Gott in Weiß -  Hansdieter Krüger

Gott in Weiß (eBook)

Absurditäten aus einem universitären Bienenstock
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
276 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7322-1915-5 (ISBN)
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Könige kommen und gehen. Das Ordinariat von Prof. Brinkbäumer neigte sich dem Ende zu. Seine Regentschaft war souverän und liberal. Jedem blieb die Luft zum Atmen, auch den im "sexten" Sinn ganz normal anderen. Widerspruch war keine Majestätsbeleidigung. Lange verborgene Fotos zeigten Brinkbäumers Vorgänger im blütenweißen Arztkittel, unter dem die SA-Uniform hervor lugte. Er war gerade in der nahegelegenen "Irrenanstalt" mit Menschenversuchen an "lebensunwerten" psychisch Kranken befaßt. Brandstätter thronte dreißig Jahre auf dem Ordinariatssessel. Was würde die nächste Thronbesteigung dem Reich bescheren? Die Absurditäten aus dem universitären Bienenstock mit seiner Queen, den saturierten Drohnen und den geknechteten Arbeitsbienen enthüllen bis zum Finale ein Panoptikum aus pathologischem Narzissmus, Neurosen und Affären, Duckmäusern, Opportunisten, Intriganten, Ignoranten und Zuträgern, aber auch von standhaften Protagonisten mit einer Schwäche für den aufrechten Gang.

Der Autor ist em. Professor für Neurologie an der Universität Würzburg.

1. Güttners Reich – die Kastanienallee


Es wird schon werden, dachte Güttner. Die im Sinken begriffene Sonne schien durch das große Terrassenfenster. Die Tür zum Garten stand offen. Vogelgezwitscher mischte sich mit dem fernen Geräusch eines Rasenmähers. Hin und wieder passierte ein Auto die Anliegerstraße. Fliederduft strömte ins Haus. Schattenspiele des in der milden Abendluft bebenden Laubes zauberten ein Flirren auf den Terrassenboden. Güttner saß an dem großen Eßtisch, seinem bevorzugten Arbeitsplatz. Dort konnte er seine Fachliteratur, seine Tabellen mit den Forschungsergebnissen am besten ausbreiten. Er war unkonzentriert, verfolgte die Schattenspiele auf der Terrasse. Vieles ging ihm durch den Kopf, vor allem die Frage, wie sinnvoll das war, was er gerade tat. Prof. Brinkbäumer hatte ihn unterstützt, ihn in seinen Zielsetzungen, seinen Vorhaben bestärkt. Die Zukunft war ungewiß. Aber dadurch wollte er sich die Stimmung nicht verderben lassen.

Ein herrlicher Frühlingstag ging mit flammendem Abendrot seinem Ende zu. In dieser Jahreszeit war der Garten am schönsten. Im Vorgarten blühten die haushohe Eberesche, der prächtige Goldregen, die Rosensträucher und der stark duftende Flieder. Die Obstbäume im hinteren Teil des Gartens waren schon verblüht. Hier waren noch ein Rosenstrauch in leuchtendes Rot und ein weiterer Fliederbusch in kräftiges Blau getaucht. Forsythie, Kornelkirsche und Kolkwitzie, die die Terrasse in eine grüne Laube verwandelten, hatten ihre Blütenpracht längst verloren.

