Bis ins Mark (eBook)
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01072-7 (ISBN)
Stefan Schwarz, geboren 1965 in Potsdam, ist Journalist und Schriftsteller. Er schreibt Theaterstücke und für das Fernsehen, u.a. das Drehbuch zur ARD-Serie «Sedwitz», vor allem aber Kolumnenbände wie «Ich kann nicht, wenn die Katze zuschaut» (2008) und Romane wie «Das wird ein bisschen wehtun» (2012) oder «Oberkante Unterlippe» (2016). Die Verfilmung seines Romandebüts «Hüftkreisen mit Nancy» wurde 2019 mit großem Erfolg im ZDF ausgestrahlt. Seine Lesungen genießen Kultstatus. Stefan Schwarz lebt mit seiner Familie in Leipzig.
Stefan Schwarz, geboren 1965 in Potsdam, ist Journalist und Schriftsteller. Er schreibt Theaterstücke und für das Fernsehen, u.a. das Drehbuch zur ARD-Serie «Sedwitz», vor allem aber Kolumnenbände wie «Ich kann nicht, wenn die Katze zuschaut» (2008) und Romane wie «Das wird ein bisschen wehtun» (2012) oder «Oberkante Unterlippe» (2016). Die Verfilmung seines Romandebüts «Hüftkreisen mit Nancy» wurde 2019 mit großem Erfolg im ZDF ausgestrahlt. Seine Lesungen genießen Kultstatus. Stefan Schwarz lebt mit seiner Familie in Leipzig.
Zeugen
«Ich komme wegen der Samenspende», sagt der junge Arzt und legt das Klemmbrett, das hier jeder mit sich herumträgt, neben sich auf den Tisch.
«Das mache ich allein», sage ich sehr bestimmt. Ich weiß ja nicht, was hier im Krankenhaus so Brauch ist, aber das können sie mal gleich vergessen. Blutabnehmen, Rachenabstrich, das kann gerne jemand anderes erledigen, aber Samenspende mach ich selbst. Ich blicke auf vierzig Jahre Erfahrung zurück. Jedenfalls lass ich da keinen Arzt und auch keine Schwester ran. Nachher klappt irgendwas nicht oder es dauert zu lange, und sie rufen über die Flure nach der Stationsschwester, und dann kommen noch andere hinzu, und jeder sagt: «So wird das nix. Lass mich mal!»
«Selbstverständlich», beeilt sich der junge Arzt zu versichern, führt dann aber aus: «Es wäre nur für den Fall, dass Sie noch einen Kinderwunsch haben. Die jetzt beginnende Chemotherapie und die darauf folgende Erhaltungstherapie wird nicht nur Ihre Fruchtbarkeit ganz allgemein beeinträchtigen, sondern würde im Fall des Falles auch zu Fehlbildungen beim Fötus führen. Deswegen sollten Sie, wenn Sie noch ein Kind wollen, jetzt eine Samenspende machen.»
«Sie sind ja lustig!», sage ich. «Das kann ich doch jetzt nicht wissen, ob ich noch ein Kind will. Anthony Quinn hat mit zweiundachtzig Jahren noch ein Kind gezeugt!»
Der junge Arzt lächelt. Er geht wohl nicht davon aus, dass ich so alt werde.
«Ich muss mich also jetzt entscheiden?»
Er nickt.
Schwierige Angelegenheit. Ich bin ja nicht irgendwer. Ich bin ein regional anerkannter Humorschriftsteller. Vielleicht kann mein Samen noch Gutes tun. Eingefroren im Literaturarchiv in Marbach könnte er in einer fernen Zeit bei der Züchtung literarischer Talente behilflich sein. Vielleicht fehlt es der Szene dereinst an Esprit. Die Verkäufe gehen zurück. Der Buchhandel muss reagieren. Aber keiner kann mehr witzig schreiben. Naturtalente fehlen, Funny Bones. Eben Schreiber, die damit geboren wurden, lustig zu sein. Allerdings sollte ich hier nichts dem Belieben überlassen. Ich überlege, ob ich vor der Samenspende eine Willenserklärung abgebe dergestalt, dass mein Sperma nicht auf die ebenfalls gefrosteten Eizellen einer Reihe mir unangenehmer Autorinnen übertragen werden darf. Nein, ich sage nicht, wer.
Ich fühle Druck. Es ist eine kleine Handhabung für mich, aber es könnte eine große Hilfe für die Menschheit sein. Wenn ich jetzt kein Sperma abgebe, ist es vorbei.
