Harte Leute (eBook)

Essays
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00958-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Harte Leute -  Rachel Kushner
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Rachel Kushner ist für ihren Mut, ihren Ehrgeiz und ihren Killerinstinkt bekannt. In Harte Leute versammelt sie eine Auswahl ihrer Essays, die sich mit den drängendsten kulturellen, künstlerischen und politischen Themen unserer Zeit ebenso befasst wie mit Kushners schriftstellerischen Grundlagen und Wurzeln. Das Buch enthält Texte über Jeff Koons, Denis Johnson und Marguerite Duras, über den Besuch in einem palästinensischen Flüchtlingslager, ein illegales Motorradrennen in Baja California, die wilden Streiks im Italien der Siebzigerjahre, ihre Liebe zu Oldtimern und ihr Leben als Jugendliche in der Musikszene von San Francisco. Es schließt mit einem Finale furioso: einem wilden Manifest über «harte Leute». Zwanzig rasiermesserscharfe Essays von einer der großen Stimmen der zeitgenössischen US-Literatur.

Rachel Kushners erste zwei Romane Flammenwerfer (2015) und Telex aus Kuba (2017) waren beide New York Times Bestseller und Finalisten des National Book Award. Ich bin ein Schicksal (2019) war ein internationaler Bestseller, Finalist des Man Booker Prize und Gewinner des Prix Médicis Étranger. Ihre Bücher sind in 26 Sprachen übersetzt. Sie hat Stipendien der Guggenheim Foundation und der American Academy of Arts und Letters erhalten und lebt in Los Angeles. Zuletzt erschien von ihr Harte Leute (2022).

Rachel Kushners Romane «Flammenwerfer» (2015) und «Telex aus Kuba» (2017) waren beide New York Times Bestseller und Finalisten des National Book Award. «Ich bin ein Schicksal» (2019) war ein internationaler Bestseller, Finalist des Man Booker Prize und Gewinner des Prix Médicis Étranger. Ihre Bücher sind in 26 Sprachen übersetzt. Sie hat Stipendien der Guggenheim Foundation und der American Academy of Arts und Letters erhalten und lebt in Los Angeles. Bettina Abarbanell, geboren in Hamburg, lebt als Übersetzerin – u. a. von Jonathan Franzen, Denis Johnson und F. Scott Fitzgerald – in Potsdam. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.  

The Girl on a Motorcycle


Wenn ich an Sommertagen zum Spielen nach draußen geschickt wurde, versteckte ich mich oft in der Garage. Deren Attraktionen für ein Kind waren ein Roller mit Holzrädern, mit dem ich auf dem glatten Zementboden herumfuhr; stapelweise Pfirsichkisten, die geplündert werden konnten, bis meine Mutter Zeit fürs Einmachen fand; und eine 1955er Vincent Black Shadow. Die Vincent war das Motorrad meines Vaters, das er 1965, drei Jahre vor meiner Geburt, in England gekauft hatte. Meine Eltern lebten zu der Zeit mit meinem älteren Bruder, der noch ein Baby war, in einer Wohnung ohne fließend warmes Wasser im Londoner Stadtteil Kentish Town, damals ein Arbeiterviertel, in dem auch ein berühmter Theoretiker der Arbeiterklasse – Karl Marx – einmal gelebt hatte. Während meine zweiundzwanzigjährige Mutter oben auf dem Herd Windeln auskochte (in einem Topf, den sie an einem Gemeinschaftswasserhahn im Flur füllte), verbrachte mein Vater die Tage damit, auf der Straße vor dem Mietshaus an seinem Motorrad zu werkeln. Wenn es zu dunkel dafür wurde, ging er in die Kneipe, um Bücher zu lesen, denn der Strom in der Wohnung meiner Eltern lief über einen Münzautomaten und war unerschwinglich, zumindest für sie. Mein Vater behauptet noch heute, dass Kneipenkultur und Klassenbewusstsein zusammengehörten, weil alle des kostenlosen Stroms wegen in Bars gingen. (Mit «alle» meint er, glaube ich, Männer.) Aber an Guy Fawkes Night, so erzählt man sich in unserer Familie, blieb mein Vater zu Hause bei meiner Mutter, und sie sahen gemeinsam aus dem Fenster und schauten zu, wie die Leute ausgediente Möbel und anderen Müll zu einem lodernden Feuer auf der Straße zerrten, wie es an diesem Tag, zum Gedenken an Guy Fawkes’ 1605 unternommenen Versuch, das Parlament in die Luft zu jagen, Brauch war. Als eine Frau einen leeren Kinderwagen zum Feuer schob, drückte meine Mutter den Kleinen schnell meinem Vater auf den Arm und rannte hinunter, um sich den Wagen zu holen. Sie wollte ihn so unbedingt haben, dass sie die Frau unter Tränen anflehte, ihn nicht zu verbrennen. Die Frau lenkte ein und gab ihn meiner Mutter. Es war ein Silver Cross – Luxusausführung –, allerdings ziemlich verdreckt und wegen einer ausgeleierten Feder krängend. Meine Mutter liebte ihre schiefe Kiste und schob meinen Bruder darin gern durch den Regent’s Park, während mein Vater endlos an seiner Vincent herumbastelte.

