MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken - 5/2022 (eBook)

Nr. 876, Heft 5, Mai 2022
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11901-5 (ISBN)

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MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken - 5/2022 -
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Steffen Martus liest Texte der neunziger Jahre, vor allem von Christian Kracht und Botho Strauß, im Licht der Gegenwart neu. Adrian Daub sieht sich die Herkunft der Silicon-Valley-Milliardäre genau an und stellt fest, dass von deren Selfmade-Mythos dabei sehr wenig übrigbleibt. Miami hat sich zu einer der quirligsten und verrücktesten Städte der USA entwickelt, wie Joel Stein in einer Reportage berichtet. In seiner Rechtskolumne wägt Florian Meinel das Für und Wider aktueller Vorschläge zur Reform des Supreme Court der Vereinigten Staaten. Simon Rothöhler stellt ein neues Buch der Protagonisten der im akademischen Feld angesiedelten politischen Rechercheagentur 'Forensic Architecture' vor. Warum die Romantik als Erklärung von Querdenker-Ideologien nicht taugt, erklärt Stefan Matuschek in einer historischen Analyse. Jana Volkmann stellt sich die Frage, in welchem Sinn man bei Tieren, die von Menschen genutzt werden, von 'Arbeit' sprechen kann. Florian Sprenger widmet sich der Theorie und Geschichte des Fotoautomaten. Durch verschiedene Felder des Wissens verfolgt Mona Leinung die Begriffsdifferenz von 'heiß' und 'kalt'. Hanna Engelmeier bewundert in ihrer Schlusskolumne Helen Mirren, kann vom Ukraine-Krieg aber nicht schweigen.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

DOI 10.21706/mr-76-5-20

Adrian Daub

Die Erben des Silicon Valley


Die creatio ex nihilo, die Schöpfung aus dem Nichts, ist einer der Begriffe, bei denen man sofort misstrauisch aufhorcht. Wenn jemand so tut, als habe er etwas aus nichts geschaffen, ist das so gut wie immer ein Indiz dafür, dass eine inkommode Hintergrundgeschichte mehr oder weniger dezent aus dem Blickfeld geschoben werden soll. In der fantastischen Vorstellung, vor uns sei gar nichts da gewesen, steckt eine beträchtliche ideologische Kraft. Immerhin darf der Schöpfer ex nihilo für sich zumindest einen zarten Abglanz göttlicher Macht in Anspruch nehmen. Wertschöpfer, Schöpfer von Arbeitsplätzen werden mit diesem Kniff zu entfernten Verwandten des ganz großen Schöpfers, ihre Legende eine Art Genesis-Erzählung.

Dasselbe gilt für den Begriff der unberührten Erde, der terra nullius, der gerade im amerikanischen Westen immer schon zur Ideologie der Konquistadoren aller Sorten gehörte. Als die Tech-Industrie begann, sich in einem Landstrich Nordkaliforniens entlang der Bucht von San Francisco anzusiedeln, deutete sie das Land, das sie kolonisierte, zu einem Niemandsland um, das erst jetzt zum Schauplatz wirklich wertschöpfender Aktivitäten werde – einem Garten Eden mit ein paar Aprikosenhainen, einer einzigen Eisenbahntrasse und wenig anderem. Diese Art Pioniergeschichte ist im Silicon Valley mittlerweile ein allgegenwärtiger rhetorischer Trick: Vor uns war keiner da, vor uns hat keiner das Problem erkannt, vor uns hat keiner diese Lösung ausprobiert. Pioniergeist bedingt Amnesie und umgekehrt, und mit beidem kann das Silicon Valley zur Genüge aufwarten.