Güttner gähnte, spürte: Das wird heute nichts mehr. Er nutzte die Wochenenden, um mit seinem Artikel für das Journal of Neurology voran zu kommen. Sein Blick schweifte durch das Wohnzimmer und blieb an den deckenhohen Bücherregalen hängen. Alles schöngeistige Literatur. Die Fachbücher verbannte er in sein Arbeitszimmer. An den nicht von Büchern dominierten Wänden hingen Stiche seiner Heimatstadt Potsdam und zwei Bilder der Malerin Rosina Wachtmeister. Die mit collageartigen Elementen gestalteten, stimmungsvollen Kreationen hatte er während eines unvergessenen Herbsturlaubs in Meersburg am Bodensee erstanden. Vom Weltkongreß für Neurologie in Hamburg stammte das Bild über dem PC-Monitor in seinem Arbeitszimmer. Die Schöpfung des Malers Wunderlich erregte sofort die Neugier eines jeden Betrachters. Das war originell, eine Nofretete, die Einblick in ihr zentrales Nervensystem gewährt. Ein Schnitt durch das makellose Seitenprofil der bildschönen Pharaonin zeigte das Innere von Hirn und Rückenmark. Die Dendriten der Nervenzellen wuchsen wie Haare aus ihrem edel geformten Schädel. Frei schwebende Hirnkammern und Augen mit unterschiedlichen Pupillenreaktionen, ein Reflexhammer und weitere neurologische Utensilien vollendeten die phantasievolle Bildkomposition. Die Stirnwand des Speisezimmers schmückte ein Arrangement aus fünf verschieden großen Gemälden mit Blumenmotiven: Fresien, Tulpen, Narzissen, Anemonen und Mimosen. Die Bilderrahmen fügten sich in ihrer Gesamtheit akkurat zu einer Bildtafel. Als der Verkäufer in dem Antiquitätengeschäft begriffen hatte, weshalb Güttner so großen Wert auf eine bestimmte Rahmengröße legte, meinte er: »Das hält man doch auf die Dauer nicht aus, wenn die Bilder so exakt symmetrisch hängen.« Güttners Antwort: »Ich schon.«

Ehe er auf der Couch einschlief, wollte er die Zeit besser für einen Lauf nutzen. Es würde noch lange hell bleiben.

Roland Güttner war mit seinen einssiebzig eher klein, aber sportlich. Er joggte zwei- bis dreimal in der Woche. Anfang Vierzig wirkte er jungenhaft, gut aussehend. Seine kastanienbraunen Augen konnten strahlen. Die volle Haarpracht hatte er verloren. Er trug einen Sechsmillimeterrundumraspel- haarschnitt, passend zu seinen sportlichen Ambitionen. Auch heute achtete er beim Joggen auf das Geräusch in seinem Kopf, dieses leise, kaum wahrnehmbare Gluckern, das er, ausgelöst durch die Erschütterung eines jeden Laufschrittes, über Jahre immer wieder gehört hatte. Es war verschwunden. Er hatte sich daran gewöhnt, an dieses rhythmische Plätschern, vermißte es jetzt fast. Besorgt war er deshalb nie. Er wußte, woher es rührte. Eine Meise hatte er nicht. Auf Fotos, die ihn an seinem ersten Geburtstag zeigen, ist das typische Sonnenuntergangsphänomen, untrügliches Zeichen eines, in seinem Falle gnädiger Weise vorübergehenden Hydrocephalus, eines Wasserkopfes, nicht zu übersehen. Ursache war, wie er später während seines Medizinstudiums erfuhr, eine passagere Aquäduktstenose, eine wechselnde Verklebung der Wandungen dieser wichtigen röhrenförmigen Verbindung zwischen den nervenwassergefüllten Hirnkammern. Seine Hutgröße lag im oberen Bereich. Es herrschte keine Enge in seinem Kopf. Sonstige Residuen verblieben nicht.

Güttner glaubte selbst nicht so recht an diese Geschichte. Aber sie gefiel ihm.

Sein erster Geburtstag fiel in das vierte Kriegsjahr. Für ihn war die Welt noch in Ordnung. Mit Beuteware wohlgenährt sitzt er auf den Geburtstagsbildern, Wohlbefinden und Zufriedenheit verheißend, mit seinen Patschhändchen sein Bäuchlein haltend, wie ein kleiner, in sich ruhender Buddha und freut sich mit neugierig blitzenden Augen seines jungen Lebens. Wer die Bilder sah, sagte, er habe sich seitdem kaum verändert.