Gelegentlich fuhr mein Vater auf der Vincent zum Ace Cafe, einem rund um die Uhr geöffneten Diner mit gigantischem Neonschild, in dem das Phänomen des «Café-Rennens» populär gemacht wurde. Eine Vincent Black Shadow war exotisch im Ace, wo die Leute zumeist mit Rennlenkern und zurückversetzten Fußrasten aufgemotzte Triumphs, BSAs und Nortons besaßen, aber zu ihrer Zeit war die Vincent eine sehr schnelle Maschine mit gigantischem Motor (1000 ccm). Als mein Vater das erste Mal zum Ace rausfuhr, das an einer Ringstraße im Nordwesten Londons lag, war draußen vor dem Haus, wo die Motorräder in funkelnden Reihen geparkt standen, gerade ein Streit im Gange. Irgendein irregeleiteter Störenfried verteidigte die Mods (im Ace traf sich ausschließlich die Rockerszene). Mary Quant und die Modewelt hatten die Mods und ihren dandyhaften, androgynen Look, ihre Vespas und Lambrettas zu einem aufkommenden Trend erklärt – einem, der die Rocker als Inbegriff der Coolness abzulösen drohte. Mein Vater fragte einen der Rocker: «Worum geht’s hier denn?» Der Mann sagte: «Das sind Scheiß-Weiber, darum geht’s!» Er meinte die Mods.

Die Rocker waren Männer und wollten, dass man das auch erfuhr. Die Mods waren Weiber. Und auch Frauen waren Weiber, die Kinderwagen schoben. Das war alles vor meiner Zeit, spielte aber in meiner Vorstellungswelt, da draußen in der Garage, eine große Rolle. Was war ich? Ein Kind, das versessen auf das Motorrad seines Vaters war.

Gegen Ende jenes Jahres zogen meine Eltern auf einem griechischen Frachter in die Vereinigten Staaten zurück, und die Vincent kam mit. Ihr rostiger schwarzer Benzintank hat eine Delle, seit sie achtlos vom Frachter auf eine Laderampe fallen gelassen worden war. Wenn ich allein in der Garage war, hob ich die grüne Segeltuchhülle an und lauschte auf das Ticken und Singen ihres Aluminiumgussmotors, der sich in der Sommerhitze regte. Sie war völlig verschmutzt, und trübschwarzes Öl tropfte in eine Schüssel unter ihrem Motor, aber selbst dort auf ihrem Mittelständer, mit beiden Rädern in der Luft, und obwohl sie nur einmal im Jahr gestartet wurde, kam sie mir vor wie ein lebendiges Wesen. Meinem älteren Bruder hätte nichts gleichgültiger sein können als der Unterschied zwischen Universal- und Sechskantschlüsseln; ich war es, die im Regen stand, wenn die Fahrer bei der Rallye der britischen Motorrad-Oldtimer vorbeikamen, zusammen mit meiner Mutter im Matsch am Straßenrand versank und sich, mit sieben, überlegte, dass Motoröl unter den Nägeln, die Fähigkeit, einen Viertaktmotor zu kickstarten oder eine Fußkupplung zu bedienen, nicht nur von Fertigkeiten zeugte, sondern von Charakter.

 

In dem englisch-französischen Spielfilm The Girl on a Motorcycle von 1968 schenkt Alain Delon seiner jungen Geliebten Marianne Faithfull eine Harley-Davidson. Über weite Strecken des Films sitzt sie auf dem Motorrad und fährt glücklich und vom Wind gepeitscht durchs Land. Das Motorrad war ein Hochzeitsgeschenk: ein fahrbarer Untersatz, der sie aus dem Elsass, wo sie mit ihrem ahnungslosen Lehrer-Ehemann lebt, nach Heidelberg bringen sollte, wo sie sich Delon um der Aufmerksamkeit und Erniedrigung willen (in einer unbeabsichtigt geschmacklosen Szene schlägt er sie mit einem Rosenstrauß auf den Hintern) hingibt.