Hinterlassenschaften sind hier weniger wichtig als Zukünftigkeit. Dieses Selbstverständnis drückt sich nicht nur in der Architektur aus, die so tut, als sei nichts vor ihr dagewesen. Sondern auch in einer Industrie, die sich umweltbewusst gibt, deren umweltverschmutzende Anfänge – insbesondere in der Form des krebserregenden Trichlorethylen, mit dem hier jahrzehntelang nach der Fertigung die Halbleiter gesäubert wurden – im Santa Clara County eine rekordverdächtige Zahl an sogenannten »superfund sites« hinterlassen haben, von der Umweltbehörde als hochgradig kontaminiert ausgewiesene Areale, die nur unter massivem finanziellen Aufwand aus öffentlicher Hand in jahrzehntelanger Arbeit entgiftet werden können. Doch weil alles auf Neuanfang gestellt werden soll, will man im Silicon Valley von solchen buchstäblichen Altlasten nichts wissen.

Das zeigt sich auch an den Namen der hier steinreich Gewordenen und immer noch Werdenden. Namen, die von Geld erzählen, das im Hier und Jetzt, in dieser Generation verdient wird und nicht von irgendeiner früheren Generation geerbt worden ist. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die deutsche Besorgnis ob der Hypertrophie des Erbens ungefähr zeitgleich mit der Faszination für das Gegenbild Silicon Valley aufkam. Die Erbengesellschaft ist eine, die vor lauter Vergangenheit nicht mehr zur Gegenwart kommt. »Weh dir, daß du ein Enkel bist!«, sagt Mephistopheles – Enkel sein ist wahrscheinlich ein zutiefst europäisches Trauma, im Silicon Valley ist es jedenfalls keines.

Gewiss, eines Tages in ferner Zukunft könnte es gut sein, dass die letzten Sprösslinge der Zuckerberg-Chan-Dynastie die Boulevardmagazine mit ihren Peinlichkeiten beglücken oder mit einer Hanno Buddenbrook’schen Coda einfach verklingen. Vielleicht wird der Sohn Elon Musks, X Æ A-XII Musk, eines Tages für politische Ämter kandidieren, nur weil er einen großen Namen und unermessliche Mittel zur Verfügung hat. Aber bis es so weit ist, wird sich das Geld dieser Familien neu anfühlen, wird neu scheinen.

Die gefühlte Neuheit des Kapitals gehört inzwischen zum Mythos Silicon Valley, ist eine wichtige Stütze seiner Legitimität. Im sich langsam etablierenden Kanon der Silicon-Valley-Filme und -Serien kommen Eltern und Familien kaum vor – ob Michael Fassbender oder Ashton Kutcher als Steve Jobs, Jesse Eisenberg als Mark Zuckerberg, wir begegnen diesen Aposteln der Disruption jeweils im College, wo sich ihr Wille zur Macht äußern kann und ihr Außenseiterstatus gut zeigen lässt. Sozial eingebettet wirken diese Figuren nur selten, ihre Bahn ist eher exzentrisch denn vorhersehbar. Eine solche Darstellung verbietet eine Beschreibung der Familienverhältnisse fast.

Auch in deutschen Medien liest man immer wieder Storys über die Neureichen von San Francisco, darüber, dass sie nicht wüssten, wohin mit dem Geld, oder dass sie es für Absurditäten verschwendeten. Die Frage, wie »neu« das Geld, das im Silicon Valley investiert und »gemacht« wird, tatsächlich ist, steht schon seit vielen Jahren im Raum. Letztlich ist sie nicht zu beantworten: Wie entscheidet man, ob Geld wirklich »neu« ist? Aber allein schon die Frage aufzuwerfen, wo das Geld herkommt und wie es umverteilt wird, hilft weiter, denn das fördert unbequeme Kontinuitäten zutage und führt zu einem neuen Verständnis dieses Ortes, dieser Industrie, und, nun ja, ihrer Genesis.

