Fairy Tale (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
912 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-29548-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fairy Tale - Stephen King
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Der siebzehnjährige Charlie Reade hat kein leichtes Leben. Seine Mutter starb, als er sieben war, und sein Vater ist dem Alkohol verfallen. Eines Tages offenbart ihm der von allen gemiedene mysteriöse Nachbar auf dem Sterbebett ein Geheimnis, das Charlie schließlich auf eine abenteuerliche Reise in eine andere, fremde Welt führt. Dort treiben mächtige Kreaturen ihr Unwesen. Die unterdrückten Einwohner sehen in Charlie ihren Retter. Aber dazu muss er erst die Prinzessin, die rechtmäßige Gebieterin des fantastischen Märchenreichs, von ihrem grausamen Leiden befreien.

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.

Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.

Kapitel eins

Die verfluchte Brücke. Das Wunder. Das Geheul.

1

Ich bin mir sicher, dass ich diese Geschichte erzählen kann. Sicher bin ich mir allerdings auch, dass niemand sie glauben wird. Das macht nichts. Es reicht mir, sie zu erzählen. Das Problem – das bestimmt viele Schriftsteller haben, nicht nur Frischlinge wie ich – ist nur: Wo anfangen?

Zuerst habe ich an den Schuppen gedacht, weil meine Abenteuer da richtig angefangen haben, aber dann wurde mir klar, dass ich zuerst von Mr. Bowditch erzählen muss und davon, wie wir uns angefreundet haben. Allerdings wäre es ohne das Wunder, das meinem Vater widerfahren ist, nie dazu gekommen. Ein sehr gewöhnliches Wunder, könnte man sagen, eines, das seit 1935 viele Tausend Männer und Frauen erlebt haben, aber als Kind kam es mir wie ein einzigartiges Wunder vor.

Nur ist das auch nicht der richtige Startpunkt, weil mein Vater ohne die verfluchte Brücke wohl kein Wunder gebraucht hätte. Deshalb muss ich dort anfangen, bei der verfluchten Sycamore Street Bridge. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, sehe ich deutlich einen roten Faden, der durch die Jahre zu Mr. Bowditch und dem mit einem Vorhängeschloss gesicherten Schuppen hinter seiner maroden viktorianischen Villa führt.

Ein Faden aber ist leicht zu zerreißen. Also ist es kein Faden, sondern eine Kette. Eine starke. Und ich war der Junge mit der Fessel ums Handgelenk.

2

Der Little Rumple River fließt durch das Nordende von Sentry’s Rest (für Einheimische einfach nur Sentry), und bis 1996, dem Jahr meiner Geburt, wurde er von einer Holzbrücke überspannt. Das war das Jahr, in dem die Inspektoren von der staatlichen Straßenbaubehörde sie begutachtet und für baufällig befunden haben. Die Leute in unserem Teil von Sentry hätten das schon seit 1982 gewusst, meinte mein Vater. Offiziell war die Brücke für ein Gewicht von viereinhalb Tonnen zugelassen, aber wenn die Einheimischen mit einem voll beladenen Pick-up unterwegs waren, mieden sie sie im Normalfall und nahmen stattdessen die Schnellstraße, was ein ebenso nerviger wie zeitraubender Umweg war. Mein Dad sagte, selbst in einem Pkw habe man spüren können, wie die Bohlen unter den Rädern zitterten, bebten und rumpelten. Das Ding war gefährlich, da hatten die Inspektoren durchaus recht, aber genau das ist die Ironie des Schicksals. Wenn man die alte Holzbrücke nämlich nicht durch eine aus Stahl ersetzt hätte, wäre meine Mutter womöglich noch am Leben.

Der Little Rumple River ist tatsächlich klein, weshalb der Bau der neuen Brücke nicht lange dauerte. Nachdem man die hölzerne Struktur abgebrochen hatte, wurde das neue Bauwerk schon im April 1997 für den Verkehr freigegeben.

