kinderarzt in der Gegend zu sein. Sicher nicht der empathischste, aber der Beste. Stand meines heutigen Wissens über Psychologie würde ich ihn vielleicht sogar als Psychopathen bezeichnen. Seine Mitarbeiterinnen hingegen waren nett und jedes Kind bekam nach der Behandlung einen Lolli. Gerade als wir an der Anmeldung ankamen, verließ ein Junge vergleichbaren Alters den Behandlungsraum. Ihm wurde von der Empfangsdame zum Abschied ein großer Chupa Chups-Lutscher in die Hand gedrückt. „Hier, weil du so brav warst. Ganz toll!“, sagte sie.
Mich packte der Ehrgeiz. Ich würde meine Mama heute genauso stolz machen wie dieser Junge seine Mutter. Doch wir wurden erst einmal ins Wartezimmer verwiesen. Dort verbrachte ich für gewöhnlich die wohl schlimmsten dreißig Minuten meines Lebens. In meinem Kopf spielten sich blutige Operationen und hoffnungslose Wiederbelebungsversuche an reglosen Kinderkörpern ab, wie ich sie aus dem Fernseher kannte. Daher rechnete ich bei jedem Arztbesuch von vornherein mit einer Hiobsbotschaft, die mir den sicheren Tod in naher Zukunft vorhersagen würde. Dabei sollte ich ja heute eigentlich „nur“ geimpft werden. Das allerdings war aus meiner Sicht aus mehreren Gründen problematisch: Erstens würde eine mir unbekannte Flüssigkeit in meinen Körper injiziert werden. Und die könnte womöglich nachhaltig Spuren hinterlassen, mich irgendwie negativ beeinflussen oder gar umbringen. Was, wenn ich allergisch darauf reagiere? Mir ging es bisher an jedem Tag meines kurzen Lebens gut mit meiner körperlichen Verfassung. Warum daran etwas ändern? Zweitens war da diese unfassbare Angst vor der Nadel sowie die Ungewissheit darüber, wann der Stich stattfinden und wie tief die Spitze in meinen Körper eindringen würde. Vielleicht so tief, dass sie auf der anderen Seite meines Arms wieder herauskam? Woher sollte ich das wissen? Vielleicht ging sie ja auch in den Po, das wäre dann noch schlimmer, weil es mir schon als kleines Kind sehr unangenehm war, mich vor irgendwem zu entblößen.
Ein unaufhörlicher Gedankenterror, bis wir ins Behandlungszimmer gebeten wurden. Schon damals fiel es mir ungewöhnlich schwer, meine Gefühle irgendwie im Zaum zu halten. Medizinische Einrichtungen wie diese assoziierte ich mit dem Tod und als ich Dr. Nase inklusive all seiner Folterinstrumente auf mich warten sah, brannten mir die Sicherungen durch. Ich heulte, als würde der Sensenmann nach meinen Füßen greifen, noch bevor mich überhaupt jemand berührt hatte.
Dr. Nase hatte in diesen Situationen so etwas wie einen Standardspruch parat, den er immer aufsagte, wenn ein Patient Probleme machte: „Die Mutter beruhigt das Kind.“
Nicht etwa: „Können Sie Ihre Tochter vielleicht mal kurz in den Arm nehmen?“ Nein. „Die Mutter beruhigt das Kind.“ Immer wieder.
Meine Mutter konnte ihr Kind aber nicht beruhigen. Ich kann nachvollziehen, wie stressig und unangenehm das für sie gewesen sein muss. Sie wusste einfach nicht, was sie mit ihrer Tochter tun sollte, die aus jeder Mücke einen Elefanten machte und ständig weinte. Beim Zähneputzen, beim Anziehen, beim Spazierengehen, beim Essen, immer gab es „Theater“, wie sie es nannte.
Wenn fremde Menschen dabei zuschauten, schämte sich meine Mutter. Für ihren unkontrollierbaren Sprössling, die eigene Machtlosigkeit und ihren reißenden Geduldsfaden.
„Komm, Franzi, du kriegst auch ein Eis“, versuchte sie mich mit dünner Stimme zu besänftigen. „Es...
Erscheint lt. Verlag | 17.1.2023 |
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Co-Autor | Saskia Hirschberg |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Autobiografie • Biografie • Borderlinestörung besser verstehen • Borderlinestörung bewältigen • Borderline Syndrom • eigene Erfahrung • Erfahrung Borderline • Krankheitsgeschichte Borderline • Leben mit Angststörung • Memoir • Mental Health • Persönlichkeitsstörung • Psychische Erkrankung • Zwänge |
ISBN-10 | 3-7459-1043-5 / 3745910435 |
ISBN-13 | 978-3-7459-1043-8 / 9783745910438 |
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