Obwohl wir sie allein auf der Harley sitzen sehen, ist es Delon, der ihr Schicksal antreibt. Er hat ihr das Motorrad geschenkt, um sie von ihrem Ehemann weg und unter seine Kontrolle zu bringen. Trotzdem kommt man am Wesen der Maschine, die von einer mächtigen Schubkraft bewegt und von der Fahrerin gelenkt wird, nicht vorbei. Wenn sie darauf sitzt, ist sie allein und schnell. Sie fährt bei Sonnenaufgang über die französisch-deutsche Grenze, in einem engen Ledereinteiler mit nichts darunter, und fragt sich, ob der grinsende Beamte sie auffordern wird, den Reißverschluss zu öffnen (der Originaltitel lautete ursprünglich Naked under Leather, daher auch der deutsche Titel Nackt unter Leder). Der Beamte tätschelt ihren Hintern und winkt sie durch. Sie ist zwar zu Delon unterwegs, könnte theoretisch aber überall hinfahren – eine Tour durch Bayern oder nach Polen machen, während Delon raucht und grübelt, gemeingefährlich gut aussehend und allein.

Motorräder kamen nicht als Geschenke von Männern oder Transportmittel zu Männern in mein Leben, sondern als Maschinen, die gefahren werden wollten. Mein erstes Bike war eine Moto Guzzi 500, die schließlich einen Moto-Guzzi-Mechaniker anzog. Der Mechaniker, der zehn Jahre älter war und eine stärkere Persönlichkeit hatte als ich, entpuppte sich als dominierend und manipulativ, ein wenig wie Alain Delon es gegenüber Marianne Faithfull ist. Und bedauerlicherweise stand ich, wie Faithfulls Charakter im Film, unter seinem Einfluss, selbst wenn mein Interesse an Motorrädern – nach der Guzzi wechselte ich zu japanischen Straßenmaschinen – absolut eigenständig war. Der Mechaniker half mir, eine rennfertige Kawasaki Ninja für ein gefährliches, illegales Straßenrennen herzurichten, an dem auch er teilnahm. An dem Rennen teilzunehmen hieß, seinem Leistungs- und Mutstandard gerecht zu werden und sich zugleich allein auf die Reise zu machen. Ich glaube, ich brauchte seine Anerkennung, wollte aber zugleich von dieser Dynamik befreit sein. Selbst wenn es ein Mann ist, der eine Frau auf die Reise schickt – für die Dauer dieser Reise ist sie kinetisch, entfesselt und für sich.

 

Auf einer Landkarte kennzeichnet eine dicke schwarze Linie den Transpeninsular Highway, oder Highway 1, der sich ganz durch Baja California zieht – eine lang gestreckte vielgestaltige Halbinsel, die vom mexikanischen Festland durch die lauwarmen, lebensreichen Gewässer des Golfs von Kalifornien getrennt ist. Der Highway 1 ist die größte und wichtigste Straße durch Baja California. Sie wurde 1973 fertiggestellt, Zeugnis der Modernisierung und erste Verbindung zwischen Nord und Süd in einem Gebiet, wo die Menschen einst, durch riesige Flächen rauer Wüste und hoher Gebirge voneinander abgeschieden, über ihre eigene Region hinaus kaum Verbindung gehabt hatten.

Eine dicke schwarze Linie auf einer Landkarte kann für Uneingeweihte irreführend sein. Als ich besagtes Rennen 1992, mit vierundzwanzig Jahren, fuhr, wurde der Highway 1 nur auf einer Reihe von Mautstrecken zwischen Tijuana und Ensenada regelmäßig instand gehalten (wenn auch ohne so luxuriöse Dinge wie Leitplanken oder Fahrbahnmarkierungen) – ein winziges Teilstück der 1770 Kilometer langen Straße. Jenseits von Ensenada bestanden die befestigten Straßen aus direkt auf den Erdboden geschüttetem Schotter, hatten also genauso viele Senken und Kurven wie das Land darunter. Solche Straßen halten nicht gut, und so gab es auf der gesamten Strecke bis zum Ende der Halbinsel riesige Schlaglöcher, manche davon klaffende, fünfzehn Meter lange Flächen bröckelnder Befestigung. Die häufigen und dramatischen Senken, vados genannt, konnten mit Sand oder Wasser gefüllt sein und in einer eiskalten Wüstennacht auch mal mit einer schlafenden Kuh, die im Straßenbelag noch...

Erscheint lt. Verlag 18.10.2022
Übersetzer Bettina Abarbanell
Zusatzinfo Mit 18 s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Amerikanische Literatur • Andy Warhol • Baja California • Bildende Kunst • Classic Cars • Danny Lion • David Salle • Denis Johnson • Essays • Essaysammlung • Fiat • Flüchtlingslager Shuafa • Jeff Koons • Marguerite Duras • Motorrad • Motorradrennen • Palästina-Konflikt • ruth Wilson Gilmore • San Francisco • Strafvollzug USA • USA • US-Kapitalismus • wilde Streiks
ISBN-10 3-644-00958-9 / 3644009589
ISBN-13 978-3-644-00958-5 / 9783644009585
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