«Soll das heißen, mein Samen ist danach giftig? So eine Art Sondermüll?»
«Ich würde es so nicht ausdrücken, aber natürlich finden sich die toxischen Substanzen dann auch im Sperma.»
«Ich kann damit also nicht mehr so gedankenlos überall … rumsauen?»
«Ich weiß nicht, was Sie bis jetzt damit angestellt haben, aber ja. Sie müssen ein bisschen vorsichtig sein.»
Ich werde also eine Kreatur mit giftigen Ausscheidungen. Wie so ein Kugelfisch.
«Kann da jemand dran sterben?», frage ich denn auch.
«Also, nein», grübelt der junge Arzt, «das glaube ich nicht. Das müsste dann schon eine ungeheure Menge sein. Wieso?»
«Ach, war nur so eine Frage!»
«Nun, wie steht’s?»
Habe ich noch einen Kinderwunsch? Ich mache gerne Kinder. Ganz grundsätzlich. Etwas nur aus Liebe und zwei Keimzellen zu erschaffen, das sechzehn Jahre später aus der Küche rennt und «Ich hasse dich!» schreit, ist ein kleines Wunder. Und ein großes Wunder ist es, wenn dasselbe Wesen dir mit achtzehn Jahren eine koreanische Rettich-Rinderstreifen-Suppe macht, weil es gerade so koreanisch drauf ist und du sie unbedingt probieren musst.
Davon hätte ich gerne mehr. Mehr koreanische Rettich-Rinderstreifen-Suppe und mehr Kinder. Einfach aus Neugier, was noch so alles aus Liebe und zwei Keimzellen hervorgehen kann. Ich habe zwei blonde Kinder. Warum nicht mal ein braunhaariges? Oder eins mit Sommersprossen? Ich stamme von Bauern ab. Ein gewisses züchterisches Interesse schwingt auch mit.
Als ich in der Oberstufe mit der in vielen Formen vollendeten H. ein Liebespaar war, wollte ich mindestens vier Kinder. Meine Freundin schien mir für dieses Vorhaben vortrefflich eingerichtet. Wir rappelten miteinander rum und knutschten, bis wir ganz aufgelöst waren. In den Knutschpausen tranken wir mit Strohhalmen Schokomilch aus Dreieckstüten und diskutierten, wie unsere vier Kinder heißen sollten. Wir diskutierten nicht: Wohnraumfragen. Wer nur halbtags arbeiten sollte. Verhalten bei Dreimonatskoliken, Dreitagefieber und grassierendem Brechdurchfall. Wer die vier Kinder zu vier verschiedenen Sporthallen oder Musikschulen bringt und wer zu welcher Elternversammlung und zu welchem Klassenlehrergespräch muss und mit welchen Behältern man einkaufen geht, wenn im schlimmsten Fall vier Knaben in der Adoleszenz jeden verdammten Tag zehn Liter Schokomilch in Dreieckstüten, zwei Mischbrote und einen Strauß ganzer Schlackwürste wegspachteln.
Oder, wie meine Mutter einst milde lächelnd zu mir sagte: «Wenn man zwei Kinder hat, denkt man: Ach, ein drittes wird da auch noch groß. Und das ist der Fehler.»
Sie ahnen es: Ich bin das dritte Kind.
Leider hielt die so auf Kinderreichtum angelegte Verbindung mit H. trotz schon vorhandener Namen nur vier Wochen, weil ich schon mehr wollte als knutschen und sie nicht. H. rief mich eines Tages nach dreißig Jahren an, um mir zu sagen, dass ihr Mann ein Ehebrecher und Trunkenbold sei, dass sie aber jetzt sechzig Kilo abgenommen habe – was mein Vorstellungsvermögen überforderte, da sie, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, insgesamt in etwa so viel wog. Sie hatte nur zwei Kinder bekommen, welche aber schon groß waren. Sie rief mich auch an, um mir zu sagen, dass sie damals von ihrem Stiefvater angefasst worden war und dass ihre Mutter ihr nicht geglaubt habe, dass ich aber ein netter Junge gewesen sei. Deswegen nur Knutschen. Ich hätte ihr gern wieder was Nettes gesagt, aber ich spürte diese monströse Einsamkeit, die da am anderen Ende der Leitung sein musste. Eine Einsamkeit, in der jedes noch so gut gemeinte, aufmunternde Wort nur wie eine anmaßende Eselei wirkt. Sie sprach eine Stunde mit mir und legte dann auf, um nie wieder anzurufen. Ich wusste nicht mal, woher sie meine Nummer hatte.