»Der Bürgermeister hat ein Band durchgeschnitten, Pfarrer Coughlin hat das verfluchte Ding gesegnet, und das war’s«, sagte mein Vater eines Abends. Damals war er ziemlich betrunken. »Für uns war das kein großer Segen, Charlie, was?«

Nach einem Lokalhelden, der in Vietnam gestorben war, erhielt das Ding den Namen Frank Ellsworth Bridge, aber die Einheimischen sprachen einfach nur von der Sycamore Street Bridge. Die Sycamore Street war auf beiden Seiten davon sauber und glatt asphaltiert, aber die Oberfläche der Brücke – zweiundvierzig Meter lang – bestand aus einem stählernen Gitterrost, der summte, wenn Personenwagen darüberfuhren, und rumpelte, wenn Lastwagen ihn überquerten. Die durften das jetzt, weil die Brücke nun für fünfundzwanzig Tonnen ausgelegt war. Nicht stabil genug für einen voll beladenen Sattelzug, aber Fernfahrer nutzten die Sycamore Street ohnehin nie.

Im Stadtrat diskutierte man jedes Jahr darüber, ob man die Oberfläche asphaltieren und wenigstens einen Gehweg abtrennen sollte, aber es hatte jedes Jahr den Anschein, an anderen Stellen würde das Geld dringender gebraucht. Ich glaube nicht, dass ein Gehweg meine Mutter gerettet hätte, eine Asphaltierung aber vielleicht schon. Sicher kann man das allerdings nicht wissen, nicht wahr?

Diese verfluchte Brücke.

3

Wir wohnten auf halber Höhe vom langen Sycamore Street Hill, etwa eine Viertelmeile von der Brücke entfernt. Auf der anderen Seite des Flusses war ein kleiner Laden mit Tankstelle, der sich Zip Mart nannte. Dort bekam man alle üblichen Sachen, von Motoröl über Wonder Bread bis hin zu Törtchen Marke Little Debbie, aber auch Brathähnchen, persönlich zubereitet von Mr. Eliades, dem Ladenbesitzer (in der Nachbarschaft als Mr. Zippy bekannt). Die Hähnchen waren genau das, was das Schild im Fenster behauptete: DIE BESTEN IM LAND. Ich erinnere mich noch, wie lecker sie waren, aber nach dem Tod meiner Mutter habe ich nie wieder einen Bissen davon gegessen. Hätte ich es versucht, so hätte ich ihn gleich wieder rausgewürgt.

An einem Samstag im November 2003 – der Stadtrat diskutierte immer noch darüber, ob man die Brücke asphaltieren solle, und war immer noch der Meinung, damit könne man ein weiteres Jahr warten – sagte meine Mutter, sie wolle zum Zippy runtergehen, um uns fürs Abendessen Hähnchenteile zu besorgen. Mein Vater und ich sahen uns gerade ein Footballspiel an.

»Du solltest den Wagen nehmen«, sagte mein Vater. »Es ist Regen vorhergesagt.«

»Ich brauche ein bisschen Bewegung«, sagte meine Mutter. »Und außerdem ziehe ich meinen Rotkäppchenmantel über.«

Und den trug sie, als ich sie zum letzten Mal sah. Die Kapuze hatte sie nicht hochgezogen, weil es noch nicht regnete, sodass ihr die Haare über die Schultern fielen. Ich war sieben Jahre alt und fand, dass meine Mutter die schönsten roten Haare auf der Welt hatte. Als sie sah, wie ich sie durchs Fenster hindurch beobachtete, winkte sie. Ich winkte zurück, dann wandte ich die Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu, wo das Team der Louisiana State University einen Angriff startete. Bekanntlich weiß man im Leben nie, wann die nächste Falltür kommt, oder?