Das Silicon Valley versteht es geschickt, uns seine Selbstwahrnehmung als Fakt zu verkaufen – das ist für eine Industrie, in der Wahrnehmung überlebenswichtig ist, natürlich keine verkehrte Idee. 2014 veröffentlichte das US-Wirtschaftsmagazin Forbes eine Analyse, die belegen sollte, dass »die reichsten Menschen in den USA mittlerweile mehr und mehr ›self-made‹ sind, während in der jüngeren Vergangenheit vor allem Dynastien den Wohlstand erbten und bündelten«. Der Hauptindikator war für die Forbes-Autoren das Silicon Valley, wo »mehr als 94 Prozent der Tech-Milliardäre ihr eigenes Vermögen geschaffen haben«. In vergleichsweise etablierten Wirtschaftszweigen waren die Zahlen natürlich viel niedriger. Forbes bringt damit auf den Punkt, wie das Silicon Valley im Diskurs um Meritokratie, Wertschöpfung und Innovation funktioniert: Es verkörpert das antidynastische Prinzip schlechthin, es ist der Garant dafür, dass die Zukunft des Kapitalismus nicht etwa im Erben und Horten liegt, sondern in der schöpferischen Disruption von Ererbtem.

Wie aber kam Forbes überhaupt zu der These von der antidynastischen Tech-Industrie? Die Autoren bewerteten die Superreichen auf einer Skala von eins bis zehn. Eins bedeutete »komplett ererbtes Vermögen ohne Versuch, es zu vermehren«; Vier bedeutete »Vermögen geerbt und bedeutend vermehrt«; Sieben bedeutete »self-made, aber Kind reicher Eltern und mit vermögendem Hintergrund«; und Acht bedeutete self-made, aber »mit einem Background in der Mittel- oder oberen Mittelschicht«. Um als Zehn durchzugehen, hätte man wohl schon in einem Binsenkörbchen im Fluss ausgesetzt worden sein müssen.

Das Ergebnis der Analyse fiel nicht besonders überraschend aus. Es stellte sich heraus, dass die Tech-Milliardäre vor allem aus der Kategorie Acht kamen – obere Mittelschicht oder untere Oberschicht. Was erst auf den zweiten Blick ins Auge sticht, ist die Tatsache, dass die Autoren dieses Resultat methodisch geradezu forciert hatten. Schließlich dürfte fast jeder, der in den letzten vierzig Jahren Aktien von großen Tech-Unternehmen besaß und sich nicht außergewöhnlich ungeschickt angestellt hat, sein Vermögen in dieser Zeitspanne signifikant vermehrt haben. Die Kategorie »self-made« fällt also offenbar zusammen mit »in Tech investieren«.

Zugleich scheint eine noch weiter reichende Annahme stillschweigend in die Analyse der Forbes-Autoren eingeflossen zu sein: dass die Vermehrung des eigenen Vermögens ab einem bestimmten Grad der Vervielfachung das Gegenteil von Dynastik darstelle, weil dynastisches Vererben nun einmal per se unproduktiv sei, zu Stagnation tendiere. Und dass umgekehrt Vermögen sich nur durch immense Anstrengungen vermehren lasse. Das ist natürlich abstrus. Tatsächlich zeigt das einzige von den Autoren zitierte Beispiel einer Eins auf ihrer Skala – Steve Jobs’ Witwe Laurene Powell Jobs –, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Es ist ab einer gewissen Fallhöhe sogar ausgesprochen schwierig, sein Vermögen nicht zu vermehren – das Steuer- und Finanzsystem ist darauf ausgerichtet, das nicht zuzulassen.

Vor allem aber ist natürlich die Annahme, alle über einer Sechs auf der Skala hätten »es wirklich allein geschafft«, an Absurdität kaum zu überbieten. Wenn ein gewisser Ex-Präsident und selbstdeklarierter Milliardär in der Mitte der Skala rangiert, dann ist die Skala offenbar bewusst falsch angesetzt. Womit der blinde Fleck, den man sich gestatten muss, um im Silicon Valley...

Erscheint lt. Verlag 25.4.2022
Reihe/Serie MERKUR
MERKUR
MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Debatte • Essay • Essayistik • Essays • Geschichte • Gesellschaft • Kunst • Literatur • Philosophie • Politik
ISBN-10 3-608-11901-9 / 3608119019
ISBN-13 978-3-608-11901-5 / 9783608119015
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