Güttner wußte um seine ansprechende Erscheinung, war davon aber selbst nicht übermäßig berührt. Er machte einen ernsten, nachdenklichen Eindruck. Wer ihn näher kannte, lernte seinen Humor schätzen. Eine unentwegte Frohnatur war er nicht. Seine preußische Herkunft war nicht zu leugnen. Das hübsche Antlitz hatte er von seiner Mutter, einer in jungen Jahren bildschönen und dann noch immer beeindruckenden Frau. Bei seiner Habil-Feier flüsterte ihm Prof. Brinkbäumer zu: »Warum haben sie mir denn nicht gesagt, daß Sie so eine attraktive Mutter haben?« Güttner schwieg dazu. Weshalb hätte Brinkbäumer das denn wissen sollen?

Seine Joggingstrecke führte in dem hügeligen Wohngebiet, dem »Speckgürtel« der nahegelegenen Stadt, talwärts und folgte dann einem von Weiden, Erlen, Birken und sonstigem Gehölz gesäumten Bach in einem flachen Tal, das allmählich zur Höhe des Gemeindewaldes anstieg. Er liebte diese Landschaft: Die zu Beginn des Frühlings in der Märzsonne schneeweiß blitzende Blütenpracht der Wildkirsche und des Schlehdorns, das jetzt grün wogende Getreide und den duftenden, grell gelb leuchtenden Raps, die in der Sommerhitze flirrenden goldgelben Kornfelder und die gelbrot bis braune Herbstfärbung der Laubbäume. Von April bis September über allem der Gesang der Feldlerche. An einem Frühlingstag wie heute war das Laufen ein wahres Vergnügen. Güttner spürte die Wärme der Sonne angenehm auf seinem Rücken. Er hatte den Wendepunkt seiner Strecke erreicht, befand sich auf dem Rückweg. Ein fleißiger Läufer älteren Semesters kam ihm im gonarthrotischen Nordic-Walking-Schleudergang entgegen. Sie kannten und grüßten sich. Nach einem anfänglich milden Winter hatte bis in den März hinein Schnee gelegen. Was würde der Sommer bringen? Eine neue Liebe, nach der er sich sehnte? Wissenschaftliche Erfolge? Eine Vertragsverlängerung mit Professur oder endlich ein besseres Verhältnis zu seinem Bruder und dessen Familie?

Es wird schon werden.

Schwitzend und wohlig erschöpft erreichte er die »Weiße Mühle«, einen Gasthof am Ende seiner Laufstrecke. Das historische Gebäude eines Klosterwirtschaftshofes mit Mühlbetrieb war vor Jahren liebevoll rekonstruiert worden. Das erhalten gebliebene Eingangstor aus massivem Holz ist beidseits von Gebäuden mit weißen Stufengiebeln begrenzt, die einen anheimelnden Innenhof umschließen. Hier herrschte reger Gastbetrieb. Große Mühlsteine vor dem Tor und im Hof erinnern an die frühere Wassermühle. Vor über zweihundert Jahren tobte hier vor den Toren der Stadt eine gewaltige Schlacht. Fast 100.000 österreichische und französische Soldaten waren aufmarschiert und prallten im Tal aufeinander. Würzburg war zu der Zeit von französischen Revolutionstruppen besetzt.

Heinrich von Kleist berichtete in seinen berühmten Briefen davon. Der Mühlbach war nach der Schlacht vom Blut der 3500 gefallenen Soldaten rot gefärbt. Stets warf er beim Passieren der Holzbrücke einen prüfenden Blick in den Bach. Erstaunlich, wie das Hirn funktioniert. Glaubte er, noch Reste der Rotfärbung entdecken zu können? Oder schwante ihm neues Unheil? Unmittelbar neben der Brücke ergoß sich mit lautem Getöse der Zufluß aus dem Regenwasserauffangbecken in den Bach. Die Gemeinde hatte ihn beim Bau des Beckens mit einem Anteil von 5000,- DM belastet. Kam er mit Gästen in die Nähe des tosenden Wassers, forderte er sie auf, durch das Abdeckgitter zu schauen. Sie würden dann in dem Strudel deutlich seine Tausender schwimmen sehen. Weitere könnten hinzukommen. Die Kapazität...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7322-1915-1 / 3732219151
ISBN-13 978-3-7322-1915-5 / 9783732219155
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