Es war nicht meine Schuld und die von Dad auch nicht, obwohl ich weiß, dass er sich Vorwürfe gemacht hat und dachte: Wenn ich bloß meinen Arsch hochgekriegt und sie zu dem verfluchten Laden gefahren hätte. Wahrscheinlich war es nicht einmal die Schuld des Mannes in dem Klempnerwagen. Die Cops sagten, er sei nüchtern gewesen, und er schwor, dass er sich ans Tempolimit gehalten habe, das in unserem Wohngebiet fünfundzwanzig Meilen betrug. Selbst wenn das stimmte, sagte Dad, hatte der Mann sicher den Blick von der Straße abgewandt, wenn auch nur ein paar Sekunden lang. Damit hatte Dad wohl recht. Er war Schadenregulierer bei einer Versicherung und hat mir einmal erzählt, bei dem einzigen reinrassigen Unfall, von dem er je gehört habe, sei ein Mann in Arizona durch einen Meteoriteneinschlag auf den Kopf ums Leben gekommen.

»Irgendjemand hat immer einen Fehler gemacht«, sagte Dad. »Was nicht dasselbe ist wie die Schuld haben.«

»Gibst du dem Mann, der Mama überfahren hat, denn die Schuld?«, fragte ich.

Darüber dachte er nach. Hob sein Glas an die Lippen und trank. Das war, sechs bis acht Monate nachdem Mama gestorben war, und inzwischen verzichtete er weitgehend auf Bier. Er hielt sich hauptsächlich an Gilbey’s Gin.

»Ich versuch, das nicht zu tun. Meistens schaffe ich das auch. Es sei denn, ich wache nachts um zwei auf, und im Bett liegt niemand außer mir. Dann gebe ich ihm die Schuld.«

4

Mama ging den Hügel hinab. Da, wo der Gehweg endete, stand ein Schild. Sie ging an dem Schild vorbei und überquerte die Brücke. Inzwischen dämmerte es, und es fing an zu nieseln. Sie betrat den Laden, wo Irina Eliades (natürlich als Mrs. Zippy bekannt) ihr erklärte, in drei, höchstens fünf Minuten sei wieder etwas fertig. Irgendwo in der Pine Street, nicht weit von unserem Haus entfernt, hatte der Klempner gerade seinen letzten Auftrag für diesen Samstag erledigt und stellte den Werkzeugkasten auf die Ladefläche seines Kastenwagens.

Die Hähnchenteile kamen aus dem Grill, heiß, knusprig und goldbraun. Mrs. Zippy packte acht Stück in eine Schachtel und schenkte Mama einen Flügel extra für den Heimweg. Mama bedankte sich, zahlte und blieb dann kurz stehen, um einen Blick auf den Zeitschriftenständer zu werfen. Hätte sie das nicht getan, dann hätte sie es eventuell ganz über die Brücke geschafft – wer weiß? Inzwischen bog der Klempnerwagen in die Sycamore Street ein und rollte den langen Hügel hinunter, während Mama sich die neueste Ausgabe von People anschaute.

Sie legte die Zeitschrift zurück, zog die Tür auf und sagte über die Schulter hinweg zu Mrs. Zippy: »Einen schönen Abend noch!« Vielleicht hat sie aufgeschrien, als sie sah, dass sie gleich von einem Wagen überfahren würde, und nur Gott weiß, was sie in dem Moment dachte, aber das waren jedenfalls die letzten Worte, die sie je gesprochen hat. Sie trat hinaus. Nun strömte der Regen kalt und stetig herab, Silberschnüre im Schein der einzigen Straßenlaterne, die auf dieser Seite der Brücke stand.

An ihrem Hähnchenflügel knabbernd, trat meine Mutter auf den stählernen Gitterrost. Scheinwerfer erfassten sie und warfen ihren langen Schatten hinter sie. Der Klempner kam an dem Schild auf der anderen Seite vorüber, auf dem stand: VORSICHT! BEI FROST GLATTEISGEFAHR! Ob er wohl in den Rückspiegel geblickt hat? Oder sein Handy auf Nachrichten...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2022
Übersetzer Bernhard Kleinschmidt
Sprache deutsch
Original-Titel Fairy Tale
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Abenteuer • Abenteuerroman • bestsellerliste spiegel aktuell • eBooks • Fantasy • geheimes Portal • Horror • Märchen • Märchenbuch • Neuerscheinung • Prinzessin • Schäferhund • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Tod • Ungeheuer
ISBN-10 3-641-29548-3 / 3641295483
ISBN-13 978-3-641-29548-6 / 9783641295486
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