Ich saß noch eine Weile rum, ziemlich angekratzt vom Ausmaß dessen, was ich in ihrem Zögern nicht schmeckte, als wir uns küssten.
Ich habe auch nur zwei Kinder, aber die haben immerhin verschiedene Mütter. Das ist noch nicht ganz das, was Dschingis Khan zuwege brachte, von dem heute etwa sechzehn Millionen Menschen abstammen. Ich hätte wohl noch gern ein drittes Kind, aber ich habe es verpasst, nicht mit genügend Nachdruck darauf bestanden, und vielleicht scheute ich auch die Mühe. Aber ich weiß ungefähr, was für wunderbare, sonderbare, leidenschaftliche, jähzornige Kinder ich mache. Wenn Sie eines treffen, werden Sie es nicht so schnell vergessen. Eigentlich sind die beiden so eindrucksvoll wie vier.
Ich habe einen Freund, bei dem das Vorhaben eines weiteren Kindes in Zwillingen endete. Als ich ihn das letzte Mal sprach, sagte er: «Ich will nicht mehr viel vom Leben. Ich will eigentlich nur noch mal eine Viertelstunde durchschlafen.»
Ich weiß also eigentlich recht gut, dass ich tatsächlich kein Kind mehr will. Kein drittes und kein viertes. Und trotzdem ist es seltsam traurig, diese theoretische, fast schon utopische Möglichkeit genommen zu bekommen, dass noch einmal jemand mit seinem Schnuffeltier aus dem Kinderzimmer geschlurft kommt und unter meine Decke kriecht, eine Minute herumrappelt und dann versinkt in den Tiefen der Geborgenheit, wie es sie nur im Elternbett gibt.
Die lebenslange männliche Fruchtbarkeit – der kleine Trostpreis unseres Geschlechtes. Ich muss ihn abgeben.
«Nein», sage ich fest, während eine erhebliche Trauer in mir durchsackt, «ich habe zwei Kinder. Das muss reichen.»
Der junge Arzt, der gewiss noch keine Kinder hat, nickt.
«Dann sage ich der Schwester Bescheid, und wir beginnen mit der Chemo.»
Schon kommen sie herein mit dem Tropf am Galgen.
Eine auf dem Kopf stehende Flasche mit einer unschuldigen, hellen Flüssigkeit. «Was ist das?», frage ich die junge Ärztin, während mir die Schwester eine Flexüle in die Unterarmvene schiebt.
«Das Zytostatikum. Bendamustin.»
Die Schwester popelt mir den Schlauch in die Flexüle, und die Ärztin dreht den Tropf auf. Zäh fällt ein Tropfen nach dem anderen in die Tropfkammer. Sie justiert nach. Jetzt fällt der Tropfen zu schnell. Sie dreht die Rollklemme wieder etwas zu. Jetzt fällt der Tropfen fast gar nicht mehr. Die Schwester verleiert hinter ihr kurz die Augen, dann hilft sie nach. Der Tropfen macht jetzt gemächlich gluck … gluck … gluck, und das soll wohl so sein, denn beide sind’s zufrieden.
Zytostatikum. Bendamustin.
I feel a little bit LOST.
I don’t want to start any blasphemous rumours
But I think that God’s got a sick sense of humour
– singen Depeche Mode.
LOST ist der Name dieser Giftstoffklasse.
Was da in mich hineinläuft, kaum eine Stunde nachdem ich die Diagnose bekommen habe, ist der letzte Nachkomme eines Giftes, unter dem sich die Soldaten des Ersten Weltkrieges schreiend im Schlamm der Schützengräben wälzten. Senfgas.
Willy Lommel und Willy Steinkopf haben es erfunden, und aus den ersten Buchstaben ihrer Nachnamen setzten sie seinen Namen zusammen. Es zerstört das menschliche Gewebe und stoppt die Zellteilung. Das...
Erscheint lt. Verlag | 18.10.2022 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Autobiographie • Biografie • Dasein • Erinnerungen • Familie • Humor • Knochenmarkkrebs • Krankheit • Krebs • Leben • Leben ändern • Lebensphilosophie • Prioritäten • Schicksalsschlag • tödliche Krankheit • Umgang mit dem Tod • Unheilbare Krankheit |
ISBN-10 | 3-644-01072-2 / 3644010722 |
ISBN-13 | 978-3-644-01072-7 / 9783644010727 |
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